Nr. 22: Ereignisse in Neuern vor und nach dem Einmarsch der amerikanischen Truppen.

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Bericht des Oberlehrers Josef Blau ans Neuern , Kreis Markt Eisenstein.

Original, ohne Datum, 88 Seiten, mschr. Teilabdruck. Der Bericht beruht auf Tagebuchaufzeichnungen für die Chronik der Stadt Neuern; die vom Vf. wiedergegebenen Auszüge umfassen die Notizen vom 1. Januar 1945 bis Ende Oktober 1946.

Die Tagebuchaufzeichnungen vom 1. Januar bis 23. April 1945 enthalten neben persönlichen Erlebnissen und Beobachtungen des Vf. Nachrichten über die allgemeine militärische Lage und über Ereignisse in Neuern und Umgebung; wiederholt ist der Zustrom bzw. Durchgang von Flüchtlingen und Evakuierten aus den östlichen Provinzen des Reiches und aus der Slowakei vermerkt.

Dienstag, 24. April, Georgitag.

Die Fabriken wurden heute stillgelegt, die Arbeiter gingen heim. Von Bayern herein hört man Kanonendonner. Heute kann kein Holz angefahren werden vom Bahnhof. Niemand arbeitet.

In Klattau ist der Bahnhof zerstört. Der Vorstand wurde gestern tot herausgegraben. Tags zuvor hatte er noch Klopfzeichen gegeben. In Klattau zahllose Fenster hin. In Neuern haben alle Fuhrwerke zu tun, Vorräte aus dem Protektorat herauszuschaffen, die Neuernern gehören. Dort wurden zwischen Häusern Panzersperren gebaut. Viele Leute sind aus Klattau auf die Dörfer geflüchtet. Das deutsche Militär hat dem Landratsamt das Benzin genommen.

In Neuern wurde gestern der Volkssturm von Haus zu Haus zusammengeholt. Schrecken: Um 10 Uhr kam Nachricht von der Übergabe Chams; 12: Auch Furth1 ist bereits übergeben. Da können die Amis heute abend schon in Neuern sein! — Auf dem Bahnhofe sind große Vorräte angelangt: 30 Waggons Zucker, Mehl, Gries, Konserven. Der Zucker wird teils von den Kaufleuten übernommen, teils an die Leute ausgegeben, 100 kg zu 75 RM, vom Bahnhof abzuholen. Der Andrang dort war ungeheuer, alles war mit Wagerln dort, viele mußten leer zurück, fuhren aber dann noch einmal, wieder umsonst, wagten es ein drittes Mal, bis Erfolg war.


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Die Amis hatten sich von Cham über Kötzting und Viechtach nach Regen gewandt. Gestern ist Troppau gefallen1. Mittwoch, 25. April.

Den Leuten ist leid, daß die Amis nicht kamen, das hätte die Spannung gelöst. So wartet man weiter ins Ungewisse hinein.

Durch Neuern zog ein Zug schwarzer Gefangener, ein Lager übersiedelte. Die Schwarzen hatten Mäntel, oliv gefärbt, rote Kappen, dicke Lippen, was auf die Jugend starken Eindruck machte. Hie und da trugen zwei Mann ein Kesselchen mit einem Kohlenfeuer darunter; ein roher Zuschauer schlug es den armen Teufeln hinunter.

Ein anderer Transport brachte Juden aus Theresienstadt durch Neuern. Die kamen mit der Bahn, meist Frauen. Von diesen wurden mehrere Tote auf dem Neuerner Judenfriedhofe begraben, andere beim Bahnhof. Es war von der SS verboten, diesen Halbverhungerten Essen zu geben. (Der Totengräber Metzner hatte dort die Gruben gegraben.) Die meisten hatten bereits seit fünf Tagen nichts mehr zu essen bekommen.

Fuhrwerke sind rar, da die Pferde mit Beschlag belegt sind. Wir trieben einen Kleinhäusler auf, den Simmet (Hüwal), der uns das Holz vom Bahnhof hereinbringt mit seinen Kühen.

Um halb 12 kommt ein Tiefflieger und macht gewaltigen Rumor über unserm Villenviertel. Alles läuft hinaus und rasch wieder hinein.

