Nr. 6: Die Evakuierung der deutschen Bevölkerung von Olmütz Mitte April 1945 nach Deutsch Brod; weitere Flucht des Vfs. mit den zurückweichenden deutschen Truppen und seine Erlebnisse unter Russen und Tschechen bis zur Rückkehr in den Heimatort.

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Erlebnisbericht des Dipl.-Volkswirts Fritz Peter Habel aus Olmütz.

Original, ohne Datum, 2 Seiten, mschr.

Am 18. und 19. April 1945 wurden die in der Stadt Olmütz lebenden deutschen Frauen und Kinder von den Organisationsebenen der NSV aufgefordert, sich zur Evakuierung zu melden. Die Evakuierung sollte nur vorübergehend sein, bis die Kriegslage durch den stündlich erwarteten Einsatz neuer Wunderwaffen eine entscheidende Wendung nehmen würde. Der zu evakuierende Personenkreis sollte nur Handgepäck mitführen. Die noch in Olmütz befindlichen Männer wurden für den Volkssturm zurückbehalten.

Die Evakuierung wurde mit städtischen Omnibussen am 24., 25. und 26. April durchgeführt. Die Fahrt ging über Littau, Müglitz, Zwittau und Politschka nach Deutsch Brod (jetzt Havlickův Brod). Dort wurden die


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Evakuierten in einem großen Gebäudekomplex im Westen der durchweg tschechischen Stadt untergebracht. Einige der Gebäude waren mit einem Wehrmachtlazarett belegt; andere Gebäude dienten als Magazine. Die Verpflegung der Evakuierten war sehr gut, da die Magazine aufgelöst wurden. Auch Gebrauchsgüter (u. a. Wehrmachtsbergschuhe) wurden verteilt. Die Unterkunft war räumlich recht beengt.

Die Evakuierten verlebten zunächst einige ruhige Tage, in denen sich die allgemeine politische und militärische Lage nur insoweit bemerkbar machte, als deutschsprachige Zeitungen von einem Tag zum anderen nicht mehr zu erhalten waren. Am 5. Mai 1945 wurden die Auswirkungen des Prager Aufstandes in Deutsch Brod bemerkbar. Am Vormittag wurde in der Stadt geschossen, Rauchsäulen stiegen auf, rote Flaggen und Trikoloren waren selbst aus einiger Entfernung sichtbar. Im Laufe des Tages wurden Kampfzentren in der Stadt von deutschen Flugzeugen mit Bordwaffen beschossen und schließlich die ganze Stadt, durch die wichtige Verbindungslinien der Deutschen Wehrmacht führten, von SS-Truppen besetzt. Sie sollen per LKW aus Iglau gekommen und Teile der SS-Standarte „Das Reich”1 gewesen sein.

Am späten Nachmittag hörte das Schießen in der Stadt auf. Bei einem Gang durch die Stadt sah ich, daß alle doppelsprachigen und deutschen Inschriften herabgerissen waren. Mehrere Häuser brannten noch. Aus dem wiedereroberten Rathaus wurden in Decken gehüllte Leichen herausgetragen. Es soll sich um reichsdeutsche und deutschfreundliche tschechische Beamte gehandelt haben. Beim Herabfallen einer Decke sah ich, daß der Kopf der Leiche völlig zertrümmert war. Auch die Leichen von drei deutschen Nachrichtenhelferinnen waren gefunden worden. Als Jugendlicher wurde ich von den SS-Leuten aufgefordert, mich zu entfernen.

In der ganzen Stadt hingen zweisprachige Plakate, die von einem SS-Dienstgrad unterzeichnet waren. Auf ihnen war zu lesen, daß der amtierende Reichsprotektor für Böhmen und Mähren, Karl Hermann Frank, die Bildung einer tschechischen Nationalregierung gestattet habe2. Aus diesem Anlaß sei das Hissen der tschechischen Nationalflagge gestattet. Häuser mit roter Flagge würden niedergebrannt. Auf Waffenbesitz stünde Todesstrafe.

Da nach umlaufenden Gerüchten der Olmützer Volkssturm, dem mein Vater angehörte, nach Pilsen verladen worden war, beschloß meine Mutter, daß wir versuchen sollten, dorthin zu kommen. Die Gesamtgruppe der Olmützer Evakuierten blieb jedoch ohne offizielle Anweisung, was sie tun solle. Die deutschen Soldaten, die für den kommenden Tag, den 6. Mai, Befehl zum Rückzug auf die allgemeine Linie Moldau erhalten hatten, bemühten sich sehr, selbst unter Zurücklassung eigenen Gepäcks, Platz für soviel Zivilisten, wie nur möglich, auf ihren Fahrzeugen zu schaffen.

Unsere Fahrt begann am 6. Mai gegen 5 Uhr morgens in einem noch intakten Divisionsfunkwagen, der in einer aus verschiedenen Waffengattungen bunt zusammengewürfelten Kolonne fuhr. Die Kolonne wurde aus


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Wäldern und vor allem in Ortschaften wieder und wieder beschossen und mußte oft halten. Ein Dorf vor Pilgrams mußte in Straßenkämpfen gegen heftigen Widerstand erobert werden. Bei der Durchfahrt sahen wir vor den Ruinen ein Schild in deutscher Sprache, offensichtlich von deutschen Soldaten aufgestellt: „Hier wurde auf deutsche Soldaten geschossen.”

