Nr. 12: Das Verhalten der Sowjetsoldaten und der Tschechen nach dem Einmarsch der Roten Armee in Müglitz.

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Erlebnisbericht des Großkaufmanns Dr. August Kurt Lassmann ans Troppau.

Original, ohne Datum, 8 Seiten, mschr. Teilabdruck.

Eingangs schildert der Vf. die Evakuierung seiner Familie und die Verlagerung eines Teils seiner Eisengroßhandlung von Troppau nach Müglitz, seinen Versuch, kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee noch ins amerikanisch besetzte Gebiet zu gelangen, und seine Rückkehr nach Überrollung durch die sowjetischen Kampftruppen am 9. Mai 1945.

Ein paar Stunden später kamen wir nach Müglitz. Rasch holten uns unsere Zurückgebliebenen in den Fabrikhof hinein, und wenig später waren die Tore geschlossen und wir — gewissermaßen — in einer Art „Sicherheit”. in unsere Wohnung im Hause Ludwig Wuchsa, das am Hauptplatz lag. konnten wir aber jetzt nicht mehr zurück. So waren wir denn auch ohne Betten, die dort geblieben waren, und ohne vieles andere von dem ursprünglichen Notgepäck. Während wir im Fabrikgebäude beisammen saßen und für uns alle ein gemeinsames Lager auf dem Fußboden bereiteten, fuhren draußen auf der Reichsstraße ohne Unterlaß Tausende und Tausende russischer Fahrzeuge vorbei, zum Teil in zwei, ja drei nebeneinander fahrenden Reihen. So viel Militär auf einmal hatten wir noch nie gesehen. Kämpfe gab es natürlich nicht mehr.

Wie sich im einzelnen nun die „Besetzung” und die Einrichtung der Verwaltung abgespielt hat, das war mir (der ich weder Tschechisch noch Russisch spreche und der — wie alle Männer — bemüht war, sich nicht zu zeigen) unmöglich festzustellen. Unvergeßlich wird jedenfalls die erste Nacht bleiben, wo wir, hinter herabgelassenen Gardinen stehend, indes die Kinder hinten übermüdet und ahnungslos schliefen, jene endlosen Massen russischen Militärs im Eilmarsch an uns vorbeiziehen sahen. Die wichtigste Aufgabe war es nun, zu vermeiden, daß die Russen einen überhaupt richtig bemerkten und als Deutsche feststellten. Ich darf sagen, daß nun diejenigen, die Tschechisch konnten oder Tschechen waren, einen richtigen „Nachtdienst” einrichteten. Kamen Russen ans Tor und wollten Einlaß, wurden sie tschechisch begrüßt. Es half uns, daß einer unserer deutschen Müglitzer Bekannten, der mit von der Partie war, noch einige russische Brocken aus seinen Kriegsgefangenenjahren 1916—1921 in Sibirien in Reserve hatte. Und wenn die Russen nicht abzuweisen waren, führten sie sie in jene zwei großen Räume, wo auf dem Boden all die Kinder und ein paar alte Frauen ausgebreitet lagen. (Die jungen Mädels lagen Tag und Nacht oben auf dem dichtgefüllten Heuboden des alten Lagerhauses versteckt.) So gingen die ersten Tage relativ glücklich an uns vorbei, während in den Häusern der inneren Stadt keine Nacht verging, da nicht Frauen und Mädchen von den russischen Soldaten mißbraucht und geschändet wurden. Besonders dort, wo die Russen Alkohol gefunden hatten, waren sie auch den Frauen gegen-


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über nicht zu halten, wobei nicht einmal das Alter eine erhebliche Rolle spielte. Hier ist sehr viel Böses und sehr viel Unglück geschehen, auch wenn unser unmittelbarer Kreis dank der Vorsichtsmaßnahmen, der Hilfe der mit uns von früher verbundenen Tschechen und eben mit Gottes Segen von Vergewaltigungen verschont blieb. Auch andere Unbill trat hinzu. Wir unsererseits waren ja in Müglitz unbekannt. Das war unsere Rettung. In Troppau wäre ich sicher auf der Strecke geblieben. Den Direktor der Müglitzer Siemens-Schuckert-Werke, Franz, holten sie und prügelten ihn stundenlang. Erst Wochen später sahen wir ihn erstmals wieder; immer noch war sein Rücken tief dunkel unterlaufen und wunde Stellen au vielen Stellen sonst. In der Annahme, daß ein Fabrikdirektor Schmuck haben müsse, war er geprügelt worden, weil er dessen Versteck nicht angab. Es war nichts anzugeben. So schlug man ihn eben auf alle Fälle, bis er nicht mehr weiterkonnte. — Sehr üble Fälle von Vergewaltigungen erfuhren wir durch einen benachbart wohnenden älteren Müglitzer Arzt, mit dem wir uns angefreundet hatten und der meines Wissens heute nicht mehr lebt. Er hatte die Opfer ja nachträglich zu behandeln, und so wußte er Bescheid. Da sich diese Fälle ununterbrochen wiederholten, bestand eine ausgesprochene Panikstimmung unter allen Deutschen.

