Nr. 21: Einsatz des Volkssturms in den Kämpfen im Böhmerwald; Vorgänge in Waier beim Einmarsch der Amerikaner und nach dem Einzug der Tschechen.

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Erlebnisbericht des F. J. aus Waier , Kreis Bischofteinitz.

Original, 1955, 8 Seiten, hschr. Teilabdruck.

Wie überall im Reiche wurde auch in Waier im Böhmerwald der Volkssturm aufgestellt, und zwar für Waier und Umgebung eine Kompanie, deren Kommando ich auf Wunsch der Volkssturmmänner, von denen viele schon im Ersten Weltkrieg in meiner Kompanie dienten, übernehmen mußte. Unausgesprochen wußten wir alle, besonders die einstigen Kriegsteilnehmer, daß auch der Volkssturm den Zusammenbruch nicht mehr aufhalten konnte, weshalb die obersten Vorgesetzten des Volkssturms im Kreisgebiet mit ihrem militärischen Wichtigtun und militärischen Unsinn viel belächelt wurden. Unsere „Wäldler” als letztes Aufgebot taten jedoch ihre Pflicht als Volkssturmmänner bis zum bitteren Ende. In den letzten Kämpfen an der alten Reichsgrenze gegen Bayern waren wir mit dem Volkssturm aus Mainz einem Ski-Jäger-Bataillon, dem Obersten Wastl unterstellt. In den Bergwäldern wurde der Amerikaner beinahe zwei Wochen lang aufgehalten, ohne Artillerie und sonstige schwere Waffen auf unserer Seite. Auf beiden Seiten gab es noch viele Tote, allein unter den Zivilisten 28 Tote durch feindliche Artillerie-Beschießung.

Bis zum Zusammenbruch war das Leben in Waier und Umgebung für Kriegsverhältnisse ziemlich normal, nur durch evakuierte Familien ohne Männer aus Berlin, dem Rheinland und Westfalen mußten die Einheimischen etwas enger zusammenrücken. Auch zwangsverpflichtete Holländer, Tschechen und Russen hatten wir in Waier zum Holztransport zur Bahn eingesetzt, die aber gut untergebracht und meist besser verpflegt waren als die einheimischen Deutschen, da sie als Schwerstarbeiter mit den besten Lebensmittelkarten ausgestattet waren. Sie fühlten sich auch alle unter den Deutschen sehr wohl und ließen es sich gut gehen.

Als Anfang Feber ein Trausport von Flüchtlingen aus Schlesien vom 14 km entfernten Bahnhof Weißensulz mit Lastautos und Pferdefuhrwerken durch tiefen Schnee nach Waier und Umgebung unter großen Schwierigkeiten gebracht wurde, war das letzte Stübchen in Waier mit Menschen dicht besetzt. Schreckliche Erlebnisse hatten diese Armen mitgemacht. Viele, besonders Kleinstkinder, sind unterwegs von Schlesien gestorben oder erfroren. Unter anderem erzählten diese schwerstgeprüften Menschen, daß die Tschechen ihnen auf den Bahnhöfen im Innern Böhmens, wo der Transport anhielt, sogar die Reichung von Wasser verweigerten. Die Schulklassen waren nun durch die Kinder der Evakuierten und Flüchtlinge aus Schlesien sehr überfüllt.

An einem Morgen der letzten Tage im April 1945 bekam ich von Oberst Wastl den Befehl, daß sich die Truppen um 10 Uhr vormittags vom Feind absetzen, die Zivilbevölkerung die Keller aufsuchen und nicht ver-


