Nr. 5: Flucht der Bevölkerung von Neusiedl ins niederösterreichische Waldviertel im April 1945 und Rückkehr des Trecks nach der Beendigung der Kampfhandlungen.

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Erlebnisbericht des Hanptschuldirektors Matthias Krebs ans N e u s i e d l, Kreis Nikolsburg.

Original, Mai 1955, 4 Seiten, mschr. Der Bericht stützt sich auf Tagebuchnotizen.

Von einer direkten Kriegseinwirkung war Südmähren bis in die allerletzte Zeit so gut wie verschont geblieben. Im August 1944 wurde in Neusiedl ein Feldarbeiter durch einen Tiefflieger, der es auf einen Tankwagen abgesehen hatte, getroffen und zur selben Zeit ein Guttenfelder Kuhbauer durch direkten Beschüß. So recht wurde den Südmährern der Krieg am Ostersonntag 1945 durch schwere Rauchwolken zweier Tankwagen, die auf dem Possitzer Bahnhof in Brand geschossen wurden, vor Augen geführt, da sie weithin sichtbar waren. Einige Tage vorher wurde auch schon der Schulbetrieb lahmgelegt. Ferner Kanonendonner wurde immer vernehmlicher. Den zurückgehenden Truppen und Anstalten mußten Räume zur Verfügung gestellt werden. Weiters ließen die Kommandeure verlautbaren, daß mit dem Einsatz ganz neuer Waffen zu rechnen sei, deren Wirkung man nicht kenne, darum ist das Gebiet rechts der Thaya — die Ortschaften im Thayabogen — vorübergehend zu räumen. In spätestens 14 Tagen sei alles vorbei, dann könnten die Wohnungen wieder bezogen werden. Unterdessen durchwanderten Trecks, aus Saitz, Prittlach, Eisgrub, Voitelsbrunn, Nikolsburg kommend, die Ortschaft. Es war also kein leerer Wahn. Für Neusiedl lautete der letzte Befehl für Dienstag (17. April) drei Uhr nachmittags. So bewegte sich nun um 17 Uhr ein Zug von 48 Wagen, die zumeist mit Flachen überspannt waren, ins Ungewisse. Man vermied geflissentlich die Straßen und benützte den Wiesenweg östlich des Bahnhofes gegen Altprerau zu. Um Nachzüglern Gelegenheit zum Anschluß zu geben, wurde auf den Prerauer Wiesen haltgemacht und dort auch im


17

Freien genächtigt. Es war empfindlich kalt, darum wurde früh aufgebrochen, die Thaya über die Trabiger Brücke übersetzt und in der Folge der Feldweg am Jaispitzbach nach Grusbach und der Hojaweg nach Possitz genommen. Auch hier sollten sich noch zahlreiche Verspätete anschließen. Das Tempo unserer Wanderung war im allgemeinen recht gemütlich, da die Wagen größtenteils überbelastet waren und sich in unserem Gefolge ein gutes Drittel Kuhgespanne befanden. Mangels geeigneter Kutscher wurde mir die Lenkung eines Wagens, den mir die Nichte anvertraute, übertragen. Ich verstand mich mit meinem Fuchsen, der zwar mit den Ohren spielte, wenn ich in seine Nähe kam, in der Folge recht gut, namentlich wenn er sich vor einem recht großen Heuhaufen sah.

In der vierten unserer auswärtigen Nächte, es war am 20. April in Kirschfeld, waren wir unfreiwillig Zeugen eines schaurigschönen Erlebnisses. Feindliche Flieger hatten sich am Ende des Krieges über Znaim gemacht. Was wollten sie damit erreichen, wenn sie die friedliche Stadt in Schutt und Asche legten? Helle Flammen loderten zum Himmel. Mit unserem Schlaf war es vorbei, aber auch unsere Wanderfahrt erhielt eine unliebsame Ablenkung, da Znaim und die Thayaübergänge unpassierbar geworden waren. Es war kein erhebendes Gefühl, das offene, freie Gelände über Traubenfeld, Kallendorf, Gnadlersdorf im Schneckentempo dahinziehen zu müssen. Lediglich das Bewußtsein, so auf dem kürzesten Weg ins niederösterreichische Waldviertel zu kommen, beruhigte einigermaßen. Und so erreichten wir sehr bald westlich Gnadlersdorf den Bereich des schützenden Waldes. Es dauerte auch gar nicht lange, und wir gelangten an unser Tagesziel: Niednerfladnitz und Pleißing. Die Ortschaften in diesem abgelegenen Räume sind recht klein, darum verteilte sich unser Zug auf mehrere Gemeinden in der Nähe, zumal einzelne Bauernhöfe bereits von Flüchtlingen unserer Gemeinden belegt waren. Schon nach einer Nacht zogen wir wieder weiter. In Geras stießen Hunderte der Auswandererfuhrwerke zusammen. Es gab ein fürchterliches Durcheinander. Keiner wußte, wohin es gehen sollte. Dabei war es kalt und regnerisch, kaum daß man imstande war, das trockene Brot, das man dem Zöger1 entnahm, zu halten. Niederthumeritz2 und Pingendorf nahmen uns fürderhin einige Tage auf. Die Unterkünfte waren sehr beengt, es war einfach kein Platz für so viele fremde Leute. Ein Teil zog darum nach Groß Siegharts. Man muß auch bekennen, daß wir hier, wo sich die Füchse Gute Nacht sagen, von der Welt beinahe abgeschnitten waren. Von den großen Vorgängen, von den weltbewegenden Ereignissen erfuhren wir so gut wie nichts. Die Ortsbevölkerung verstand den Ernst der Lage durchaus nicht und hatte darum auch gar kein Verständnis für unsere Sorgen. Sie war ärmlich, bescheiden und verfügte kaum über einen ordentlichen Rundfunkapparat. Man hörte von Hitlers Tod und von einem Waffenstillstand. Als ich eines morgens die Ortschaft betrat, hatten die meisten Häuser weiße Fahnen, viele auch kommunistische, ausgesteckt. Thumeritz liegt weit weg von der Hauptverkehrsader. Wir wurden darum des ersten russischen Soldaten


18

erst am 10. Mai ansichtig. Es war ein Hauptmann in einem deutschen Auto, der kein Wort Deutsch verstand. Als er einen Augenblick anhielt, warf sich ein Thumeritzer zu seinen Füßen und sprach ihm den Dank für die humane Befreiung aus. Mir war es genug; in der Nacht entführte uns eine russische Streife unsere guten Pferde.

