Nr. 18: Erlebnisse des Vfs. im Nordsudetenland in den Tagen der deutschen Kapitulation und nach dem Einmarsch der Roten Armee; seine Flucht nach Sachsen und die Rückkehr ins Sudetenland.

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Erlebnisbericht des schweizerischen Staatsangehörigen Rudolf Grünig.

Original, 10. September 1955, 8 Seiten mschr. Der Bericht stützt sich auf Tagebuchnotizen.

Unter dem näherrollenden Grollen der Schlacht im deutschen Schlesien verließ ich mit einem der allerletzten westwärts fahrenden Züge meinen langjährigen Wirkungsplatz Reichenau/Sa. und gelangte am Abend in die zuständige Kreisstadt Zittau. Was ich mitnehmen konnte, habe ich als Reisegepäck in Zittau nach Komotau bzw. Klein Priesen aufgegeben. Mit bangen Gefühlen fuhr ich nachts bei Grottau über die sächsisch-sudetendeutsche Grenze nach Reichenberg. In der gleichen Nacht brachte ich mit dem Zug die Strecke Reichenberg—Teplitz hinter mich. Er brachte mich an Niemes, Böhm. Leipa vorbei nach Tetschen-Bodenbach. Namen, die mir nicht fremd klangen, die mich vielmehr an Tage und Stunden glücklicher Erlebnisse erinnern. Der nächtlichen Fliegertätigkeit wegen kam der Zug nur sehr langsam vorwärts, doch passierten wir Aussig und Teplitz anstandslos. In Dux gab es langen Aufenthalt vor und nach dem Bahnhof, und die Brüxer Gegend wurde bereits am Morgen nur im Schrittempo befahren. Um ca. 6 Uhr morgens endete diese Fahrt mit einem Tieffliegerangriff wenige Kilometer vor Komotau. Menschenleben waren glücklicherweise keine zu beklagen, aber die Lokomotive und Schienen waren arg zugerichtet — ich strandete mit Bauchlandung wie viele andere in einem nahen Gebüsch.

Meine Gedanken kreisen immer um Zuscha und meine Braut, von der ich schon wochenlang nichts mehr gehört habe. Zu Fuß erreiche ich nach etwa


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2 Stunden das kleine, reindeutsche Dorf Zuscha, welches gut 12 km östlich Komotau im Dreieck Komotau—Potscherad—Saaz liegt. Zu meiner großen Beruhigung finde ich alle Angehörigen meiner Braut und diese selbst bei guter Gesundheit. Es ist Mitte April 1945, man weiß, daß der Krieg für Deutschland verloren ist, und nur unverbesserliche Optimisten können noch an ein Wunder glauben. Aber man hat die Hoffnung, es mögen westliche Armeen bis hierher vordringen. Den Rhein haben sie ja längst überschritten und stehen in zügigem Vormarsch direkt auf Böhmen zu. Ob die westlichen Alliierten wissen, welch wichtige Rolle Böhmen schon immer gespielt hat und welche Bedeutung ihm in jenen Tagen wieder für Europa hätte zukommen können?

Ende April schlage ich vor, unsere bewegliche Habe auf zwei Fuhrwerke zu verladen, um damit dem Westen zuzusteuern — in unserem Fall in meine Heimat, die Schweiz. Vier Pferde standen damals noch im Stall. Davon will aber Vater Linhart nichts wissen, und andere Bauern lachen mich aus. Da käme doch höchstens pro Dorf etwa ein Kommissar in Betracht — im übrigen würde man mit den Tschechen schon fertig. Nun, ich mußte mich natürlich fügen, umsomehr als ich annehmen durfte, daß diese Grenzlandbewohner besser Bescheid wüßten als ich als Ausländer.

Am Tage der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands fuhr eine motorisierte Verpflegungskompanie in unser Dorf. Es waren die letzten deutschen Soldaten, die ich im Verbände gesehen habe. Sie verbrannten auf unserem Hofplatze einen ganzen Haufen militärische Dokumente, verteilten verschiedene Bäckerei- und Fleischereimaschinen und Geräte unter die Bevölkerung, ließen außerdem auf unserem Hofe eine komplette Einrichtung zur Herstellung von elektrischer Energie stehen und fuhren davon. Wie sie sagten, wollten sie sich dem vorrückenden Ami in der Nähe von Saaz ergeben. Gegen Abend kamen sie in größter Verwirrung und höchster Eile wieder. Sie seien knapp dem Russen entronnen. Die Russen in Saaz! Das war die erste erschreckende Nachricht von seinem baldigen Kommen. Die deutschen Soldaten fuhren sogleich weiter in Richtung Komotau. Vielleicht haben sie doch noch irgendwo den Ami gefunden.