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lassen soll, bis der Amerikaner einmarschiert ist. Die Bevölkerung wurde diesbezüglich verständigt; mit dem Bürgermeister, einem Gemeinderatsmitglied und dem Ortsgruppenleiter wurde verfügt, daß im Orte nur eine weiße Fahne am ersten Haus gegen Bayern, von wo der Feind anrollte, also am Schulgebäude, gehißt werde. Wie teilnahmslos sich nun nach 10 Uhr vormittags die meisten Landser durch Waier und über Felder und Wiesen auf die Höhen von Rindl zurückzogen, dabei Waffen und Munition wegwarfen, ging einem als Kriegsteilnehmer tief zu Herzen. Ein abgehärmter Leutnant erzählte mir weinend: „Alles ist verloren, 200 Mann sind in der Nacht zum Feind übergelaufen.” Der Amerikaner nahm beim Rückzug der Deutschen nun Waier unter Artilleriebeschuß, weshalb wir nun mit der weißen Fahne, einem weißen Tischtuch aus dem Gasthof, zur Schule wollten. Einige unserer Soldaten beschossen uns jedoch von den Höhen bei Rindl. Kriechend im Straßengraben erreichten wir das Schulhaus, und der Bürgermeister schwenkte vom ersten Stock aus einem Fenster die weiße Fahne gegen die mit Panzern anrollenden Amerikaner, worauf sie das Artilleriefeuer auf Rindl und die umliegenden Berge verlegten. — Zwei Gefangene, ein Engländer und ein Australier, wurden mir vor etlichen Tagen von einem deutschen Unteroffizier übergeben, die in der Metzgerei und Gastwirtschaft untergebracht wurden. In den letzten Tagen waren sie als Köche in der Schulküche beschäftigt, wo für unsere Soldaten gekocht wurde. Sie waren mit ihrem Schicksal sehr zufrieden, umso mehr, da sie wußten, daß ihre Gefangenschaft zu Ende ging. Da der Engländer (Londoner) ziemlich gut Deutsch konnte, so bestimmten wir, daß beide in ihren weißen Kochuniformen mit uns den Amerikanern entgegengehen müssen, wo der Engländer die Ansprache des Bürgermeisters ins Englische übersetzen sollte. Beim Halten des ersten Panzers sagte der Bürgermeister: „Ich als Bürgermeister von Waier übergebe den Ort und versichere, daß kein deutscher Soldat mehr in dem Ort ist.” Der Engländer übersetzte die Worte auf englisch und gab sich mit seinem Kameraden den Amerikanern zu erkennen. Der Offizier auf dem Panzer, der uns Deutsche keines Blickes würdigte, gab jedem Gefangenen ein Päckchen Zigaretten und holte sie auf den Panzer. Die Gefangenen gaben uns jedem eine Zigarette (die erste Ami-Zigarette) und reichten uns zum Abschied die Hand. Der Offizier gab dem Bürgermeister in sehr gebrochenem Deutsch den schroffen Befehl, daß sämtliche Waffen bis abends am Bürgermeisteramt abzuliefern sind, daß keine Person nach 7 Uhr abends außer Haus sich zeigen darf und keine Tür im Haus verschlossen sein darf. Alle Häuser vom Keller bis zum Boden wurden durchsucht. Der östliche Teil des Dorfes mußte binnen einer Stunde von den Zivilisten geräumt sein und wurde vom Amerikaner besetzt. Die Geschütze wurden vor den Häusern in Stellung gebracht und die Höhen gegen Ronsperg unter Artilleriefeuer genommen.

Die Kampfgruppen waren zwar unnahbar, aber nicht so gehässig wie nachfolgende Etappeneinheiten. So sollten eines Tages Offiziere im Schulhaus einquartiert werden; die Offiziersdiener hatten die Sachen ihrer Herren, besonders Schlafsäcke, schon im Schulhaus untergebracht. Nach kurzer Zeit kamen drei Offiziere, davon ein katholischer Feldgeistlicher und ein Arzt, der allein Deutsch konnte. Der Feldgeistliche nahm im Wohn-


