Nr. 8: Die Ereignisse in Sternberg vor und nach dem Einmarsch der Roten Armee.

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Erlebnisbericht des Pianisten Wilhelm Mittag aus Sternberg.

Original. 17. August 1955, 4 Seiten, mschr. Teilabdruck. Der Bericht stützt sich auf Tagebuchaufzeichnungen.

5. Mai 1945: Seit den frühen Morgenstunden geht das Gerücht der bevorstehenden Besetzung durch die Russen um. Vormittag wird bekanntgegeben, daß die Stadt nicht verteidigt wird. Das Wehrmeldeamt hat die Stadt


28

bereits verlassen. Gegen 13 Uhr werden beim Verlassen des Rathauses Kreisleiter Josef Hantschel durch Bauchschuß und Bürgermeister Dipl.-Ing. Alois Pauler durch Armschuß verletzt. Die Täter waren Antifaschisten. Den Bewohnern wird empfohlen, die Stadt zu verlassen. Gegen 17 Uhr Beginn des Einmarsches der Russen vom Osten und Süden her. Die Stadt wird kurz beschossen, die Bewohner flüchten in die Umgebung. Keinerlei Kämpfe, da die Stadt von deutschen Truppen frei. Beim Gasthaus „Filzlaus” fliegt ein Munitionslager in die Luft und zerstört dasselbe. Meine Familie und ich finden Unterkunft im Försterhaus hinter Krokersdorf und sehen abends gegen Südwesten brennende Dörfer. Die Russen ziehen in endlosen Kolonnen gegen Mähr. Schönberg. Im Försterhaus wird nicht geplündert, es werden bloß alle Futtermittel für Pferde beschlagnahmt.

6. Mai 1945: Tag und Nacht marschieren die Russen in nordwestlicher Richtung. Wir werden immer wieder nach deutschen Truppen befragt. Keinerlei Übergriffe durch die russischen Kampftruppen, die nur die Uhren mitnehmen. Ein hoher russischer Offizier, vermutlich ein Abschnittskommandeur, der sehr gut Deutsch spricht, erzählt uns, daß Stalin der Truppe drei Tage Plünderungsfreiheit zugesagt habe.

7. Mai 1945: Die russischen Aufmarschkolonnen reißen nicht ab. Aus Sternberg werden Leute mit der Mitteilung in die Nachbarorte geschickt, daß alle Bewohner heimkehren sollen, widrigenfalls ihre Wohnung beschlagnahmt wird. Gegen 14 Uhr letzter Tieffliegerangriff durch eine deutsche Maschine auf die sowjetischen Kolonnen auf der Krokersdorfer Höhe der Straße. Zahlreiche Tote und Schwerverletzte, 2 Stalinpanzer vernichtet, die ausbrennen. Wir kehren nach Sternberg zurück, unsere Wohnung ist belegt, die Zustände in der Stadt sind fürchterlich. Seit 2 Tagen wird geplündert, vom Hause meiner Mutter, Rathausgasse 12, können wir beobachten, daß die ganze Nacht die Sparkasse von Russen geplündert wird. Aus dem Rathaus und der Sparkasse werden Akten und Bücher bergeweise auf die Straße geworfen, die Kassen und Schrankfächer in der Sparkasse werden erbrochen bzw. gesprengt. Die Haustür der gegenüberliegenden Buchdruckerei Albrecht ist verbarrikadiert, die Russen lehnen Leitern an das Haus und dringen im 1. Stock ein. Gegen 22 Uhr läuft eine völlig unbekleidete Frau schreiend durch die Straßen, hinter ihr russische Soldaten. (Die Frau ist die Gattin eines Staatsbeamten.) Im Nachbarhaus wütet die rote Soldateska, eine etwa 40jährige Frau wird die ganze Nacht mißbraucht und erleidet dabei schwerste innere Verletzungen. Das Haus meiner Mutter wurde am Tag vorher von einem Tschechen, der seit mehr als 10 Jahren darin wohnte, in Eigentum übernommen. Am Tag vorher wurde es von Russen „durchsucht”; alle Konservengläser wurden geöffnet und auf die Straße geworfen, sämtliche Lebensmittel gröblichst verunreinigt und genußuntauglich gemacht, eine 65jährige Inwohnerin mißbraucht. Der Tscheche hißte eine čechoslovakische Fahne, worauf das Haus von weiteren Plünderungen verschont blieb.

In den folgenden Tagen holt der Národní Výbor die Deutschen zu Aufräumearbeiten auf die Straßen. Die Stadt sieht grauenhaft aus. Sämtliche Geschäfte sind geplündert, die Auslagen zerschlagen, haufenweise liegen


29

Kisten und Kartons auf den Straßen. Vor dem Stadthof liegen alle Bücher der ehemaligen Gemeindebücherei verstreut. (Sie müssen später von den Tschechen gesammelt worden sein, denn etwa 1948 oder 1949 las ich in der „Schwäbischen Donau - Zeitung”, Ulm, daß ein Flüchtlingslager aus der Schweiz eine Bücherspende erhielt; etwa 600 Bände enthielten den Stempel „Stadtbücherei Sternberg, Ostsudetenland”.) Russinnen in Offiziersuniform versehen den Dienst als Verkehrspolizei. Ununterbrochen fahren Wagen, mit geplündertem Hausrat gefüllt, durch die Stadt. Tschechen durchsuchen die Häuser nach ehemaligen Pg. und führen sie ins Lager. Niemand wagt sich auf die Straßen. Es ist nicht mehr zu übersehen, wer verhaftet ist, da zumeist die Betreffenden nachts aus den Häusern geholt werden. Immer mehr Namen von Mitbürgern werden bekannt, die aus Angst vor den Russen Selbstmord verübten.