Der Junge unserer Schaffersleute war am Nachmittag in Komotau. Er kam in einer Aufregung heim und brachte die Nachricht, der Amerikaner sei 10 km westwärts Komotau von Karlsbad herkommend gesehen worden. Die Flüchtlingskolonnen hätten aber den gesamten Verkehr zum Stocken gebracht. — Das Sudetenland war ja Sammelbecken für all die Millionen Flüchtlinge aus Schlesien geworden, und selbst Ostpreußen haben eine Zeitlang bei uns Quartier bezogen gehabt. — Unsere Hoffnung stieg gewaltig an, vielleicht kommt doch der Ami bis zu uns. Was wäre das für ein Glück!

Indessen hörte man zunehmenden Gefechtslärm, Kanonendonner, das unzweideutige Bellen russischer Maschinengewehre aus der Brüxer Gegend. Es war zur Gewißheit geworden, daß sich hier in unserer Gegend, falls die Gerüchte um den Ami zutrafen, die beiden Kriegsmächte treffen mußten.

Der Krieg war offiziell vorbei, aber immer noch donnerten die Kanonen, schwiegen die MG nicht und mußten in letzter Stunde hüben und drüben Menschen sterben. Nachts um 9 Uhr hörten wir auf einmal das tiefe Brum-


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men schwerer Motoren und das Mahlen stählerner Ketten auf harter Straße. Verwandte meiner Braut tauchten plötzlich aus Holtschitz bei uns auf. Sie dachten bei mir als schweizerischem Staatsangehörigen besseren Schutz zu finden. Zudem befanden sich in ihrem Dorfe zahlreiche Tschechen, teils ansässig, teils als zugezogene und hergeschickte Arbeitskräfte. Es kam dort schon tags zuvor zu Ausschreitungen gegen die deutsche Einwohnerschaft. Sie brachten auch die Nachricht, daß der Russe im Anmarsch sei.

Auf einmal rannten Leute im Dorf herum — von unten nach oben, von oben wieder nach unten. So ähnlich mögen die Römer gerufen haben, als Hannibal plötzlich vor den Toren Roms stand. „Die Russen kommen, die Russen kommen!” Ihr Ruf erstarb ihnen plötzlich auf den Lippen, denn nun waren sie wirklich da.

Auf schweren Stalinpanzern hingen erdbraune Gestalten, 20—30 an der Zahl auf jedem Panzer. Die Panzer fuhren im Viereck auf, die mitfahrenden Infanteristen schwärmten sofort nach allen Richtungen aus.

(Hier finde ich wieder ein Blatt meiner damaligen Tagebuchauf Zeichnungen, ich fahre deshalb getreu diesen Aufzeichnungen fort):