Wir wohnten zuletzt in einem Fabrikschuppen, im Hinterhaus des Komplexes, im ersten Stock. Ich werde niemals vergessen, wie einem die Angst die Kehle zuschnürte, wenn man, besonders nachts, plötzlich russische Soldaten im Hof sah, weil man niemals wußte, was geschieht im nächsten Augenblick. Trafen einen die Russen auf der Straße, und brauchten sie irgendeine Hilfe (Transportbegleitung der endlosen Herden von Vieh, das man den Bauern abgenommen hatte und nun in Richtung Rußland zurücktrieb), so griffen sie einen so auf, wie man stand, man konnte niemanden verständigen und mußte einfach als Viehtreiber nun mitmarschieren. Ein Jugendfreund, damals auch schon 50 Jahre alt, kränklich und sehr kurzsichtig, blieb viele Tage weg. Niemand wußte, was mit ihm geschehen war. Als er endlich wiederkam, war er zu Fuß bis Krakau marschiert. Dort wurden die Herden abgeliefert und die „Treiber” durften gehen. Unberechenbar, wie die Russen sind, einmal hilfreich, einmal böse, nahm ihn, der sich allerdings tschechisch verständigen konnte, ein russischer Fahrer mit seinem Lastwagen mit, so daß er eins zwei und ohne große Kontrollen wieder in Müglitz auftauchte.

Es gab auch erhebliche Unterschiede unter den einzelnen russischen Truppen. Nicht alle waren feindlich. So stellte uns ein Kavallerie-Rittmeister mit mittelgutem Deutsch die Ermächtigung aus, daß wir gar nichts aus dem vorhandenen Lager an Russen abzugeben haben. Wer etwas wolle, habe es zu kaufen. Der Krieg sei zu Ende. Wir atmeten auf. Zwei Tage später kamen andere Truppen, und die (schriftliche) Ermächtigung wurde uns einfach zerrissen; das Plündern begann von neuem. Manchmal waren sie auch wie die Kinder. Sie kamen in die Küche, tagsüber, um irgend etwas. Es entspann sich eine Freundlichkeit. Da sahen sie eine gute Reithose, die dem (nicht anwesenden) Mann einer der Frauen gehörte. Der Russe wollte sie haben. Er sagte: „Kaufen, was willst Du dafür?” Damals gab es für uns kein Fleisch, keine Butter, man war froh, wenn man Brot und Kartoffeln


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bekam und sich irgend etwas dazu organisieren konnte. Der Russe bot an: „Einen Schinken!” Keiner von uns glaubte es. Er ging weg und kam nach 10 Minuten mit einem Riesenschinken wieder. An diesem Tage war für ein paar Stunden Freude im Haus — und Angst. Wo war der Schinken her? Der Russe war in den nächsten tschechischen Fleischerladen gegangen (wo wir Deutschen gar nicht hindurften) und hatte sich den Schinken dort einfach „genommen”. Wehe, wenn es herauskam, bei wem er geblieben war! Die Russen hatten ja in den ersten Tagen alles „genommen”, was ihnen gefiel. Das waren vor allem die „Uhren”, die sie nahmen, wo es welche gab, egal ob der Plünderer schon ein, zwei Uhren hatte oder nicht. Auch jeden anderen Schmuck nahmen sie. Und Alkohol, wo es nur welchen gab. Im übrigen nahmen sie unsystematisch, nicht einfach alles. Aber man war nie sicher. Und in jenen ersten Tagen kämpfte man ja noch um jedes Stück Besitztum. Noch war uns die erschreckende Erkenntnis nicht aufgegangen, daß uns tatsächlich gar nichts mehr gehörte.