Die Schreiberinnen beim Landrat in Klattau bleiben heute daheim. Die Tschechen haben dort die Amtsführung übernommen, die Deutschen sind alle fort. In Neuern hat jemand die Büste Hitlers vom Saal des Rathauses heruntergeworfen und sie ging in Scherben. Ein SS-Mann drohte dem ganzen Personal mit Erschießen, wenn die Büste nicht binnen einer Stunde wieder aufgestellt ist. Ein anderer SS-Mann drohte dem Bürgermeister: „Geben Sie mir ein Fahrrad, binnen 5 Minuten, oder ich schieße Sie nieder!” Da sprang der herum: „Geschwind ein Fahrrad her, er will mich erschießen! Ein Fahrrad her, er schießt mich tot!” [Nachtrag:] So erzählt ein Gerücht. Es waren das mehrere SS-Leute auf der Flucht, die Fahrräder forderten. Der Bürgermeister drohte ihnen mit der regulären SS und weigerte sich, ihnen Fahrräder zu beschaffen, worauf sie sich zu Fuß weiter helfen mußten.

Aus Klattau werden alle Deutschen abgeschoben. Das deutsche Militär ist abmarschiert. Die Protektoratsgrenze ist für Zivil gesperrt.

Mittags kam Fräulein Beier mit drei Soldaten, die höchst aufgeregt waren; sie wünschten eine Karte des Böhmerwaldes mit eingezeichneter Sprachgrenze. Sie wollten nicht den Tschechen in die Hände fallen. Sie erhielten zwei Kanten, in die ich die Sprachgrenze einzeichnete.

Zeitbild: Es hängen große Entscheidungen in der Luft, es sind schicksalschwere Tage. Alles läuft aufgeregt hin und her, jedermann trägt irgendeine Armbinde, jeder dritte ein Gewehr.

Halb 3: Flakfeuer von Westen her. Der Deutschlandsender schweigt. Immer neue Scharen von Russen kommen und ziehen zum Wlassow-Lager2


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hinauf, mit Koffern und Säcken beladen, wie von der Bahn gekommen, die Hälfte davon Weiber, Jungen; es sind beiläufig gegenwärtig 1000 Personen im Lager, sagt der Kunsthistoriker Behrens, der mit einem zweiten Herrn die Koffer bei uns einstellte (aus dem Russenlager). Beim Gasthause Kahlhofer auf der Luft ist ein Jugendlager. Dieses HJ-Jungvolk zog zum Osser hinauf, um ihn zu verteidigen, meist Burschen aus Neuern von 14—16 Jahren. Ihr Anführer und Peiniger ist der B. von der unteren Reichsstraße. Eine aufgebrachte Mutter machte ihm böse Vorhaltungen.

Die Holzfuhren, drei zu je 3 m, sind gekommen. Die Fuhrleute bekamen als Trinkgelder nahezu 100 Zigaretten. Das Holz ist leicht, weil trocken. Die Meldereiter der Russen sprengen herum, auch der Volkssturm hat es eilig.

Unsere Holzauflader kommen vom Bahnhof, erzählen: Auf dem Bahnhofe steht schon längere Zeit ein Zug, beladen mit Juden aus Theresienstadt. Sie sterben vor Hunger hin wie die Fliegen, werden beim Bahnhofe begraben, aber so oberflächlich, daß Arme und Füße herausragen. Ein Zug elender Jüdinnen wankte aus dem Reiche herein über die untere Brücke. Sie wurden beim Parteiheime (altes Schulhaus) gelabt.

Eine Frau Wolny aus Ratibor, die schon vierzehn Tage lang in Janowitz im Eisenbahnzuge hatte bleiben müssen, fragte nach einem Flecklein Wohnraum. Dr. Behrens führte sie ins Lager hinauf, samt ihren zwei hungrigen Kindern. Er brachte dann eine elektrische Bratpfanne und mehrere Konserven, die er sich dann wieder abholte. Ich mußte ihm ein englisches Buch leihen, „Shakespeare Tales” (Tauchnitz-Edition).

Draußen starker Kanonendonner. Panzerspitzen sind schon in Eisenstein. Vor 8 Uhr abends: Tiefflieger kreisen über unserm Viertel, schießen fleißig mit Bordwaffen. Ein Trupp Russen kommt vorbei, zum Lager hinauf, eine Troika mit Gepäck, auch das Lastauto von Härtung.