Die Panzer mit aufgesessener Infanterie fahren, da sie keinen Widerstand zu fürchten haben, sofort weiter — sie sind harmlos und verschwinden, wie sie gekommen sind. Meine Uhr zeigt 22 Uhr. Eine Stunde später trifft ein neuer Verband ein. Diese beginnen gleich mit Durchsuchen der Häuser nach Uhren, Ringen und sonstigen leichtbeweglichen Wertgegenständen. Sie nehmen mit, was sie in ihrer Eile finden, drohen mit vorgehaltener Pistole mit Erschießen, falls innerhalb 5 Minuten nicht sämtliche Uhren abgeliefert sind. Ich sehe Russen, die bereits an beiden Armen einige Armbanduhren umgebunden haben. Fast müßte ich lachen, wenn die Situation nicht gar so gefährlich aussehen würde. Bereits taucht unser Polenarbeiter mit zwei gemeingefährlich aussehenden, uns fremden Ostarbeitern auf. Er geht mit ihnen hemmungslos im ganzen Haus herum — plündern. Als er mit zwei meiner Mäntel, samt Lederhandschuhen und Hut hinauswill, stelle ich ihn zur Rede. Er grinst mich nur spöttisch an und haut ab. Meine Zeiss-Ikon (Super-Ikonta) haben vermutlich auch diese drei gefunden. Sie ist am Morgen weg. Vater hat zwei Uhren, unsere auf dem Hofe mitarbeitende Tante (an Stelle der längst verstorbenen Mutter meiner Frau) die ihre eingebüßt. Wir begeben uns im Anschluß an diese erste Plünderung in den Kartoffelkeller, doch bleiben wir dort nicht gar lange, da uns dieser Zufluchtsort zu unheimlich vorkommt. Von dort schleichen wir uns (meine Braut und ich sowie drei Leute aus Holtschitz) in den Garten, wo wir uns in den Sträuchern verbergen. Zwei Uhr früh (9.5.45) flüchten wir uns aufs freie Feld hinaus und verbergen uns hinter einem hohen Strohschober. Fast trete ich auf einen hier liegenden, kranken, alten Russen in graubrauner Uniform. Er stöhnt, ist krank, weigert sich aber aufzustehen und die 100 Schritt bis zur Straße zu gehen, wo die russischen Kolonnen unaufhörlich vorbeiziehen. Sie nehmen keine Kranken mit, sagt er meiner Frau, die soviel Tschechisch kann, daß sie sich mit dem Russen verständigen kann. Tatsächlich haben wir auch in den nächsten zwei Tagen nie ein Vehikel gesehen, das wir als irgendwie Ambulanzfahrzeug hätten taxieren können.


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Beim Tagwerden „kehren” wir heim, wo inzwischen einige Russen ihre erste Visitenkarte hinterlassen haben. Es sieht in der ganzen Wohnung wie in einem Saustall aus. Unser alter Vater, der sich abends wie immer zu Bett begeben hatte, wurde in dieser Nacht unsanft aus dem Bett geworfen, zwei Russen schliefen dann in Uniform und Stiefeln drin. Unter dem Bett liegen nun große Haufen Brot, den Backofen, wo grad an diesem Morgen für die kommenden 14 Tage Brot gebacken wurde, verwechselten die Russkys scheints mit dem Abort. Russky kultura, da kann man halt nix machen! Oben auf dem Boden findet einer dürre Zwetschgen. Er füllt ein Nachtgeschirr damit und reicht die Früchte seinen Kameraden herum. Dafür tritt einer aus dem Haus, eine schöne, porzellanene Suppenterrine in der Hand. Er leert den Inhalt (das Ergebnis seiner Notdurft) auf den Misthaufen.

Irene, eine gut Deutsch sprechende Ukrainerin, die seit 1940 bei uns arbeitet, weint. Nach dem Grund ihrer Traurigkeit befragt, sagt sie, daß sie uns bald verlassen müsse, sie müßten alle wieder heim. Die andere Ukrainerin, weit weniger intelligent, läßt alles in stoischem Gleichmut über sich ergehen. Die kleine Russin aber, die immer faul und frech gewesen war, tritt auf als halbwegs Besitzerin unseres Hofes. Sie getraut sich jedoch nicht recht, weil sie von jener Irene immer wieder zurechtgewiesen wird. Den Dank für menschenwürdige Behandlung können wir nun in diesen ersten Tagen furchtbarer Erniedrigung einheimsen. Irene beschützt uns, wo immer sie kann. Der alte Russe aber, der ebenfalls bei uns in Arbeit stand, ist spurlos verschwunden. Er hat nichts mitgenommen, nur was er gebracht hatte — und das war armselig genug. Ein Hohelied diesem Manne! Er hatte als Kind noch die verlöschenden Tage des Zarenreiches erlebt und zankte sich ständig mit der kleinen Russin herum. Sie vertrugen sich aus weltanschaulichen Gründen nicht. Nun mußte er die Rache dieser kleinen Hexe fürchten. Darum ist er zu guter Stunde heimlich weggegangen.

Das Dorf ist vorübergehender Ruheplatz für von drei Seiten durchziehende Truppen der Roten Armee. Sie kommen von Komotau her, andere von Dresden her über Brüx und die dritten aus der Richtung Kaaden— Postelberg. Alle ziehen sie hier weiter allgemeine Richtung Prag, wo sich ein gewisser Schörner noch nicht ergeben wolle1. Mit seiner ehemals friedlichen Ruhe ist es aus im Dorfe Zuscha. Die „einheimischen” Ostarbeiter — allen voran die Polen — organisieren zügelloseste Plünderung und hetzen die an und für sich friedfertigen Russkys gegen die deutschen Einwohner auf. So nach und nach wird alles umgewühlt, fortgetragen, verschleppt oder sinnlos zerstört, was den „Plünderungskommandos” in die Hände kommt.

