Nr. 19: Verhandlungen zwischen Tschechen und Deutschen zur Verhinderung von Kampfhandlungen im Raum von Karlsbad.

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Bericht des Landrates a. D. Karl Utischill aus Karlsbad.

Abdruck aus „Der Sprudel”, Heimatblatt für Karlsbad Stadt und Land, 1950, Folge 14, S. 2 ff.

Eines Abends, Ende April 1945, das genaue Datum ist mir nicht mehr in Erinnerung, befand ich mich in Gesellschaft der Herren Wilhelm Lehmann, Fabrikbesitzer und Kreiswirtschaftsberater, Rudolf Schneider, Herrenmodegeschäft, Alte Wiese, und Rudolf Brandl, Restaurateur, auf dem „Hirschensprung”. Gegen Mitternacht wurde ich von der Kellnerin verständigt, ein Herr vom Landratsamt sei draußen und wünsche mich in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen. Das war damals im Zustand der dauernden Alarmbereitschaft nichts Ungewöhnliches.

Draußen stand Herr Andreas Haßler, Angestellter des Landratsamtes. Was er mir nun mitteilte, war allerdings ganz überraschend: Im Büro des Kaufmannes Christi in der Adolf-Hitler-Straße befinden sich einige deutsche und tschechische Herren aus Karlsbad, außerdem ein tschechischer Herr aus Prag, der als Abgeordneter der tschechoslowakischen Regierung nach Karlsbad gekommen sei. Dieser Abgeordnete habe die Aufgabe, im Auftrag der tschechoslowakischen Regierung, die sich damals in Kaschau befand, mit deutschen Stellen bzw. Persönlichkeiten in Verbindung zu treten, um zu verhindern, daß um das wertvolle Bäderdreieck gekämpft werde. Das Bäderdreieck (Karlsbad, Marienbad und Franzensbad) solle in der neuen tschechoslowakischen Republik eine besondere Stelle einnehmen. Die USA seien stark daran interessiert, diesen wertvollen Bodenbesitz unversehrt zu erhalten. Die Herren, die sich im Büro Christi befanden, hätten auch mich unter den Persönlichkeiten vorgeschlagen, mit denen der Abgeordnete in Verbindung treten könnte, ich sei als überlegter objektiver Mensch bekannt.

Man kann sich denken, wie ich über Haßlers Mitteilungen betroffen war. Über den Kriegsausgang konnte kein Zweifel mehr bestehen. Um Berlin wurde gekämpft, Wien war in den Händen der Russen, die Amerikaner standen bei Eger, Fliegeralarme am laufenden Band, Karlsbad selbst schwer von einem Fliegerangriff betroffen, desgleichen mehrere Gemeinden des Landkreises, Stadt- und Landkreis überfüllt mit Flüchtlingen, verlegten


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Dienststellen, Krankenhäusern und Lazaretten, täglich zunehmende Verpflegungsschwierigkeiten usw.

Was sollte ich tun? Sollte ich die Herren, die bei Christi saßen, gleich ausheben lassen und der Gestapo übergeben, die noch in vollen Touren amtierte? Sollte ich ablehnen, mit dem Abgeordneten zu sprechen und den Herren sagen, mich aus dem Spiele zu lassen? Bot sich hier vielleicht eine Möglichkeit, die Amerikaner nach Karlsbad zu bringen? Konnten dadurch Kampfhandlungen um Karlsbad vermieden werden, wo sich 15 000 Schwerverwundete, davon 6000 Gehbehinderte, und die hierher verlegten Berliner Krankenhäuser befanden?

Die getroffenen Vorkehrungen zur Verteidigung Karlsbads waren mir nicht unbekannt geblieben. Wie würde der Kreisleiter, bei dem ziemlich losen Verhältnis, in dem ich zu ihm stand, wie die Gestapo und die militärischen Stellen reagieren, wenn sie von der Sendung des Abgeordneten Kenntnis erhielten? Es war eine schwere Verantwortung, in die mich die Herren im Büro Christi durch Nennung meines Namens gebracht hatten.