Viertel zehn. Gesang in der Stadt. Dann Auswanderung Evakuierter mit Sack und Pack und kleinen Wagerln auf der Glashütter Straße, die ist frei. Vollmondnacht.

Es heißt, diese Nacht kämen die Amis von zwei Seiten, von Furth und von Eisenstein her. Im Lager oben ist Bereitschaft, es darf niemand hinaus.

Donnerstag, 26. April.

Morgens liegt Reif. Geschützdonner, schlagweise, dazwischen minutenlanges Schweigen, wie von Süden oder Südwesten her. Diese Nacht gab es im Russenlager eine Schießerei. Morgens wurden mehrere Russen in die Stadt geführt in den Arrest.

6 Uhr morgens. Eine Menge Militärwagen mit Pferden und durchfrorener Mannschaft fuhren vorbei, gegen Freihöls zu.

Radio: Die Einkreisung von Berlin ist beendet. Die Russen bei Göding und Brünn. Zerstörung des Bahnhofes Berchtesgaden samt dem „Adlerhorst”1. Fortschritte gegen München, auch in Italien gegen die Alpen zu.


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Gestern abends begann die Konferenz von San Franzisko, von 46 Staaten beschickt1.

9 Uhr: Tiefflieger schießen aus Maschinengewehren, stark, andauernd. Ich packe meinen Koffer für die etwa notwendige Flucht: Kleider, wichtige Kleinigkeiten, Wäsche, Strümpfe.

11 Uhr, nach Oberneuern. Fremdsprachige SS, Soldaten mit Feldküchenwagen, diese rauchend; von Klattau her auch ein Trupp junger Krieger, viele, viele Mädchen, noch Kinder, flüchtend, schwer mit Rucksäcken, Koffern und Gepäck beladen, wahrscheinlich ein allzuspät geräumtes KLV-Lager (Kinderlandverschickung), dann Tiefflieger, auf der Milliker Straße wurde der lange Zug mit Maschinengewehrfeuer überschüttet (von Toten nichts gehört). Wir waren aber entsetzt durch das langdauernde Rattern der Bordwaffen.

Rundfunk, statt um 2 erst um 5: Kämpfe um Berlin sind entscheidend für Europa! — Alle paar Minuten gibt es in der Nähe starke Explosionen.

Die Jüdinnen, die durch Neuern zogen, haben erbärmlich um Brot gebettelt. Es folgen lange Autozüge: Polizeitruppen, Soldaten, Flüchtlinge, Gefangene, Zuchthäusler in Sträflingskleidern (gestreift), ein KLV-Lager aus Poděbrad, junge Bürschlein, die sich mühsam dahinschleppten!

Freitag, 27. April.

In der Stadt große Bewegung. Allgemeine Frage: Wird Neuern verteidigt werden oder nicht? Viele Fuhrwerke, viele Durchwanderer.

Um 2 Uhr: Zettel in alle Häuser. Aufruf der SS, Neuern zu verteidigen „bis zum letzten Stein”.

Gegen Abend kamen von Klattau herüber 1000 Kinder, diese wurden in der Unterneuerner Kirche zum Teil untergebracht. Nachmittags war starke Kanonade an der Grenze; jeder Schuß rief einen noch stärkeren Widerhall zwischen den Bergen Rantscher und Gewintzy hervor.

Überall wird gepackt und Sachen in die Keller geschleppt, auch vergraben. Radio: In Berlin dringen die Russen vor. Brünn und Eger sind erobert, Bremen besetzt, Aufstand in Italien, Verona besetzt, die Etsch überschritten, 60 000 deutsche Gefangene. Göring legte seine Ämter nieder, besonders die Führung der Luftflotte, seines Herzleidens wegen2.

Um 1/2 11 vormittags wurden von der SS in Hämmern (Steinbruch) erschossen:

1. Frau Spediteurin Härtung. ... Es soll ein Komplott zur Ermordung des SS-Leutnants bestanden haben, der Neuern verteidigt haben wollte. Durch ihr Verschulden (Geschwätzigkeit) war die Sache bekannt geworden.


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2. Der Amtsrichter Schmied.