Während meine Braut sich mit den meisten ändern Mädels des Dorfes in einem Nachbarhofe versteckt hält, haben wir daheim keine ruhige Minute mehr. Ich bange um die Sicherheit meiner Braut. Das Nachbarhaus, Krämerladen und Wirtshaus des Dorfes, wird seit dem Morgen früh systematisch ausgeplündert. Das einst wohlhabende Ehepaar Karras ist bettelarm geworden. Treppauf, treppab geht's bei ihnen. Rotarmisten und Ostarbeiter


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tragen armvoll Wäsche, Kleider, selbst Möbelstücke, sackweise Lebensmittel fort.

Am Beispiel der vorerwähnten Verpflegungskompanie habe ich den Zusammenbruch der einst ruhmreichen deutschen Wehrmacht erlebt, nun mußte ich auch noch zusehen, wie wildgewordene Horden einer Siegermacht hemmungslos plünderten und wüsteten. Ist das noch zum Aushalten? Ach, waren wir damals noch ahnungslos, was unser aller noch warten sollte!

Nachmittags (9. 5.) hole ich meine Braut aus ihrem ziemlich fragwürdigen Versteck ab und begebe mich mit ihr ca. 2 km vom Hofe weg ins freie Feld hinaus. Die Russen haben Schnapszuteilung bekommen und wollen um 16 Uhr den Sieg feiern. Wir aber wollen uns vorsehen, weshalb wir uns weit draußen in den hohen Klee legen.

Es ist das Schlimmste zu befürchten. Am Nachmittag, während wir draußen um unser aller Schicksal bangen, auf der Straße seit 8. 5. nachts fast ununterbrochen Kolonne um Kolonne in raschem Tempo durchzieht, wird zu Hause unter Anführung der Polen geplündert. Ob auch unsere schöne, teure Aussteuer mit weg ist? Im Laufe des Tages sind die Pferde weggenommen worden — der Bauer ist seiner besten Arbeitskraft beraubt. Die frischgebackenen Brote sind verschwunden, Fleisch- und Mehlvorräle zum großen Teil dazu. Schwere, schwere Sorgen drücken uns alle. Dazu die Angst um meine Braut, unsere Frauen alle. Beim Dunkelwerden kehre ich mit meiner Braut zum Hofe zurück, entschlossen, fortzugehen. In der Heimat können wir in Frieden und Freiheit ein neues Leben anfangen. Vater ist nicht nur unserer Meinung, sondern er rät uns, raschmöglichst zu verschwinden. Er sei alt, ihm würde nichts geschehen, und die Tante käme ihres Alters wegen wohl auch ungeschoren weg. Mit dem bekleidet, was wir gerade trugen und mit ganz wenig Habseligkeiten, die uns die Ukrainerin Irene, ihre Kollegin Anna und ihr „Mann” Kasimir nachtragen (es sind auch etwas Lebensmittel dabei), brechen wir auf. Es ist 10 Uhr nachts. 200 m von daheim nächtigen wir hinter einem Strohhaufen. Schlaf finden wir natürlich keinen. Die Ungewißheit unseres Fluchtweges, die Sorgen um die Zurückgebliebenen, das harte Lager und die Kühle der Nacht verunmöglichen den Genuß eines erquickenden Schlafes. Plötzlich schrecken wir auf. Deutlich ist der Angstschrei zweier oder gar mehrerer Frauen zu vernehmen. Wir fühlen uns hier nicht mehr sicher und schleichen weiter weg in ein hohes Kleefeld.