In den 6 Jahren als Landrat in Karlsbad hatte ich in Herrn Wilhelm Lehmann einen Freund gewonnen. Sein in jeder Hinsicht integrer Charakter, seine Menschlichkeit und Güte, die ihn immer wieder als Helfer und Vermittler, wo er nur konnte, in Erscheinung treten ließen, hatten ihm die allgemeine Achtung und Verehrung erworben. Er war jetzt bei mir. Sollte ich nicht seinen wertvollen Rat einholen? Ich fragte also Haßler, ob ich Lehmann von dem Gehörten verständigen könne. Haßler fragte bei Christi telephonisch an, ob dies möglich sei. Antwort: ja! Lehmann und ich berieten nun gemeinsam die Mitteilungen Haßlers, erwogen alles Für und Wider, es waren in jeder Hinsicht folgenschwere Entschlüsse. Wir rangen uns dann zu dem Entschluß durch, erst einmal das Büro Christi aufzusuchen, um den tschechoslowakischen Abgeordneten selbst anzuhören. Nach l Uhr kamen wir dort an. Soweit ich mich erinnere, waren dort anwesend: Herr Christi, Herr Ing. Weinlich, den ich vorher nicht kannte, von den Tschechen Herr Kačena, Herr Chytiř von Karlsbad und ein Herr Segmiller, der sich als Beauftragter der tschechischen Regierung vorstellte und auswies. Herr Segmiller begann nun seine Ausführungen, die das von Haßler im wesentlichen Mitgeteilte näher ergänzten. Immer wieder betonte Segmiller das besondere Interesse der tschechoslowakischen Regierung und der USA, das wertvolle Bäderdreieck unversehrt zu erhalten. Dieses Gebiet solle in der neuen Tschechoslowakei eine besondere Stellung erhalten. Er solle im Auftrage der Kaschauer Regierung mit deutschen Stellen bzw. Persönlichkeiten in Verbindung treten, um zu verhindern, daß um das wertvolle Bäderdreieck gekämpft werde. Die deutschen Persönlichkeiten sollten auf die deutsche Bevölkerung in diesem Sinne einwirken, vor allem sei eine Werwolfaktion unmöglich zu machen. Segmiller sagte, er wisse, daß er und die Mitglieder des Národní Výbor verloren seien, wenn seine Anwesenheit und sein Auftrag der Gestapo vorzeitig bekannt würden. Er erklärte ferner, die Alliierten hätten in Jalta und Teheran die Selbständigkeit der Tschechoslowakei in ihrem früheren Umfange anerkannt. Dies sei eine unabänderliche Tatsache. Auf unsere Frage, welche Pläne und Absichten die tschechische Regierung


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mit den Sudentendeutschen habe, sagte Segmiller wörtlich: Keinem Deutschen, auch nicht Parteigenossen, werde das Geringste geschehen. Nur wer sich Gewalttaten gegen die Tschechen schuldig gemacht habe, werde zur Verantwortung gezogen werden. Die Deutschen würden als Minderheit, allerdings nicht mehr mit denselben Rechten, die sie in der ersten tschechoslowakischen Republik hatten, anerkannt werden.

Demgegenüber betonten wir, Lehmann, Christi, Haßler, Ing. Weinlich und ich ausdrücklich, über das Schicksal der Sudetendeutschen könne erst in einem Friedensvertrag beschlossen werden. Wir seien auf Grund der Münchener Vereinbarungen Reichsdeutsche und wollten dies auch bleiben. Diesen Standpunkt wiederholten wir auch schriftlich in dem kurzen Gedenkprotokoll, das wir am Schlüsse der Unterredung verfaßten.