3. Der Inhaber des Kinos in Neuern, ebenfalls namens Schmied.

Der Verteidiger von Neuern, Leutnant Leipen, ein junger Bursche, war mit 180 Mann gegen Chudiwa abgerückt. — Nachts starke Regengüsse.

Für die Verteidigung der Stadt waren die Leute vom Volkssturm (Lehrer G., der aus Bayern gekommene Gl., der Rasierer B. (auch ein Fremder), der Mann von der DAF (Deutsche Arbeitsfront) Z., der aus K. stammte. Die ganze Bevölkerung war dagegen — mit Ausnahme einiger Weiber. Frau G. sagte zu mir: „Neuern muß verteidigt werden, lebt ja der Führer noch!” Die Frau des Rasierers U.: „Neuern muß ja verteidigt werden, es ist ja eine offene Stadt!” (Eine Festung brauchte also nicht verteidigt zu werden!)

Dagegen war die ganze Bevölkerung. Deren Sprecher war der Geometer Ing. Baumann. Der hielt dem Leutnant die Zwecklosigkeit der Sache vor: „Ich selber war im Weltkrieg Oberleutnant, aber solche Dummheiten hat es damals nicht gegeben!” Da auf jeden Widerspruch die Todesstrafe stand, entfloh „Baumannschursch” auf einem Rade, wurde aber in Flöß von der SS eingeholt — im Wirtshause. Er verteidigte sich und erschoß einen der Verfolger, wurde aber dann ermordet. Im Stadel des Wirtes lag er, bis er abgeholt wurde. Bei seinem Begräbnisse sagte Pfarrer Schalek: „Ich kann über seinen Tod nicht reden, aus begreiflichen Gründen. Die Chronik der Stadt Neuern aber wird seiner treu gedenken.”

Georg Baumann war ein Neuerner Bürgerssohn. Er stammte aus dem Hause Nr. 64 alt, 126 neu in Unterneuern. Er war ein offener, gerader Charakter, eine rauhe Schale, ein guter Kern! Ehre seinem Andenken. Samstag, 28. April.

Radio: Über Augsburg wurde die österreichische Grenze bei Füssen erreicht. Vier Fünftel des Reiches sind in Feindeshand. Turin gefallen. Himmler hat den Amerikanern und Engländern die bedingungslose Kapitulation angeboten. Sie wurde nicht angenommen, weil Rußland dagegen war1. Bei Torgau haben sich die Amerikaner mit den Russen vereinigt2.

Aus meinem Hause sind die Familien Maier Fritz und Posluschny nach Rothenbaum abgezogen; ich blieb allein mit dem Berliner Ehepaare Wobring zurück.

Herr Schapp aus dem Russenlager erzählte von der Verhaftung des Kinoinhabers Schmied: „Ich war selbst dabei gewesen. Es erschien ein Oberleutnant im Lager und holte ihn. An Ursachen für seine Erschießung wurden mir bekannt: 1. Große Schiebungen. Der Keller seines Wohnhauses (Oberlehrer Zierhut Nr. 390, neben der Molkerei) war voller Waren, alle von Frau Härtung (Konserven, Wein usw.). 2. Er war gegen die Verteidigung Neuerns und hatte ein Programm der Übergabe ausgearbeitet, bei der


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er eine große Rolle gespielt hätte. Er hatte eine Liste von Personen zusammengestellt, die dann Neuern regieren sollten.”

Die Wlassow-Leute sind heute mit ihren Fahnen zu Fuß über Freihöls gegen Spitzberg abgezogen. Ihre Fuhrwerke zogen über Millik auf der Bezirksstraße über Oberneuern.

Zum Tierarzt Heinrich kam ein SS-Mann und forderte die Herausgabe des Autos. Der war nicht daheim. Er drohte der Frau mit Erschießen, wenn er den PKW nicht bekomme. Die Frau ging mit ihm, da war der Wagen nicht zu brauchen.

In München war ein Aufstand ausgebrochen, der aber niedergeschlagen werden konnte1.

Ich sah zwei lange Züge gefangener nordafrikanischer Truppen, die mit Mühe ihre Gepäckwagerln zogen. Ziel: über Eisenstein nach Bayern.