Es ist 3 Uhr früh am 10. Mai 1945 — wir treten unseren Fluchtweg weiter an. Er führt uns zunächst zwischen Klein Priesen und Trupschitz einem aufgeworfenen Wassergraben entlang, an der östlichen Peripherie von Wurzmes vorbei in Richtung Görkau. Auf einer Anhöhe liegen russische oder tschechische Posten auf der Lauer. Wir ziehen durch eine Mulde an ihnen vorbei, von jenen wohl ungesehen, gelangen an ein kleines Bächlein in einer Waldmulde und stoßen dort auf eine flüchtige Familie der Ortschaft Kaitz. Sie erzählen Schreckliches — der tschechische Mob hat seine Stunde schlagen gehört. Vom Dorfe her ist dauernd wilde Schießerei und Geschrei zu hören. Wir ziehen uns im nassen Klee und über Äcker in Richtung Wurzmes zurück, treffen auf „Leidensgenossen” und biegen mit jenen drei Mann rechts ab, Görkau zu. Der eine Begleiter erweist sich als deutscher


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ehemaliger KZ-Gefangener. Er erzählt in der Folge schreckliche Einzelheiten, hält aber daran fest, daß weitaus der größte Teil seiner ehemaligen Leidensgefährten nicht politisch Verfolgte, sondern Kriminelle waren. Wir wußten damals noch wenig von diesen KZ-Greueln und konnten seine Erzählungen fast nicht glauben. Doch belehrte uns der andere Begleiter bald eines ändern. Dieser entpuppt sich als ein einstiger baltischer Diplomat, und sein privater Paß lautet auf einen Frhr. von Sass. Er hatte von Dresden aus flüchten müssen, kam in Brüx mit seiner Familie mitten in die Schießerei, die wir am 8. Mai bei uns gehört hatten, verlor seine Frau und seinen Sohn und floh nun allein weiter.

In einem Haus außerhalb von Görkau verteilt ein ehemaliger kriegsgefangener Engländer Tabak unter uns. Dessen vornehme Geste wirkt inmitten dieser schrecklichen Sintflut des Grauens wie eine unbegreifliche Wohltat auf uns alle. Nach kurzer Beratung ziehen wir weiter durch Görkau, 50 Schritte von Onkel Emil vorbei über den Marktplatz. Überall Aufruhr, Aufbruch, Angst, Entsetzen und qualvolles Bangen um die Zukunft. „Latrinenparolen” tun ihr übriges, die vom Schicksal Geschlagenen noch mehr zu verängstigen. Kurz vor Görkau haben sich noch einige unserer Kolonne angeschlossen. Sie ziehen es vor, über Komotau westwärts zu ziehen. Zum Glück gehen wir nicht mit, denn sie sind, wie uns später bekannt wurde, in Komotau den Häschern in die Hände gelaufen und mußten sich, mit vielen Tausend ändern wie eine Viehherde getrieben, auf den Jahnturnplatz begeben. Sie haben in der Folge furchtbar Schreckliches durchmachen müssen1.

Beim Aufstieg ins Gebirge machen wir Rast. Unsere drei Begleiter haben Hunger — wie wir zwei —, haben aber nichts zu essen mit. Wir verteilen Brot und öffnen zum Gebrauche aller unsere einzige Büchse Fleisch. Über Hannersdorf gelangen wir ca. 10 Uhr vormittags westlich Göttersdorf, wo wir an einem kühlen Bächlein am Wegrande unsern Durst löschen und die heißgelaufenen Füße waschen. 200 m quer über die Wiese hinweg gehen die Russen bei Jaksch (Gasthaus, Metzgerei und Sägerei) aus und ein. Auf ihrem Grundstück weiden unzählige Pferde. Frau Jaksch ist eine Kusine meiner Braut. Wieder hören wir von Vorkommnissen, die uns das Blut in schnellen Stößen durch die Adern jagen lassen. Wir getrauen uns nicht zur Kusine Marie hinüber und beauftragen einen Dorfeinwohner, unsere Lieben daheim zu gegebener Zeit via Marie zu grüßen. Wir ziehen weiter, kommen an einem einsamen Hause vorbei und sind eben Zeuge, wie die Haustür aufgerissen wird. Heraus tritt eine junge Frau mit wildaufgerissenen Augen, aufgelösten Haaren, an der Hand ein vielleicht lOjähriges Mädchen, welches ganz verstört dreinschaut. Die Mutter schreit in einem fort: „Mein Kind, mein Kind, sie haben mir mein Kind vergewaltigt!” Gleich darauf tritt ein Rotarmist heraus, eine MP unter den Armen und grinst mit teuflischer Fratze hinter der zu Tode gequälten Frau her. Uns fährt grauenvoller Schrecken in die Glieder — wir sind kaum mehr fähig, den Platz schnell genug zu verlassen. Immer hören wir diesen furchtbaren Schrei aus gequälter Mutterbrust, und immer haben wir das Gefühl, jetzt müsse gleich eine MP-Salve losgehen. Aber es geschieht nichts mehr. Die Frau mit dem


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geschändeten Kind ist im nahen Walde verschwunden, ab und zu hört man entfernt noch ihre furchtbare Klage. Wir ziehen langsam weiter, dann immer eiliger und in Waldesnähe eilen wir wie gehetzt in den Wald hinein. Wir sind zutiefst erschüttert und müssen uns erst einmal eine halbe Stunde hinlegen, um uns zu beruhigen.