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zimmer meinen deutschen Offiziersdegen trotz meines Protestes an sich, mit der Begründung, daß an demselben ein Hakenkreuz sei. Der Arzt quälte mich und meine Frau auf gemeinste Weise. So bot meine Frau den drei Offizieren Platz zum Sitzen an. Der Arzt sagte gehässig: „Bei Deutschen setzen wir uns nicht.” Er duzte uns, schimpfte uns „Hitlerschweine” und „Nazibestien” usw. Als er ein Bild unseres gefallenen Sohnes auf meinem Tischchen als Soldat fand, nahm er es an sich und schimpfte: „Das ist auch ein Hitlerschwein!” Als wir ihm sagten, daß er in Rußland gefallen und unser einziges Kind sei, meinte er: „Siehst Du, wenn Du das Hitlerschwein getötet hättest, hättest Du Deinen Sohn noch.” Besonders erbost war er, als er von den Konzentrationslagern, besonders von Buchenwald sprach und ich sagte, daß ich nur von Dachau gehört habe. „In Amerika wußte jedes Kind davon, und Du Schwein willst von Buchenwald nichts wissen?” Alle Schlechtigkeiten, die man sich nur denken kann, warf er mir und meiner Frau ins Gesicht. Durch die Glastür zum Vorzimmer sahen wir zwei weitere Offiziere ankommen und hörten von den drei anwesenden Offizieren sagen: „Der Chef!” Eine hohe, schlanke Offiziersgestalt, blond mit blauen Augen, trat mit einer Verbeugung vor meine Frau und vor mich, stellte sich und seinen Begleiter vor. Meine Frau faßte wieder Mut und bat die Herren, Platz zu nehmen. Der Offizier, wahrscheinlich ein Oberst, konnte leider nicht Deutsch, weshalb er den Arzt fragte, was meine Frau sagte. Als er es übersetzt bekam, nahmen er und alle anderen Platz, nur der Arzt blieb stehen. Der „Chef” bot meiner Frau und mir Zigaretten an, fragte uns über dies und das, sah das Bild meines Sohnes, fragte nach ihm und sprach sein Beileid aus, so daß mir und meiner Frau die Tränen kamen. Nach längerer Zeit verabschiedeten sich die Offiziere mit Handschlag. Nur der Arzt gab uns keine Hand. Gegen Abend kamen wieder die Offiziersdiener und brachten die Sachen ihrer Herren weg. Wahrscheinlich hat der Arzt sie verhetzt, denn sie zogen ins Gasthaus. Ich kann den Haß des Arztes gegen uns Deutsche verstehen, denn er war Jude. Als die Amerikaner ihren Vormarsch ins Landesinnere Böhmens fortsetzten, kamen die Tschechen. In Waier waren nurmehr Etappentruppen der Amerikaner, die natürlich wie oft andere Soldaten in Feindesland sich nahmen, was ihnen behagte. So wurde mir eine wertvolle Stainergeige entführt. Eines Tages kam ein großer Lastwagen voll mit tschechischen Gendarmen, Finanzern und Soldaten. Alle waren bis an die Zähne bewaffnet, auch mit Maschinengewehren, die Soldaten in Fantasieuniformen, teils von SS, SA, Volkssturm und Wehrmacht und teils zivil. Die schönsten Wohnungen wurden besetzt. Zuerst waren sie höflich und ängstlich. Tagtäglich trafen tschechische Verstärkungen ein, auch sehr viele Zivilisten. Als über hundert in Waier waren, wurden sie frech, und die Plünderungen, Drangsalierungen und Schlägereien waren an der Tagesordnung. Besonders oft wurde das Kaufhaus Wartha in Schwarzach geplündert. Die gemeinsten Schläger — auch Frauen und Mädchen wurden verprügelt, wenn keine Amerikaner zugegen waren — waren halbwüchsige 19- bis 17jährige Jungen mit Hundepeitschen, angeblich Studenten. Fürchterlich wurden manche Verhafteten auf der Gendarmerie geprügelt, daß man das Wehklagen im ganzen Dorfe hörte. Besonders schrecklich war es in Waier, als kein Amerikaner mehr in Waier


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war. Aus dem kleinen Waier wurden allein 22 Männer und Frauen in das berüchtigte Konzentrationslager im Walde bei Chrastavice bei Taus, ein früheres Munitionslager ohne Fenster, gebracht.

Die Schilderung der eigenen Verhaftung und Internierung im Lager Chrastavice, Milotov und Třemošná beschließt den Bericht.