Nach 5 Uhr von der Bürgerschule her einige Gewehrschüsse. Dann zahlreiche Kanonenschüsse von der Grenze im Westen. Dann wieder ruhig.

Der Tag war kriegerisch nicht bewegt. Es herrschte unheimliche Ruhe wie vor dem Sturm, war der allgemeine Eindruck. Abends halb 6 Uhr begann das Schießen im Westen wieder, setzte dann aus und begann um 10 Uhr nachts wieder. Radio: Himmler hat kapituliert.

Sonntag, 29. April.

Rundfunk: Berlin dem Ende nahe. Augsburg und Landsberg gefallen. Bei Passau wurde die österreichische Grenze überschritten. Vormarsch im Raum von Pilsen. — Morgens wieder Geschützdonner. Um Mitternacht soll es einen gewaltigen Krach gegeben haben, wird erzählt. Um 8 Uhr nach Oberneuern, zu Familie Blau. Am Wege dahin sagte mir der Magazineur der optischen Fabrik Holub: „Heut wird es noch spaßig werden!” Bei Blau wird eben die kleine Sigrid gebadet. So gegen 9 Uhr kracht es. Das erste Geschoß hat oben bei der Kirche eingeschlagen. Ich sagte: „Geht in Euern Keller!” Und nun Krach auf Krach! „Jetzt muß ich heim!” Trotz besorgter Warnungen lief ich heim, durch das Geschützfeuer, das über mir wegging. Beim Trafikhäuschen Neuberger schleuderte mich der Luftdruck eines nahen Einschlages an das Häuschen. Ich hatte nicht mehr weit heim. Wobrings saßen bereits im großen Keller in den Rohrstühlen. Ich war sehr blaß. Ich machte Licht, stellte Stühle bereit, auch Werkzeuge. Wobrings nahmen ihr Frühstück im Keller ein. Um halb 10 Uhr war Geschützpause. Ich sah hinaus, sah Leute mit beladenen Karren in den Wald hinauf flüchten. Nach 10 Fortsetzung des Feuerns, batterieweise, immer sechs Schuß nacheinander. Abschuß, zählen bis fünf oder sechs, dann Zischen über dem Dache und Einschlag.

Der Tag war kühl, bedeckt, ohne Sonne. Die elektrische Beleuchtung versagte schon nach den ersten Einschlägen um 9 Uhr. Um halb 11 hinauf, gegen Westen gesehen. Auf dem Spital wehte die Fahne des Roten Kreuzes.


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Nachmittags: Als alles still war, wagten wir uns ums Haus herum und sahen die eingeschossenen Fenster. Draußen blühen die Bäume so schön.

Vor halb 12 kam Dr. Behrens, brachte einen elektrischen Rasierapparat, auch wieder die elektrische Bratpfanne. Die Leute vom Lager sitzen alle getarnt am Waldrande, auch der Pastor, Herr von Seck, mit ihnen. Der Ami, meinte er, kann 5—6 km entfernt stehen. Das war bisher nur leichte Artillerie.

Es laufen wieder Leute dem Walde zu, an unserem Haus vorüber, zuerst Herr Horalek mit seiner Frau, dann kamen sie herdenweise.

Unterdessen waren die Geschütze näher herangerückt. Vor l Uhr zwei Schüsse: Bum, bum, dann Geräusch und schon Einschlag. Die Schüsse zischten und rauschten über unser Haus hinweg. Dann zwei Bumser auf einmal, dann drei, vier, ganze Salven. Das war ein Sonntag!

Dann wieder längere Pause. Jetzt werden wohl die Panzer schon einfahren. Es kommen Flieger, Beobachter. Dann wieder Schüsse, wieder Flieger, wieder Beschießung. Nun schon mit Bordwaffen, ein Regen kleiner Kaliber aufs Dach, als ob ein Sack Erbsen darüber ausgeschüttet wurde. Ein Schuß, dann wieder Kleinfeuer.

Wir sitzen im Keller, gehen dann in den Pausen hinauf. Nach einem Schusse sehe ich hinter dem Hause des Schlossers Karl eine braune Staubwolke aufsteigen. Vor halb 2 ein Schuß, daß das ganze Haus erzittert.