Das Erzgebirge mit seinen herrlichen Wäldern hat uns aufgenommen. Schützend hält der Wald seinen weiten, grünen Mantel um uns, verhüllt uns den Blick auf die Täler und die fruchtbare, weite Ebene dort unten, wo die Vorfahren meiner Braut nachweisbar seit 300 Jahren auf dem gleichen Hofe Bauern waren. Dort, wo jetzt ein wildgewordener nationalistischer Pöbel seine unbeschreiblichen Orgien in Blut und Tränen der deutschen Urbevölkerung feiert.

Wir meiden die Straße, welche sich von Sachsen her quer über das Erzgebirge in die Ebenen Nordböhmens hinzieht. Wir hören auf ihr die Geräusche eilig fahrender Militärfahrzeuge. Wenn wir nahe genug herankommen, sehen wir manchmal auch auf den offenen Camions Dinge, die zu beschreiben mir hier erspart bleiben möge. Qualvolle Schreie beweisen uns, daß diese von mitgeschleppten deutschen Frauen herstammen. Wir ziehen uns noch tiefer in die Wälder zurück, immer bedacht, allgemeine Richtung Deutschland zu halten. Gegen Abend kommen wir an einer einsamen Waldmühle vorbei. Einige Russen machen sich anscheinend einen Spaß daraus, dort sich befindende Frauen in der ihnen gewohnten Weise zu quälen. Man möchte sich als Riese fühlen, hinuntersteigen und diese ganze östliche Brut in wildem Zorn erschlagen. Aber wir sind uns unserer Ohnmacht allzugut bewußt, und in diesen Tagen infernalischen Schreckens ist sich jeder selber der Nächste. Wir machen einen großen Bogen um diese Stätte des Grauens, gelangen im Dunkelwerden in eine dichte Waldniederung. Dort legen wir uns dicht zusammen, hüllen uns in eine Decke ein und versuchen zu schlafen. Scheinwerferlicht und fremde Rufe lassen uns bald nicht im Zweifel, daß hier Tschechen mit ihren russischen „Befreiern” am Werke sind, die Wälder nach Frauen zu durchkämmen, die sich vor ihrem Zugriff versteckt haben. Wir müssen uns in der Nähe eines Dorfes befinden und halten uns mäuschenstille. Unendlich langsam vergeht die Nacht, und beim ersten Tagesgrauen ziehen wir hungrig und müde weiter. Das letzte Brot wird aufgezehrt. Plötzlich kommen wir unerwartet an eine Straßenbiegung. Zu spät haben wir einen russischen Posten, der bei einem umgekippten Fahrzeug Wache hält, erkannt. Wir werden scharf angerufen, und mit erhobenen Händen nähern wir uns den Russkys. Es sind ein Offizier, ein Unteroffizier und ein Soldat. Sofort suchen sie uns ab, finden bei mir meine ziemlich neue Schweizer-Armbanduhr und bezeichnen meine Braut als deutsche Wehrmachtsangehörige und möchten sie gefangennehmen. Ich zeige meinen Schweizerpaß. Sie schauen in an — verkehrt. Frhr. von Sass erklärt ihnen, daß ich Schweizer sei und meine Braut meine Frau und wir uns auf dem Wege in die Heimat befinden. Nach einigem Hin und Her lassen sie uns laufen. Erleichtert um Uhren, einigen Schmuck und auch um die große Gefahr, getrennt zu werden. Noch eine Nacht liegen wir im sicheren Hort sudetendeutscher Erzgebirgswälder. Dann überschreiten wir anderntags bei Rübcnau, einem kleinen Weiler, die sächsische Grenze. Ein


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großer Alpdruck verläßt uns, wir wissen, daß wird den Klauen eines mordgierigen und mit teuflischem Haß erfüllten Tschechenpöbels entronnen sind.

