Nr. 10: Vorgänge in Mährisch Schönberg nach der Besetzung durch sowjetische Truppen; die Verhaftung des Vfs. durch tschechische Polizei, seine Übergabe in ein Kriegsgefangenenlager und Verschleppung in die Sowjetunion.

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Erlebnisbericht des Dipl.-Ing. Josef Kühn aus Mährisch Schönberg.

Original, 8. Januar 1957, 5 Seiten, mschr. Der Bericht stützt sich auf Briefe und tagebuchartige Aufzeichnungen.

Der 8. Mai 1945 war ein selten schöner Maientag, ein Tag, an dem die Natur ihr schönstes Kleid angelegt hatte, als wollte sie durch ihre strahlende


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Wärme und Lebenslust den ersehnten Frieden für die bis dahin gequälte Menschheit ausbreiten. Aber es standen die Russen vor der Stadt, und es kam anders.

Am Morgen eilte meine Frau zu einem Bäcker an der Mühlfeldstraße, um ein Brot zu „erstehen”. Ab und zu fielen Gewehrschüsse; es hieß, die Russen seien schon in Frankstadt. Nach Radiomeldungen sollte da und dort bereits Waffenstillstand geschlossen sein bzw. habe die Armee kapituliert. Manche hofften, daß der Krieg vor der Heimatstadt sein Ende finden werde.

Kurz nachdem meine Frau das Haus verlassen hatte, setzte aus der Richtung Frankstadt-Johrnsdorf lebhaftes Maschinengewehrfeuer ein. Da ich meine Frau in Gefahr glaubte, lief ich ihr nach und holte sie nach Hause. Etwas später begannen russische Panzer und Pakgeschütze die Stadt zu beschießen. Auch hörte man das Heulen und Pfeifen schwerer Geschosse über der Stadt. Wir suchten Schutz im Keller. Ununterbrochen schlugen Granaten in die benachbarten Häuser, und wir hörten das Bersten und Krachen von Mauern und Dächern. Fast kein Haus blieb unbeschädigt. Gegen Mittag eilten kleinere Gruppen unserer Soldaten in westlicher Richtung durch die Stadt, und wenig später sah man auf dem Rathausturm eine weiße und eine rote Fahne. Diesem Beispiel folgten wohl alle Schönberger. Dann flaute der Gefechtslärm nach und nach ab.

Ungefähr um 15 Uhr rollten die ersten russischen Panzer durch die Stadt, und wenig später standen die ersten Russen im Haus und verlangten „časy, časy” (Uhren, Uhren). Erste Nachrichten über Vergewaltigungen. Die Frauen wagten nicht mehr, das Haus zu verlassen und versteckten sich, sobald sich ein Russe dem Haus näherte. Auf der Schillerstraße wurden die Geschäfte geplündert.

Dem Umstand, daß einer unserer Mitbewohner etwas Russisch sprach und viele Eindringlinge zum Weitergehen bewegte, und daß das Haus einem Amerikaner gehörte, der auch darin wohnte, verdankten wir es, daß diese erste Plünderungs- und Vergewaltigungswelle uns verschonte. Nach dem glücklich überstandenen Beschüß und den Aufregungen der nachfolgenden Stunden verbrachten wir eine verhältnismäßig ruhige Nacht. Am Abend dieses 8. Mai hatte unsere Hausfrau meine Frau umarmt und meinte: „Nun haben wir das Schrecklichste überstanden.” (Später wählte das Ehepaar den Freitod.)

In unser Haus kam eine russische Patrouille, besichtigte die Wohnungen und gab allen den Auftrag, innerhalb 1/2 Stunde das Haus zu verlassen. Auf einen Handwagen luden wir das Allernotwendigste und zogen zu einer befreundeten Familie am Petersberg. Das ganze Wohnviertel mußte geräumt werden. Ein russisches Kommando belegte die Häuser. Schlagbaum und Posten sperrten die Straßen.

Als ich nach einigen Tagen nach unserer Wohnung Ausschau hielt, war der Schlagbaum weg, die Straße frei, und auf der Bank vor dem Haus saß ein russischer Unteroffizier, der mir ordnungsmäßig die Schlüssel der Wohnung übergab. Zur Ehre dieses Kommandos muß ich sagen, daß in der Wohnung nichts fehlte, nur waren die Einrichtungsstücke durcheinander gestellt.


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Nun mußte ich mich beeilen, der Aufforderung, alle Waffen abzuliefern, nachzukommen. Es war ein schwerer Gang für mich, und mein Herz blutete, als ich sah, wie ein Jugendlicher von der „stráž”1 meine geliebten Jagdwaffen wie Alteisen auf einen Haufen warf.

Die Deutschen zeigten sich nur in den dringendsten Fällen auf der Straße. Sie mußten eine Armbinde tragen. Neben russischer Militärpolizei patrouillierten tschechische Jugendliche (stráž) in den Straßen. Aber die russischen Soldaten vergewaltigten unvermindert Frauen und Mädchen jeden Alters und plünderten und raubten, was ihnen begehrenswert erschien. Ich war Zeuge, als eine russische Kolonne in der Mühlfeldstraße kurz hielt, die Soldaten von den Fahrzeugen sprangen und in den anliegenden Häusern alle erreichbaren Frauen und Mädchen vergewaltigten. Meinen Versuch, in einem Haus ihrem Treiben entgegenzutreten, hätte ich beinahe mit dem Leben bezahlen müssen. Auf den Fahrzeugen saßen auch einzelne ordensgeschmückte weibliche Soldaten, die dieser Vorgang anscheinend ganz unberührt ließ.