Bei der Erörterung, wie Kampfhandlungen um Karlsbad vermieden werden könnten, war es Herr Lehmann, der darauf verwies, daß Kreisleiter Tschörner trotz des unglücklichen Endes des Krieges, welches vor uns stehe, noch immer so viel Einfluß auf die Bevölkerung habe, um in diesem oder jenem Sinne einwirken zu können. Segmiller solle sich daher mit ihm in Verbindung setzen. Erst als wir beide, Lehmann und ich, versicherten, wir würden dafür sorgen, daß von Seiten des Kreisleiters nichts gegen den bestehenden Národní Výbor bzw. die uns bekanntgewordenen Männer dieser Organisation unternommen wird, erklärte sich Segmiller bereit, in Begleitung des Chytiř mit dem Kreisleiter wegen einer kampflosen Übergabe der Stadt Karlsbad an die USA-Truppen zu verhandeln.

Lehmann und ich unternahmen es nun, den Kreisleiter von Segmillers Sendung und Vorschlägen in Kenntnis zu setzen. Lehmann erhielt eine Telefonnummer genannt, unter welcher er Ort und Zeit bekanntgeben sollte, falls der Kreisleiter überhaupt auf eine Unterredung mit Segmiller einging.

Auf dem Weg zum Kreisleiter kamen wir überein, daß Lehmann vorerst allein die Information des Kreisleiters übernehmen solle. Lehmann wollte von mir ein etwaiges Risiko fernhalten. Hier muß ich mein persönliches und dienstliches Verhältnis zum Kreisleiter kurz streifen. Kreisleiter Tschörner war kein „Nazibonze”, persönlich war er ein Mann von Einsicht und verständnisvollem Entgegenkommen, ich kann auch heute nur mit Achtung seiner gedenken. Wenn trotzdem zwischen Landratsamt und Kreisleitung eine mitunter gespannte Atmosphäre herrschte, so lag der Grund darin, daß ich als Verwaltungsbeamter der alten Schule öfter gegen die Einmischung und Übergriffe der Partei in meine Verwaltungsgeschäfte mich zu wehren hatte. Ich habe in meinen Lageberichten offen und frei gegen die Anmaßungen und unsinnigen Maßnahmen der Partei Stellung genommen. Der von der Partei vertretene Grundsatz „Staat und Partei sind eines” war für mich nicht Grundsatz, sondern eine Forderung, die für mein Handeln nicht bestimmend war. Bei dienstlichen oder sonstigen Anlässen begrüßte mich der Kreisleiter fast immer mit den Worten: „Herr Landrat, was hat die Partei schon wieder ausgefressen?”

Nachts um 2 Uhr kamen wir in die Kreisleitung, dort war Permanenzdienst, Hochbetrieb und Hochspannung; Lehmann begab sich mit dem Kreis-


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leiter in ein Nebenzimmer, ich wartete im Zimmer des Kreisleiters mit anderen Herren, darunter auch der Gouverneur Kundt1. Auf einen Telephonanruf von auswärts hin kam der Kreisleiter in seine Kanzlei zurück. Er führte ein kurzes Telephongespräch und teilte den Anwesenden mit, was er soeben gehört habe. In Manetin bei Pilsen2 hätte das dortige Volkssturmbataillon die Gewehre weggeworfen und laufe auseinander. Die tschechische Bevölkerung befinde sich in Aufruhr. Der Bataillonskommandant verlange Hilfe aus Karlsbad. Als der Kreisleiter äußerte, er werde von Karlsbad Volkssturmmänner und Hitlerjugend hinschicken, erlaubte ich mir die Bemerkung: „Herr Kreisleiter, wäre dies nicht angesichts solcher Zersetzungserscheinungen eine zwecklose Maßnahme?” Hierüber geriet der Kreisleiter in eine große Aufregung, er drohte, mich der Gestapo wegen Defaitismus zu übergeben. Ich entgegnete ihm wörtlich: „Herr Kreisleiter, Sie scheinen infolge der vorgerückten Zeit mich falsch verstanden zu haben, wenn Sie ausgeschlafen haben, werden Sie mich besser verstehen. Tun Sie übrigens, was Sie wollen.” Nach diesen Worten entfernte ich mich in meine Wohnung. Nach kurzem Schlaf wurde ich zeitig in der Frühe von Lehmann angerufen: Der Kreisleiter habe sich wieder beruhigt. Die Zusammenkunft mit Segmiller habe er abgelehnt, er unternehme nichts gegen Segmiller und Genossen, sie müssen jedoch aus Karlsbad verschwinden.