Nach Stunden erreichen wir in Thalheim im sächsischen Erzgebirge eine mir befreundete Schweizerfamilie, die hier eine Textilfabrik und ansehnlichen Land- und Hausbesitz ihr eigen nennt. Hier trennen sich unsere Wege. Der ehemalige KZ'ler, der sich als ausgezeichneter Kamerad erwiesen hatte, und der hochgebildete Freiherr ziehen allein weiter. Wie gerne hätten wir ihnen einige Tage Ruhe und Erholung bei jener Schweizerfamilie gegönnt. Aber wir kamen auch nur als Geschlagene und Bettler.

Drei Wochen später zogen wir zwei weiter nach Chemnitz, wo ich vor Jahren die Staatliche Färbereischule besucht hatte. Ich erkannte die geschändete Stadt kaum wieder. Beim Einnachten, als wir vorbeikamen, wurde grad die Schillerpost geplündert. Mit großer Mühe fand ich in den riesigen Trümmerhaufen den Weg zu meiner ehemaligen Wirtin. Sie war nicht mehr da, aber Nachbarsleute nahmen uns liebevoll auf. Anderntags schlichen wir uns auf verborgenen Pfaden aus den russischen Postenketten heraus und erreichten gegen Abend ein amerikanisches Auffanglager, ca. 15 km westwärts Chemnitz in Burgstädt. Wir wurden mit Heimkehrenden anderer Nationen in einem dachlosen Gebäude zusammengepfercht. Nach zwei Wochen vergeblichen Wartens auf einen Abschub nach dem Süden rissen wir aus und gelangten zu einer befreundeten Familie näher bei Chemnitz. Ich durfte dort noch die Heimkehr ihres einzigen Sohnes miterleben. Er kam über Bayern heim und hatte den Fall Prags noch miterlebt gehabt, konnte sich mit einer größeren Einheit quer durch Böhmen nach Znaim schlagen, und es gelang ihm dort mit wenigen, heil die Grenze nach Deutschland zu überqueren.

Tag für Tag kamen bei uns seltsame Gestalten vorbei. Alte Männer mit jüngeren Frauen, alten Weiblein, größeren und kleineren Kindern. Sie trugen in Rucksäcken armseligen Hausrat oder Dinge, die ihnen einfach teuer waren. Manchmal auch kamen welche mit Karren und den seltsamsten Wägelchen, vollgepackt mit Hausrat aller Art. Auf Befragen kam immer die Antwort, daß sie Sudetendeutsche seien, die das Land ihrer Väter, ihre heißgeliebte Heimat verlassen müßten. Also war es doch wahr, was wir vor Tagen erfahren mußten, daß die Alliierten sich geeinigt hätten, das Sudetenland von seinen Urbewohnern zu „säubern”. Welch infernalisches Unternehmen!

Der Anblick dieser ausgeraubten, geschlagenen Heimatvertriebenen und das Ungeheuerliche, das man aus ihrem Munde zu hören bekam, ließ mich nicht länger säumen. Ich ließ meine Braut in der Obhut meiner Bekannten in Limbach und begab mich allein bei Weipert über die Grenze. Aber bereits die erste Berührung mit einem ehemals reindeutschen Erzgebirgsdorf ließ mich erkennen, daß sich in der kurzen Zeit unserer Abwesenheit Grundlegendes verändert haben mußte. Keine deutsche Ortsbezeichnung, keine deutsche Straßenbezeichnung, selbst sämtliche Geschäftsschilder waren entfernt und durch tschechische Bezeichnungen ersetzt worden. Befand ich mich noch auf unserem alten Planeten? Mir kam alles so unglaubhaft, unwirklich vor, daß ich mich ernsthaft fragen mußte, ob ich eigentlich wach sei oder


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träume. In Komotau, wo ich mich einigermaßen zurechtgefunden hatte, wenn ich mich nach den deutschen Straßenbezeichnungen richten konnte, mußte ich mich erst einmal auf eine Bank setzen. Chomutov hieß es da auf einmal, und kein bekanntes Gesicht konnte ich mehr sehen — alles sprach in einer für mich furchtbar fremden Sprache, Russen promenierten stolz wie Pfauen in den Straßen herum. Was mochte diese deutscheste aller deutschen Städte in diesen Tagen und Wochen gelitten haben? Ich schlich mich davon in Richtung Zuscha.