Vielleicht lagen die Dinge anderwärts anders. Bei uns war während der Kriegsjahre das Verhältnis zu den Tschechen kein häßliches gewesen. Manches, was die Funktionäre des Dritten Reiches an antitschechischen-Maßnahmen dekretierten, schien uns unerfreulich. So kam es, daß selbst Deutsche, die bis 1938 (solange der Staat tschechisch und wir die Benachteiligten waren) in offener Front gegen die Tschechen standen, nun daran gingen, ihnen zu helfen. Denn wir hatten den Tschechen ja zwanzig Jahre lang vorgeworfen, daß sie uns nicht nach den Regeln der demokratischen Gleichberechtigung behandeln. Und nun hielten wir uns selbst nicht daran. Vielfach ganz im Gegenteil. So entstand eine gewisse ungeschriebene Solidarität zwischen den unpolitischen Menschen beider Nationen, die hier ja jahrelang zusammengelebt hatten. Man half einander. Stillschweigend, aber zuverläßlich. Ich, der kaum eine Silbe Tschechisch sprach, hatte das absolute Vertrauen meiner tschechischen Angestellten in den Jahren, da die deutsche Macht völlig unbestritten war. Nun, da es zu Ende ging, hatten viele Umstände gezeigt, daß — bei aller angeborenen Ängstlichkeit vor den neuen Machthabern und bei aller Bereitschaft, sich auch vorteilhaft zu verbessern — doch ein Gefühl der Anständigkeit geblieben war. Aber das, was einige gut meinten, nützten andere nur aus. So kam es, daß wir Deutschen die Russen-Invasion eben als eine zeitgebundene Katastrophe ansahen, daß wir begierig die Botschaften hörten, wann endlich das Feldheer abgezogen sein und die „normale” tschechische Regierung das Heft übernehmen würde. Man glaubte die Tschechen doch zu kennen. Wenn es auch gelegentlich Übergriffe gäbe, im Grunde würde dann wieder die alte mitteleuropäische Ordnung sein wie auch bis 1938. So ergab es sich, daß man manchen auf einmal auftauchenden, freundlichen tschechischen Besuchern mit kindlichem Vertrauen entgegen kam. Da hieß es auf einmal: Morgen werden alle deutschen Schreibmaschinen, Radios u. ä. von den Russen beschlagnahmt. Gebt sie uns. Wir nehmen sie in Verwahrung. Bei den Tschechen dürfen die Russen nichts wegnehmen. — Brav rückte man die an den sorglichsten Stellen im Heu, in abgelegenen Kellern, oder wer weiß wo versteckten Dinge heraus, ließ sich durch irgendeinen Quittungszettel eine Beruhigung geben und atmete gewissermaßen auf, daß nun kommen


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könne, wer wolle, das alles wäre nun fürs erste „gerettet”. Aber niemand kam und suchte. Alles war Bluff gewesen. Die klugen Tschechen hatten sich damit — ohne Gewalt und ohne mühseliges Suchen — in den Besitz dessen gesetzt, was sie haben wollten; denn niemals mehr sah man etwas davon wieder.

In der Angst vor den Plünderungen hatten damals viele persönliches Besitztum irgendwie eingemauert. Auch im Eisenkeller der Firma Ludwig Wuchsa gab es einen ausgezeichneten Winkel, den man — ohne Hausplan — kaum finden konnte. Dort hatten wir alle, als die Front unmittelbar vor Müglitz war, unsere wichtigsten Kleider, Wäsche, Wertsachen u. a. hingepackt; das Ganze zugemauert und Eisenwaren davor. Und dann kamen die Russen. Sicher, sie haben oftmals sehr findig gesucht; aber die Feldtruppen waren in Eile. Es gab so viel offen greifbare Beute, daß sich kaum jemand die Mühe machte, so genau zu suchen. Trotzdem — der Ruf der Russen war so furchtbar, daß es nur eine Frage der Zeit schien, bis sie kommen würden. Und — zu den Tschechen hatte man damals irgendwie ein heute kindisch erscheinendes Vertrauen. Sie waren doch keine Asiaten; sie waren jahrhundertelang mit uns im selben Raum angesiedelt; man hatte ihnen — seitens der deutschen Bevölkerung — während der Kriegsjahre nie etwas getan. Man rechnete mit Sondersteuern, die die Deutschen höher belasten würden; man rechnete damit, daß sich die Tschechen in allen Firmen ein Mitspracherecht sichern würden; man befürchtete schon allerlei an Ungutem und Feindseligkeiten. Aber man war gewissermaßen des einen sicher: rauben (wie die Russen) würden die Tschechen in keinem Fall; wir standen mit ihnen ja nicht im Krieg; sie hatten das 1918 auch nicht getan.