Wir essen als Mittagsmahl gemeinsam Kartoffeln und dazu eine Konserve, die uns Herr Schapp gebracht hatte.

Gegen 3 Uhr folgte direkte Beschießung durch Panzer, dann Maschinengewehre, unendliches Klopfen, dazwischen Kanonenschüsse und Kleingewehrfeuer. Nun Pause. Wir gehen hinauf und sehen Panzer die Glashütter Straße herunterfahren, nach allen Seiten schießend.

Schon unsere Alten hatten immer erzählt, daß nach Neuern der Feind immer über St. Katharina und Glashütten heruntergekommen ist, schon zur Schwedenzeit.

In unser Viertel bog kein Wagen ein.

Auf der Glashütter Höhe brannten Häuser, so beim Schneiderbauer, alles hellauf. — Endloses Maschinengewehrgeratter aus der Stadt zu hören: Die Panzer rollten durch die Straßen und schossen in alle Fenster.

Als dann das Schießen verstummt war, wagten wir uns aus dem Hause und schauten uns die eingeschossenen Fenster der Westseite an.

Ich hängte ein weißes Tuch auf der Straßenseite oben aus dem Fenster.

Von Vorübergehenden erfuhr ich, daß das Licht überall ausgegangen sei. Die Tochter des Dienstmanns Tomann machte mich darauf aufmerksam, daß das Aushängen weißer Tücher bei Todesstrafe verboten sei.

Ich darauf: „Wäre das den Amerikanern nicht recht?”

„Nein, aber der SS, die hat es doch verboten!”

Ich sagte: „Jetzt sind die Amis da, die haben Neuern erobert, da hat die SS nichts mehr zu sagen!”

Es kam aber anders; die Amis hatten nur einen kurzen Besuch gemacht.


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Sie trauten dem Wetter nicht und fuhren wieder ab.

Hauptmann Schneider und Zollsekretär Ödbauer kamen vorbei und sagten, es brenne irgendwo in der Stadt.

Man sah Amis mit schußbereitem Gewehr die Glashütter Straße hinaufgehen, einer vorsichtig hinter dem ändern. Man sah Männer mit Tragbahren gegen das Spital hinaufgehen, diese dann wieder niederstellen und weglaufen, wenn geschossen wurde. Mehrere Schüsse. Alles rennt wieder auseinander. Dann nahmen die Männer die Bahre wieder auf und trugen sie weiter. Der Horalek rannte bei uns vorbei, zurück, der Stadt zu, drehte sich plötzlich um und schrie: „Die schießen ja!”

Die Erlösung aus dem Keller und die überstandene Gefahr feierten wir, indem wir Drei jedes ein Stamperl Schnaps tranken und nachher schwarzen Kaffee zur Beruhigung von Herz und Nerven. Beim Nachbar Watzlik stand das Haus leer, sie waren alle bergauf geflüchtet.

Um 5 Uhr ging ich nach Oberneuern.

Es brannte die Optische Fabrik, lange vorher hatte sie leicht geraucht. Es brannte auch das alte Schulhaus (Parteigebäude). Die Leute waren entsetzt, weil die Amis wieder abgezogen waren. Sie kämen aber wieder, ein paar Tage später. Da, fürchtete man, werde Neuern nicht geschont bleiben. Oberneuern war ein Bild der Verwüstung. Vor dem Glasergeschäft Altmann sah ich drei Tote auf der Straße liegen. Es werden Tote und Verwundete getragen, die ersteren hinauf in den Freithof, die ändern ins Spital. So eine tote alte Frau, eine jüngere Frau verwundet aus dem Pfarrhofe herunter. Der Gärtner Otto Schramek war bei seinem Glashaus getroffen worden, hatte beide Füße weg, war tot. Beim Nachbar Mühlgirgl (Baierl) hatte ein Treffer die Westseite des Hauses eingeschlagen. Die Leute rennen kopflos und wie närrisch herum.

Bei Blau Nr. 16 ging ich durchs Haus, es war menschenleer, voller Glasscherben, die Scheune durch einen Volltreffer zerstört, die Leute saßen, vor Angst zitternd, im Stall. Kathi war schon fortgelaufen, um mich zu suchen, denn sie meinte, ich müßte auf dem Heimwege vormittags getroffen worden sein.