Es ist begreiflich, daß uns die Dorfbevölkerung gern wieder vom Halse gehabt hätte und uns daher hinausdrängte. Wir überlegten auch keinen Augenblick. Wie aber war das zu machen bei dem verringerten Trosse, der uns nurmehr zur Verfügung stand? Es mußte ein Teil unserer Habe zurückgelassen werden. Bald aber zeigte es sich, daß auch dieser als verloren anzusehen war. Zwar gab man vor, die übergebenen Dinge wären abhanden gekommen, doch wer konnte das überprüfen?

An Zugkraft wesentlich geschwächt, traten wir nun über Pleißing, Unter-Höflein1 durch das Tal der Pulkau und entlang der tschechischen Grenze der wir einstweilen auszuweichen suchten, die Heimreise an. Gerade ganz klug war dieser Reiseplan auch nicht, wie es sich später herausstellen sollte.

Der Vf. macht hier einige Bemerkungen darüber, daß sich nach dem Einmarsch der Roten Armee die bisherige Hortung von Wein im niederösterreichischen Weinbaugebiet für die Bevölkerung schädlich auswirkte und fährt dann fort:

Schon in Haugsdorf machten wir die Bekanntschaft mit den russischen Horden. Fürderhin mußten wir, wo es ihnen beliebte, so ausgiebig in Markersdorf2, Hadres, Kadolz3 anhalten; verdächtige Gestalten bestiegen die Wägen und nahmen sich, was ihnen gefiel: Wäsche, Kleider, Schuhe, Koffer, namentlich aber Fahrräder und Uhren, trotzdem mancher schon ein Dutzend an seinen Armen trug. Unterdessen war es stockdunkel geworden, aus den Häusern war deutlich Jammergeschrei wahrnehmbar. An eine Rast in den Weindörfern war nicht zu denken. Darum blieben wir außerhalb Zwingendorfs in einem Gehölz. Die Frauen verkrochen sich unter Holundergebüsch, und wir Männer versuchten, um Wasser für unser Zugvieh vorzudringen. Vergebens! Die Häuser blieben trotz Bittens und Betteins verschlossen, soviel Angst muß es damals gegeben haben. Bei Tagesgrauen verließen wir unseren ungemütlichen Campingplatz und lenkten unsere Schritte über Wulzeshofen nach Laa, durch das wir ganz einfach mußten. Wer beschreibt die Vorgänge auf dessen immerhin geräumigem Stadtplatz! Es war ein Hin und Her, ein Hinüber und Herüber, jeder stand jedem im Wege. Russische Fuhrwerke, russisches Militär, Zivilfuhrwerke, dazwischendurch Hunderte Flüchtlinge. Die günstigste Gelegenheit für Diebe! Namentlich mein Fuchs schien den russischen Soldaten zu gefallen, wenigstens fiel er durch seine Größe und Stattlichkeit auf. Schon machte sich einer vorne an der Brustkette und beim Stangenriemen zu tun. Ich gab die Zügel nicht aus der Hand, ließ sie aber etwas locker. Mein Fuchs spielte mit den Ohren. Mir war das bekannt, da gibt es heute noch ein Abenteuer. Und richtig, als ihn der Soldat auch auszusträngen suchte, folgte das Verhängnis. Mit


19

beiden Beinen zu gleicher Zeit keilte er aus, und unter dem Wagen lag ein Häuferl Unglück, dem fürderhin jede Manipulation beim Wagen verging. Ein anderer vollendete aber dann doch das begonnene Werk, und ich stand ohne Roß da. Ein russischer Unteroffizier befahl wegzufahren; ich zeigte: womit? Da brachte mir einer eine schwarze Stute, die ich mir schließlich vorspannte. Das Anziehen machte ihr aber Schwierigkeiten, da sie ein geschwollenes Euter hatte. So entgingen wir auch dem Hexenkessel in Laa. Den kürzeren Weg über die Höfe konnten wir nicht nehmen, da die Brücken größtenteils zerstört waren. Wir mußten die bergige und harte Straße über Neudorf, Kirchstätten, Wildendürnbach wählen und kamen so an die tschechische Grenze. Vorderhand blieben wir unbehelligt; Neu Prerau war ziemlich mitgenommen, erst in Neusiedl selbst — in der Heimat also, die wir genau nach einem Monat wiedersahen — begann ein neuer Leidensweg. Unser stolzer Treck war unterdessen auf ein ganz jämmerliches Häufchen zusammengesunken. Die Kuhbauern blieben ohne Ausnahme zurück. Sie haben auch nichts versäumt, als sie erst nach Tagen zu Hause eintrafen. Denn in der eigenen Wohnung war so gut wie nichts mehr zu suchen, so auch im ausgeplünderten Keller. Nur einer hochnotpeinlichen Untersuchung, die sich ganz üble Gestalten unter dem Schütze waffenstarrender Partisanen anmaßten zu führen, wurde jeder Heimkehrer unterzogen. Ihr Hauptinteresse galt der Frage, warum und vor wem wir flüchteten.