Einige Tage nach dem Einmarsch der Russen sah man die Soldaten in Scharen mit großen in Leinen gewickelten Paketen zur Bahn ziehen. Sie hatten die Erlaubnis, ihr Beutegut an ihre Angehörigen zu senden.

Die ehemaligen Kriegsgefangenen und dienstverpflichteten Arbeiter aus Rußland wurden von den Russen sehr schnell erfaßt und einem sehr strengen militärischen Drill unterworfen. Man ließ ihnen kaum eine freie Minute. Ich konnte aus dem Fenster die Härte der Ausbildung beobachten. Einmal bat mich einer dieser Rekruten, ihm zu helfen, damit er wieder zu dem Bauer komme (bei Ziegenhals), bei dem er bislang beschäftigt war.

Einer der russischen Ausbilder — ein Oberleutnant mit Frau — quartierte sich in unserer Wohnung ein. Dadurch blieb meine Familie vor weiteren Belästigungen sowohl der Russen als auch der Tschechen zunächst verschont. Für Frau und Tochter wurde es nur dann kritisch, wenn noch andere Offiziere zu Besuch kamen und der Wodka aus Molkereikannen geschöpft wurde. In solchen Situationen war der einzige Schutz das in den Armen gehaltene Enkelkind.

Am 13. Mai wurde ich auf der Straße von einer stráž angehalten und angewiesen, mich beim Stadtbauamt zur Arbeit zu melden. Von da an habe ich täglich mit einem Arbeitskommando die verschiedensten Arbeiten verrichten müssen. So im Herrengarten Granaten verladen, im Schießstättegarten LKW reinigen, in der Jahnstraße Telefon- und Telegraphenmaterial zum Abtransport verpacken u. a. m. Schließlich war ich bei der Zuschüttung des Löschteiches im Schillerpark eingesetzt. Am 30. Mai erkannte mich dort im Vorübergehen einer meiner ehemaligen Schüler. Er war Halbtscheche, sein Vater ein bekannter Kommunist aus Reitendorf (Glasfabrik). Er ging auf mich zu, und ich begegnete ihm, nichtsahnend, sehr freundlich. Er aber geiferte mich an und warf mir vor, ich hätte seinerzeit als sein Klassenvorstand die Bildung einer kommunistischen Zelle an der Schule verhindert. Er sei jetzt Kreissekretär der KPč, habe genug Machtmittel und werde


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dafür sorgen, daß ich sofort verhaftet werde, um dann als Arbeitssklave zu schwitzen. Ich zweifelte nun nicht daran, daß er diese Drohung wahr machen werde, obwohl ich mich nicht entsinnen konnte, daß ich jemals diesem Jüngling auch nur ein Haar gekrümmt hätte. Kaum 1/2 Stunde später führten mich zwei Geheimpolizisten von der Arbeitsstätte zur Kriminalpolizei. Es folgte meine Vernehmung durch einen Polizeikapitän, der sich sehr nett zeigte und mir sagte, diese Schulangelegenheit gehe die Polizei nichts an und sei übrigens verjährt. Als ich das für mich vollkommen unbelastende Protokoll unterschrieben hatte, sagte er, er glaube, es werde ihm bald auch so ergehen wir mir. Er bedauere es, mich bis zur Vernehmung des Anzeigers zurückhalten zu müssen. In der ganz kleinen Zelle, in die ich nun geführt wurde, waren bereits 19 Personen, darunter eine Frau, zusammengepfercht.

Nach drei Tagen hatte meine Frau meinen Aufenthalt ausgekundschaftet und erwirkte eine kurze Begegnung mit mir. Man erlaubte ihr, einige Lebensmittel und Zigaretten mir zu geben. Am folgenden Tag sagte beim Antreten ein Polizeioffizier zu mir, ich werde am Nachmittag entlassen, da gegen mich nichts vorliege. Wie mir meine Frau mitgeteilt hatte, war eine Hausdurchsuchung kurz nach meiner Verhaftung ergebnislos verlaufen. Am Nachmittag mußten abermals alle Häftlinge antreten. Wir wurden unter russischer Bewachung nach Blauda geführt. Dort nachts Verhöre vor der NKWD. Im Gegensatz zu vielen Mithäftlingen wurde ich nicht mißhandelt. Ja, man gab mir sogar alle abgenommenen Sachen, einschließlich Uhr, zurück. Nun war ich der festen Meinung, daß alles für mich gut stehe und ich wirklich entlassen werde.

Am 6. Juni brachte man mich noch mit einem Teil der Häftlinge in das Schönberger Gerichtsgebäude. Durchsuchung bis aufs Hemd, alles abgenommen, Hosenknöpfe abgeschnitten, von einem jugendlichen Russen mißhandelt und am Leben bedroht. Eine Verbindung mit der Familie war nicht möglich.

Dort verbrachte ich bei Wassersuppe und ungefähr 300 g Brot täglich die Zeit bis zum 10. Juni. An diesem Tag wurde ich mit einer Gruppe von etwa 70 Häftlingen über Dubitzko (Nächtigung im Sokolsaal) nach Olmütz getrieben. Einen Teil setzten die Russen im Kreisgericht ab, der Rest, bei dem ich mich befand, kam ins Kriegsgefangenenlager. Das Tor wurde geöffnet und wir hineingeschoben.

So wurde ich „woina pleny” (russischer Kriegsgefangener) und einer von den Millionen Arbeitssklaven, die der Russe ins Hinterland verbrachte und unbarmherzig bis zur Erschöpfung oder Vernichtung verbrauchte. Für die Familie war ich verschollen.

Im zweiten Teil seines Berichtes schildert der Vf. seine Aussiedlung aus der Heimat nach seiner Rückkehr im Sommer 1946.1.


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