Unterwegs traf ich mit einem alten Bekannten zusammen. Er schlich sich eben aus einem ändern Dorf heraus, trug eine weiße Armbinde am rechten Arm, worauf ein großes schwarzes „N" gemalt war. So müssen nun alle Deutschen herumlaufen, gab er mir zur Antwort auf meine Frage nach dieser seltsamen „Uniformierung”. Welch neue Teufelei sollte nun das wieder bedeuten? Der über 70jährige Mann, ehemals größter Bauer im deutschen Dorfe Zuscha, wurde aus seinem Besitztum herausgeschmissen und hatte nun Zuflucht bei Bekannten in einem entfernteren Dorfe gefunden. Für wielange, das wußte er nicht. (Später durfte er dann wieder bis zur Aussiedlung daheim sein.) Er sprach von Aussiedlung nach Bayern. Nun war er auf dem Wege „nach Hause”, um dort als Bettler um die Herausgabe irgendeiner ihm liebgewesenen Kleinigkeit zu bitten. Scheu, wie gejagtes Wild benahm er sich, und erst als er sich meines sicheren Auftretens bewußt wurde, getraute er sich, mir mehr über das namenlose Unglück zu erzählen, welches in diesen Tagen und Wochen über das sudetendeutsche Volk hereingebrochen war.

Wir kamen schließlich nach Zuscha. Ich fand sowohl den Vater als auch die Tante wie die Schaffersfamilie noch auf dem väterlichen Hofe an. Ein Bursche von vielleicht 20 Jahren fragte mich tschechisch in barschem Tone nach meinem Begehr — es stellte sich heraus, daß er „der neue und rechtmäßige Besitzer dieses tschechischen Hofes sei . . ." Ein ehemaliger Zirkusreiter aus Prag spielte sich nun auf einem mustergültig geführten deutschen Bauernhof als fachkundiger ''tschechischer Verwalter” auf. Er gab mir zu verstehen, daß ich hier nichts zu suchen habe, „alle daitschen Hefe, alles daitsch veerstaatlich” sei und ich gut daran tun würde, bald wieder zu verschwinden. Das habe ich eben keineswegs im Sinn, sondern würde nun nach Prag fahren, dort die Herausgabe all unseren Eigentums in die Wege leiten und dann mit meiner Frau zurückkommen. Das wirkte wie eine Explosion. Keine Viertelstunde später wurde ich verhaftet. Sechs Mann, bis zu den Zähnen bewaffnet, holten mich auf die Gemeindekanzlei. Dort suchten sie herauszubekommen, wo ich herkomme, was ich im Schilde führe und wer ich übrigens sei usw. usf. Ich ließ sie über eines nicht im unklaren, nämlich, daß ich entschlossen sei, von Prag aus die Herausgabe unserer Wirtschaft und aller bereits gestohlenen und beschlagnahmten beweglichen Sachen zu verlangen. Sie waren sehr geschlagen, berieten sich tschechisch, was ich natürlich nicht verstehen konnte. Ein ganz Geriebener verlangte nochmals meinen Paß zu sehen, erklärte diesen für gefälscht, und ich wurde erst einmal verhaftet und als gefangengesetzt erklärt. Welch groteske Situation. Mir war keineswegs wohl dabei, und mit düstersten Gedanken saß ich in einem kleinen Nebenzimmer erst einmal


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fest. Auf einmal kam mir ein guter Gedanke, ich pochte kräftig an die Türe. Man war gnädig, öffnete und fragte nach meinem Verlangen. Ich gab zu verstehen, daß ich unverzüglich gesucht werde, wenn ich morgen früh nicht auf der Schweizer Gesandtschaft (damals noch Generalkonsulat) in Prag erschienen sei. Sie würden zuallererst hier suchen, weil ich hier zuletzt ansässig gewesen sei und ich außerdem meine jetzige Anwesenheit in Zuscha von Komotau aus gemeldet habe. Nach einigem Hin und Her wurde ich freigelassen, allerdings mit der strikten Weisung, bis am Morgen zu verschwinden. Das tat ich denn auch, allerdings nicht, wie sich diese gedacht hatten, sondern auf schnellstem Wege suchte ich den Weg über das Erzgebirge, um meine Braut zu holen. Eine Woche später waren wir zusammen in Zuscha.

In einem weiteren Bericht schildert der Vf. seine Erlebnisse und Erfahrungen in der CSR bis zu seiner Ausreise in die Schweiz Ende April 1946.


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