Pilgrams selbst, Patzau und Tabor durchführen wir ohne Aufenthalt. Der Funkwagen, in dem wir uns befanden, versuchte ständig, Verbindung mit Generalfeldmarschall Schörner aufzunehmen, bekam jedoch keine Antwort. Dafür meldete sich, während wir durch Tabor fuhren, der Chef der 3. US-Armee, ein General Harmon1. Ihm wurde, nach hastiger Beratung einiger schnell zusammengerufener Offiziere, die Übergabe unserer Kolonne angeboten. Die Amerikaner nahmen die Übergabe nicht an, sondern wiesen uns an, in einem Abschnitt 50 km östlich der Moldau zu lagern, in den, als eine sogenannte neutrale Zone, die Sowjets nicht einmarschieren dürften. Mangels einer anderen folgten wir dieser Anweisung und lagerten gegen Abend am Straßenrand in einer Waldlichtung bei Bernarditz. Nach Mitteilung durchfahrender Kradfahrer sollte unsere Kolonne ca. 35 km lang sein und mit der Spitze an der Moldau festliegen.

Die Übergabeverhandlungen zogen sich lange hin, was seinen Niederschlag in einer Welle unkontrollierbarer Gerüchte fand. Am 8. Mai gegen Mittag stießen dann unter Mißachtung der neutralen Zone, die allerdings vielleicht nur ein frommer Vorwand der Amerikaner war, die Sowjets an unserer Kolonne vorbei. Widerstand wurde nicht geleistet, da alles blitzschnell ging und die Sowjets von Westen, d. h. von der Moldau her kamen. Sie mußten unsere Kolonne umgangen haben.

Die Sowjets brachten uns zunächst in einen Wald, um den sie Panzer und Jeeps mit aufmontierten MG postierten. In diesem Walde lagen schätzungsweise 15 000 Soldaten und Zivilisten bei sengender Hitze ohne jede Verpflegung und sanitäre Einrichtung fast eine Woche. Die Verhältnisse wurden bald unbeschreiblich; Seuchengefahr drohte. Gerechterweise kann man die Sowjets dafür nicht verantwortlich machen. Die sowjetische Truppe benahm sich gut; sie baten um Uhren und gaben dafür Lebensmittel; Frauen und Kinder wurden nicht belästigt. Dafür sickerten während der Nächte tschechische Partisanen ein, stahlen und vergriffen sich an Mädchen.

Die Autofahrer unter den Gefangenen wurden aufgefordert, sich zu melden. Sie brachten ca. 30 LKW wieder in Ordnung — stellenweise waren sie von der tschechischen Bevölkerung der umliegenden Orte demontiert worden — und zapften das nötige Benzin aus anderen Wagen ab. Am Morgen des 14. Mai wurden die Insassen des improvisierten Lagers geschieden: Alle Männer über 14 Jahre, ob Soldaten oder Zivilisten, mußten den Marsch in die Gefangenschaft antreten. Frauen und Kinder, darunter auch ich, sollten mit den Autos in die nächste Stadt gefahren werden.

Am Abend des 14. Mai fand die Verladung der ersten Tranche statt. Unser Weg führte am 15. Mai mit dem LKW zunächst auf der Straße nach


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Tabor zurück. Mit Schubkarren, Leiterwagen u. ä. schleppten die Tschechen aus der kilometerlangen Wagenkolonne, an der wir vorbeifuhren, alles heraus, was nicht niet- und nagelfest war. Wurden wir als Deutsche erkannt, dann flogen Steine, Knüppel und ähnliches auf die LKW. Trotz der hohen Fahrtgeschwindigkeit wurde in dem vor uns fahrenden LKW ein kleines Mädchen am Kopf getroffen und starb nach einigen Stunden.

Von Tabor ging es nach kurzem Aufenthalt über Mesimost (Mezimostí) nach Neuhaus (Jindřichův Hradec) weiter. Dort wurden wir in ein festes Lager, eine Schule, eingewiesen. Man teilte uns durch einen Vertreter des Národní Výbor mit, daß alle Flüchtlinge in ihre Heimatorte zurückzukehren haben. Eine Weiterreise nach Österreich oder Deutschland war nur für durch Unterlagen ausgewiesene Österreicher oder Reichsdeutsche möglich. Wir erhielten Reiseerlaubnis zu Verwandten nach Iglau, auf die wir uns normale Fahrkarten kaufen konnten. Wir benutzten einen der selten verkehrenden normalen Personenzüge. Er war vollbesetzt, und wir benutzten aus Vorsichtsgründen die tschechische Sprache.

Iglau mußte nach wenigen Tagen von Deutschen geräumt werden1. Wir fuhren mit einem Güterzug über Kolin und Böhm. Trübau in drei Tagen bis Olmütz. In Kolin wurden einige Wagen abgehängt, die Flüchtlinge mußten aussteigen und wurden irgendwohin weggeführt. In Olmütz trafen wir am 28. Mai mittags ein. Wir bezogen die Wohnung des Hausmeisters, der bereits die unsrige übernommen hatte. Mein Vater befand sich bereits im Lager Neu Hodolein, in das ich am 1. Juni gleichfalls meinen Einzug hielt, da die Altersgrenze auf 10 Jahre herabgesetzt wurde2.


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