Am 11. Mai müssen sich laut Befehl der russischen Kommandantur alle früheren Wehrmachtsangehörigen beim russischen Kommandanten melden. Ich gehe mich melden, werde aber wieder weggeschickt, da der Kommandant abwesend ist. Melde mich am nächsten Tag wieder, ein tschechischer Partisan führt mich vor. Zuerst werden mir alle Taschen entleert, die Personaldaten aufgeschrieben, dann werde ich mit einem mir unbekannten Sternberger in den Keller des Hauses „Schnaps-Klein” neben dem Cafe Hösel geführt. Ein russischer Posten übernimmt uns, wir müssen uns mit dem Gesicht zur Wand drehen, der Russe klappert mit der MP. Es ist grauenhaft still im halbdunklen Keller. Etwa 5 Minuten müssen wir mit erhobenen Händen, Gesicht zur Wand, stehen. Dann kommt ein zweiter Russe dazu und macht uns mit dem Gewehrkolben verständlich, daß wir uns umdrehen sollen. Der erste russische Posten gibt uns ein Stück Wurst und Brot. Daß wir nicht essen konnten, ist nicht verwunderlich. Wir kommen in einen Verschlag, in dem schon rund 15 Menschen wie die Heringe eingepfercht sind. Ab und zu holen die Russen Leute zur Arbeit. Die Verpflegung ist erträglich. Von der Straße aus werden uns Lebensmittel und Kleidung zum Kellerfenster hereingeschoben. Unerfindlich ist es, wie unsere Angehörigen so schnell unseren Aufenthalt erfuhren. Trotz aller Bedrohungen wagen sich die Frauen immer wieder auf die Suche nach ihren Männern. Ich werde mit anderen Häftlingen auf „Arbeit” geschickt. Die Russen plündern das Laboratorium des Zahntechnikers Bruno Berger und das Gesundheitsamt. Dabei müssen wir ihnen die geraubten Sachen verladen helfen.

Im Gesundheitsamt steht ein neuer Röntgenapparat, den die Russen scheinbar nicht kennen. Mit vorgehaltenen MP umkreisen sie vorsichtig den Apparat. Offizieren und Soldaten ist das Mißtrauen an ihren Gesichtern deutlich ablesbar. Als sie sich von der Harmlosigkeit des Apparates überzeugt haben, geben sie uns den Befehl, den Röntgenapparat von einem Fenster des 1. Stockes auf die Straße zu werfen. Wie er nachher aussieht, ist leicht vorstellbar.

Immer wieder werden Deutsche aus den Häusern von den Tschechen abgeholt und ins Lager verschleppt, wo sie in unbeschreiblicher Weise mißhandelt werden. Der Gemeindeangestellte St. z. B. wird zwischen zwei Stühle gebunden, hin und her geschaukelt und dabei von zwei Tschechen mit Gummiknüppeln so lange geprügelt, bis am Körper kein weißer Fleck


30

mehr zu sehen ist. Sogenannte Antifaschisten führen die Tschechen in die Häuser bzw. machen sie auf Volksgenossen aufmerksam, die noch nicht in den Lagern sind.

Am Pfingstsonntag, 20. Mai 1945, werden wir Inhaftierten aus dem Keller des Hauses „Schnaps-Klein” in das Kgf.-Lager Olmütz-Neue Welt geführt.

An einem Tag gegen Juniende hat sich ein bezeichnender Vorfall abgespielt: Vom Kgf.-Lager werden wir zu Aufräumearbeiten in den Olmützer Vorort Chvalkovice geschickt. Am Heimweg ins Kgf.-Lager mußte wie üblich gesungen werden. Die Russen haben immer anbefohlen, was zu singen war: Horst-Wessel-Lied, Westerwald, Volk ans Gewehr, Wir fahren gegen Engelland usw. Rauchen im Zug war erlaubt. Ein Kriegsgefangener entnimmt einer versilberten Zigarettendose eine Zigarette. Das sieht vom Gehweg aus ein Tscheche, der auf den Kriegsgefangenen zuspringt, ihm die Dose entreißt und mit der Faust einige Male ins Gesicht schlägt, wobei er den Kriegsgefangenen gröblichst beschimpft. Der russische Begleitposten wird aufmerksam, geht mit vorgehaltener MP auf den Tschechen zu und zwingt ihn, dem Kriegsgefangenen die Zigarettendose wieder zurückzugeben. Einer von uns Gefangenen muß den Tschechen durchsuchen, der einen Schlagring, eine Pistole, Zigaretten und Geld in den Taschen hat. Die Zigaretten gibt der Russe dem von dem Tschechen mißhandelten Kriegsgefangenen, alles übrige steckt der Russe ein und befördert mit einem Fußtritt den Tschechen in den nächsten Straßengraben mit den Worten: „German Soldat. Du Schwein!”

Abschließend berichtet der Vf. über einige Erlebnisse im Kriegsgefangenenlager und über seine Aussiedlung im Juni 1946.