In diesem Vertrauen gingen viele Deutschen, auch unser guter Herbergsvater Wuchsa, selbst zu den örtlichen tschechischen Behörden, die damals noch ganz im Schatten der Russen amtierten und selber Angst hatten, weil oft kein Unterschied gemacht wurde zwischen Tschechen und Deutschen, und meldete diesen zugemauerten Keller einfach an. Sofort hieß es: Das ist zu „gefährlich”. Das finden die Russen sicher. Das müssen wir öffnen und alle Sachen wegschaffen an einen zentralen tschechischen Ort. Ich sehe noch Vater Wuchsa, wie er ganz stolz und glücklich war zu sehen, daß nun wenigstens diese guten Sachen vor russischem Zugriff gesichert wären. — Wir waren nicht dabei. Wir trauten uns damals noch nicht den Weg über die Müglitzer Straßen von unserem Fabrikhof ins Stadtinnere zu machen. Nach ein paar Tagen hatten wir draußen gar keine Wäsche mehr. Da ging meine Frau, mit Kopftüchel und einem uralten Mantel einer alten Frau, stadtwärts und hörte bei Wuchsa, daß alles abgeholt worden sei. — Es muß wohl nicht erst gesagt werden, daß auch dies alles nie wieder auftauchte.

Mit dieser Enttäuschung unseres Vertrauens in die staatliche und persönliche Zuverlässigkeit der Tschechen brach auch alles zusammen, um dessentwillen wir nicht „geflohen” waren. Ich höre noch die mahnende. Stimme meines (tschechischen) Lagerverwalters im August 1944 (desselben, der im April 1945 mit einem zweiten die Ankunft der Russen im Keller


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unseres Hauses1 abwartete, um Plünderungen zu verhindern, und den sie dann bis zur durchgeführten Brandlegung kurzerhand eingesperrt haben, so daß auch seine Bemühungen umsonst waren): „Bleiben Sie hier, Herr Doktor”, sagte er, „was hat das für einen Sinn, jeden Tag eine Kiste mit so ein paar Sachen irgendwohin nach Deutschland zu schicken, wo es nur zerbombt werden wird. Wenn Sie von hier weggehen, dann werden Sie vielleicht irgendwo ein paar Teppiche finden, aber davon kann man nicht leben. Bleiben Sie hier, Sie haben niemand etwas getan, man wird Ihnen auch nichts tun. Aber wenn Sie fortgehen, wird es nicht möglich sein zurückzukommen.” Und so wurde nicht einmal etwas weggeschickt. Natürlich kann niemand von „ein paar Teppichen” leben; aber hätten wir sie hier, es wäre wenigstens etwas. So war alles weg. Aber man glaubte gerne diesen tröstenden Worten und — blieb; denn man hatte ja tatsächlich nichts zu verbergen, hatte niemandem ein Unglück zugefügt oder sich politisch betätigt. Also glaubte man auch, daß ein „mitteleuropäischer” Staat — wie es die Tschechei ja immerhin gewesen war — auch mitteleuropäische Begriffe haben würde, selbst wenn es gewisse Härten für uns Deutsche geben sollte. Und in diesem Kinderglauben handelte man in jenen ersten Russentagen, von Woche zu Woche hoffend, daß endlich die Tschechen das Regiment der Verwaltung übernehmen würden.

Ja, sie übernahmen die Verwaltung; aber die uns gutgesinnten Tschechen standen völlig machtlos vor den neuen Herren. Viele von ihnen liefen dann auch mit fliegenden Fahnen ins neue Lager über und beteiligten sich brutal an dem Raub und den Unmenschlichkeiten. Was sich damals in den sogenannten „Lagern” abspielte, war unbeschreiblich. Und die, die sauber und charaktervoll blieben — es gab auch deren — die mußten schweigen und konnten nur unter der Hand mit Kleinigkeiten helfen. Der vorerwähnte Lagerverwalter, als er etwa vier Wochen nach dem Einmarsch der Russen erstmals zu uns nach Müglitz kam, sagte uns: „Hätte ich Sie doch niemals davon abgehalten, wegzugehen. In Troppau weinen die Steine!” In jenen Wochen mußten die deutschen Müglitzer sich alle melden, und die wilden Aussiedlungen begannen. Wir selbst konnten, dank der Bemühungen unserer Angestellten, vorerst bleiben, bis man uns amtlich nach Troppau holte, wo für mich dann eine Gefängniszeit bitterster Art von etwa neun Monaten begann, bis man mich — mangels irgendwelcher Unterlagen — einfach entlassen mußte.

Die Russen waren etwas Unheimliches. Man wußte nie, wie man mit ihnen dran war. Aber sie waren manchmal auch hilfsbereit, selbst gegen Übergriffe der Tschechen. Und was sie nahmen, das war eben Kriegsbeute. Die Tschechen aber, die neben uns gelebt und keinen Krieg mit uns geführt hatten, nahmen uns alles.


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