Nr. 1: Durchzug von Flüchtlingstrecks aus Polen und Oberschlesien; die Evakuierung der Stadt Jägerndorf im März 1945; Flucht einer Familie in den Kreis Mährisch Schönberg und ihre Rückkehr nach dem Waffenstillstand.

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Erlebnisbericht (Brief) des Landwirts Dipl.-Ing. Franz Kühn ans Jägerndorf.

Original, 11. Januar 1956, 5 Seiten, handschriftlich (hschr.).

Dem Bericht sind einige persönliche Mitteilungen vorangestellt.

Nach dem andauernden Rückzug der Rußlandfront kam meine Heimatstadt in den letzten Monaten des Krieges ins unmittelbare Frontgebiet. Angekündigt wurde die Auflösung der Verteidigung an der Ostfront durch endlose Züge Evakuierter aus Polen und Galizien. Für uns, die wir zeitlebens seßhaft waren und niemals daran gedacht hatten, Haus und Hof zu verlassen, ein erschütterndes Bild. Nur wenige Stunden, meist über Nacht, wurden diese deutschen Siedler auf die Bauerngehöfte verteilt. Überall herrschte Niedergeschlagenheit und Verbitterung. Die Wägen, vielfach überladen, mußten zum Teil nach den einsetzenden Schneefällen des Winters 1944/45 bei uns zurückgelassen werden. Ein besonders trostloses Bild bot der Rückzug der Polizeitruppe aus den polnischen Gebieten. Ein endloser Zug der bekannten Panjewagen bewegte sich auf der Hauptstraße von Troppau, die über Oderberg—Teschen—Krakau Anschluß an Galizien hat, nach Westen. Nach diesem Vorspiel war wohl auch uns klar, daß auch unser Gebiet bald in das Frontgeschehen eingezogen werden würde. Nach der Jahreswende begann dann die Evakuierung Oberschlesiens; während wir in Jägerndorf von der Bevölkerung wenig sahen, zog sich durch unser Gebiet der Abtransport der Rinderbestände der reichen Provinz Ober- und Niederschlesien. Diese Tiere, die fast ausschließlich an Stallhaltung gewöhnt waren, gingen auf diesem über mehrere 100 Kilometer führenden Fußmarsch, ohne geregelte Fütterung und oft auch ohne Tränke, massenweise zugrunde. Die Zugstraße und das Gelände neben dieser war von einer Unzahl von Kadavern gesäumt. Ob diese Transporte überhaupt ein Ziel hatten und ob sie es noch erreichten, war niemals zu erfahren. Die Werte, die dabei vernichtet wurden, lassen sich nur ahnen.

Ab Anfang März war die Front so nahe, daß der Kanonendonner dauernd zu hören war. Die Parteileitung bereitete die Evakuierung vor. Frauen und Kinder machten den Anfang; für die landwirtschaftliche Bevölkerung Jägerndorf s und der nahegelegenen Dörfer wurde ein besonderer Evakuierungsplan festgelegt. Keiner der Bauern konnte und wollte diese Notwendigkeit glauben und einsehen. Alle Vorstellungen bei der Parteileitung


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blieben unberücksichtigt und [wurden] unter Androhung der üblichen Mittel zum Schweigen gebracht. So blieb nichts übrig, als die notwendigen Vorbereitungen zu treffen. Ich war seit Herbst 1944 zum Volkssturm einberufen worden. Die Gruppe, der ich zugeteilt war, verblieb in Jägerndorf zur Bewachung wehrwirtschaftlich wichtiger Betriebe und war die letzte Zeit des Krieges unmittelbar im Kriegsgeschehen, da während der letzten acht Wochen die Stadt Frontgebiet war. Ich hatte in der ersten Zeit immer die Möglichkeit, im Hof noch nach dem Rechten zu sehen und rüstete für die unvermeidliche Aussiedlung drei Wägen für zwei Pferdegespanne und einen mir verbliebenen Schlepper her. Der Schlepper mit Wagen nahm im wesentlichen meine Familie auf, während die übrigen Fahrzeuge für die bei mir noch tätigen ukrainischen Arbeiter verwendet wurden. Wir hatten alle Lasten überlegt ausgewählt und alles nicht unbedingt Lebenswichtige zurückgelassen. Kleidung, Lebensmittel, Futter für die Pferde und Treibstoffe wurden, soweit dies möglich war, mitgenommen. Vieles versuchten wir in Verstecken sicher zu verbergen oder durch Vergraben für die Zeit nach der Rückkehr sicherzustellen. Wir haben davon fast nichts mehr gefunden. Fast alles war durch Deutsche, die sich der Evakuierung entzogen hatten, gestohlen worden.

Am 23. 3. 45 wurde dann die Evakuierung der landwirtschaftlichen Betriebe angeordnet. In der Nacht um 24 Uhr versammelte sich der Treck in der zu Jägerndorf gehörenden Ortschaft Krotendorf. Die allgemeine Richtung sollte über Benisch auf die andere Seite des Gesenkes nach Mähren gehen.