Soweit die Darstellung der Ereignisse, an denen ich persönlich beteiligt war. Was sich nach diesem Tage abspielte, schildert mir Lehmann in seinem Schreiben vom 21. Mai 1950, zu dessen Verwendung er mich ausdrücklich ermächtigte, wörtlich wie folgt:

„Die erste Unterredung entspricht nun ganz Ihrem Bericht, Herr Landrat. Tschörner hat zunächst abgelehnt, er war in dieser Nacht ungewöhnlich schlechter Stimmung. Die Unterredung hat aber zwei Tage später doch stattgefunden, der Kreisleiter, ich, auf der anderen Seite Segmiller und Chytiř. Die Bildung eines Národní Výbor in Karlsbad war inzwischen dem Kreisleiter auch von anderer Seite gemeldet worden. Ich wurde nach dieser kurzen Unterredung von Tschörner beauftragt, die Verbindung mit diesem tschechischen Kreis nicht zu verlieren, um keine Überraschungen zu erleben. Tschörner war durchaus bereit, die Stadt Karlsbad nicht zu verteidigen, lehnte es aber ganz strikt ab, die einmarschierenden Truppen, gleich welcher Nation, der Bevölkerung als Befreier vorzustellen und dazu noch die Karlsbader aufzufordern, zu beflaggen. Das waren so ungefähr Forderungen, welche Segmiller im Auftrage der Kaschauer Regierung stellte. Tschörner lehnte diese Dinge kurz ab, es könne sich nur um eine Feindbesetzung handeln, war jedoch einverstanden, wenn schon eine Besatzung, dann USA, und er war sogar bereit, eine Fahrt nach Eger zu unterstützen, um die dort befindliche Spitze der USA-Truppen aufzufordern, die Stadt Karlsbad unter ihren Schutz zu nehmen. Er war überzeugt, eine solche Besetzung würde


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uns nicht nur die Russen, sondern auch die Tschechen vom Hals halten. Die von Segmiller vertretene Regierung nahm er nicht ernst, erst Friedensverträge würden regeln, was mit dem Bäderdreieck wird. Sie, Herr Landrat, werden sich erinnern, daß die Demarkationslinien durch Böhmen so geplant war, daß die USA ganz Westböhmen, und zwar Linie Pilsen—Saaz—Weipert, besetzen, also der Ausdruck Bäderdreieck irgendwie seine Berechtigung fand.

Diese Fahrt nach Eger fand wenige Tage später statt. Ich selbst habe das Fahrzeug und das Benzin stellig gemacht und auch beim damaligen Komm. General, ich glaube mit Namen Benedek, im Hotel Pupp einen Passierschein durch unsere Linien in der Gegend Falkenau—Graslitz erwirkt. Diese unsere Linie war jedoch am anderen Tage schon in der Auflösung; die USA-Truppen kamen mit ihrer Spitze nach Elbogen, und Tschörner entschloß sich nun sofort, ein zweites Fahrzeug den Truppen entgegenzuschicken, nachdem Segmiller mit dem Bescheid zurückkam, der Div.-General der USA-Truppen erwarte erst von einer höheren Dienststelle Bescheid, wie weit er gehen dürfe. Dieses zweite Fahrzeug war besetzt von Konsul Meisel, Stadtkämmerer Dr. Kreppner und Stadtrat Lippert. Dieses Fahrzeug fuhr im Auftrag der deutschen Bevölkerung, und es kamen darauf auch tatsächlich kleine USA-Einheiten bis Fischern und herüber nach Karlsbad.”1