Nach der Räumung der Höfe erschien am nächsten Tag ein Räumkommando der Armee und trieb alles Vieh ab, lud Getreide und andere sonstige Betriebsmittel auf. Ich selbst blieb nun bis zum Kriegsende beim Volkssturm und wurde mit einer Abteilung in eine Fabrik ca. 2 km vor Jägerndorf verlegt. Dort wickelte sich der übliche Dienst ab: Schützengraben bauen, Straßensperren errichten usw. Kontrollgänge auf eine Jägerndorf vorgelagerte Hügelkette zeigten uns die brennenden Dörfer der Oderebene. Die Stadt wurde wiederholt beschossen, Ruinen waren bald in allen Straßen zu sehen. Am Karfreitag, in der zweiten Aprilhälfte, erfolgte durch russische Flieger ein starker Bombenangriff. Troppau wurde durch Brandbomben fast völlig zerstört, und schließlich gelang den Russen westlich von Ostrau der Durchbruch nach Mähren. Dadurch wurde Jägerndorf unhaltbar, und die Volkssturmabteilung verließ in der Nacht vom 7. zum 8. Mai die Stadt, die unmittelbar darauf von Russen besetzt wurde. Wir kamen nach Freudenthal, und dort lösten sich trotz aller gegenteiliger Befehle alle Gruppen auf. Da ich den Aufenthalt meiner Familie kannte, war es nicht schwer, von Freudenthal über Römerstadt, den Berggeist nach Ullersdorf1 zu kommen, und dort erreichte uns zwei Tage später der russische Vormarsch.

Die Fahrt meiner Familie bis in dieses Gebiet war mit mancher Schwierigkeit verbunden. Meine Frau hatte die Sorge um die damals noch sehr jungen Kinder (10—7 Jahre), um die Pferde, deren Unterbringung und Fütterung nicht leicht war und die doch für die Weiterfahrt sehr wichtig


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waren, sowie um die Ukrainer, deren Haltung bei den herrschenden Verhältnissen unsicher und unberechenbar war. Verständnis und Hilfsbereitschaft fand sie jedoch immer wieder, so daß sie ohne irgendwelche Verluste zunächst Mähr. Schönberg erreichten und bei Deinen Eltern eine verläßliche Hilfe fanden. Die Verlegung nach Ullersdorf kam hauptsächlich wegen der Tiere zustande, die dort besser untergebracht waren.

Das Vorkommando der Russen verteilte in Ullersdorf alle vorgefundenen Bestände an Nahrungsmitteln und Spinnstoffen an die Bevölkerung. Dieser Segen dauerte jedoch nicht lange, denn die folgenden Abteilungen nahmen alles wieder zurück und darüber hinaus alles, was ihnen gerade begehrenswert erschien. Die Behandlung der Frauen durch die Russen war überall gleich. Wir verbrachten, um dem Schlimmsten zu entgehen, mehrere Tage in den Wäldern um Ullersdorf. Meine Schwiegereltern, die beim gleichen Treck waren, veranlaßten uns dann, Ullersdorf zu verlassen, da wir an der Hauptstraße durch die plündernden Russen alle unsere Habseligkeiten verloren hätten. Wir waren zwar im Lichtenstein'schen Gutshof untergebracht, der Fürst hatte die Staatsangehörigkeit der Schweiz, eine Flagge gehißt und einen Schutzbrief angeschlagen, jedoch ohne jeden Erfolg. Unsere Ukrainer waren mit den letzten Pferden nach Osten aufgebrochen. Wenn der Schlepper und das letzte Paar Pferde nicht verlorengehen sollte, mußten wir zurück und versuchen, in einem abgelegenen Dorf Unterschlupf zu finden; so kamen wir nach Marschendorf1 und blieben dort ca. 3 Wochen. Die verschiedensten Gerüchte gingen um, eines besagte, daß alle ihre Besitzungen verlieren sollten, die nicht bis zu einem bestimmten Tag in ihren Heimatgemeinden eintreffen würden. So formierte sich der Treck neuerdings. Der Rückzug wurde jedoch über wenig befahrene Nebenstraßen angetreten, und zwar wählten wir die Strecke Rotherberg, Gabel, Würbental, Kronsdorf. Dort wurde nochmals eine Rast für einige Tage eingelegt und die Verbindung zu dem nicht zu fernen Jägerndorf aufgenommen. Dort war inzwischen eine deutsche kommunistische Stadtverwaltung eingerichtet worden, Bürgermeister war ein Kutscher meiner Mutter, dadurch wurde mir eine verhältnismäßig einfache Rückkehr in die Stadt möglich. Feindschaften, insbesondere zu den Fremdarbeitern, rächten sich schwer und endeten meist mit dem Abtransport nach Rußland. Die kommunistische Stadtverwaltung gab an die Bevölkerung an einigen Stellen mittags eine elende Suppe aus, ebenso in ganz wenigen Bäckereien eine geringe Brotration. Wir fanden unseren Hof völlig ausgeplündert und leer. Von allen Vorräten waren nur noch einige halbgeleerte Kartoffelmieten da und einige Reste der auf den Treck mitgenommenen Nahrungsmittel. Wir versuchten, den Hof wieder in Gang zu bringen.

Es folgt ein kurzer Überblick über die Erlebnisse bis zur Ausweisung im April 1946.


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