Frau Blau, die Schwägerin, Witwe meines Bruders Eduard, wollte mit ihrer Schwiegertochter und dem Kinde in den Luftschutzkeller im Pfarrhof. Ich schob den Kinderwagen hinauf, die ändern wankten nach, es war dort alles überfüllt, alles voll Kranker und Verwundeter.

„Ihr müßt zu mir, da ist Platz genug!” Ich schob den Wagen mit der Kleinen, ein halbes Jahr alt, durch die Gasse beim Gasthof Haas hinunter, über das brennende Brücklein bei der Optischen Fabrik, die in Flammen stand, vorbei über die Angelbrücke und zu uns. Die Nichte Thilde (Lehrerin, Frau meines Neffen Franz, der eingerückt war) war krank, ebenso ihre Schwiegermutter; wir betteten die erstere aufs Sofa im großen Zimmer und richteten im Keller (in der Waschküche) Lager her, zuerst Verdunkelungspapier aufgebreitet, Matratzen und Betten darauf. Die Inwohnerin aus Nr. 16, Frau Bechler mit ihrer Tochter Anna waren mit mitgekommen und halfen überall mit. Wir Gesunden machten uns die Lager im großen Keller.


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Dr. Behrens kam abends wieder, brachte Konserven, Wein, Kerzen und Zünder. Auch Frau Wobring gab er zwei Konserven. Ich dankte ihm, dem Freunde in der Not, und nannte ihn einen Engel, da er mit einem grüngefleckten Tarnmantel behängt war, dessen Flügel wehten.

Wir verbrachten die Nacht im Keller. Dabei hörten wir immer wieder Schüsse aus der Ferne.

Die Brände und deren Ursachen: Als die Panzer von Glashütten wegfuhren, gegen Neuern, wurde aus einem der ersten Häuser der Gruppe auf der Höhe mit den Nummern 432 und 298, 299 (Weberbauernhäuser) aus dem Fenster der Wohnpartei Z. eine Panzerfaust auf einen amerikanischen Panzer abgeschossen. Darauf eröffneten die Panzer das Feuer gegen die Häuser zu beiden Seiten der Straße, und es brannten zwei der Weberbauernhäuser ganz aus, ein drittes links vom Wege und das ganze Anwesen, Haus und Scheuer des Schneiderbauern Augustin Nr. 537.

Aus der Optischen Fabrik soll der Gl. geschossen haben, worauf auch diese in Brand geschossen wurde.

Das Parteihaus kam in Brand durch den Beschüß.

Beim Froschbauern in der Reichsstraße brannte eine Scheuer weg. Das entsetzte den Hofbesitzer Nr. 107 alt, 208 neu, Karl Pscheidt derart, daß er sich erhängte.

In Oberneuern schoß aus dem Hause 17 neu (Schramek) ein SS-Mann, der sich später durch den Hof von Nr. 16 flüchtete und von einem Ami vergebens verfolgt wurde. Dann gab es noch Schießereien beim Kriegerdenkmal und in der Nähe der Schmiede in Uuterneuern.

Es äußerte sich starker Unwille des Volkes gegen die „Helden”, die Neuem so schwer geschadet hatten.

Von den Häusern war das Haus des Glasers Altmann, Karl, Nr. 25, so schwer beschädigt, daß der Einsturz der Vorderseite drohte.

Montag, 30. April.

Ich machte um halb 6 Licht im Keller und ging in die Wohnung hinauf, Frau Wobring war in der Küche. Dann wurde Kaffee getrunken.

Alles fragte gestern, ob die Stadt übergeben worden sei. Niemand konnte Auskunft geben. Weht die weiße Fahne auf dem Kirchturme? Nein! Morgens um 7 ging die Nichte Kathi Blau mit den Bechlerweibern ins Haus Nr. 16, und sie holten hier allerlei Dinge: Wäsche, Zucker, Mehl, Verbandzeug für die kranke Thilde usw. Kathi hatte viel Angst; sie hatte ja viel Not in dem kalten und engen Stalle ausgestanden. Am meisten hatte die Verborgenen der Schuß erschreckt, der ihnen das Dach des Stalles über dem Kopfe weggerissen hatte. Dies war erst bei der Beschießung am Nachmittag geschehen. Es hatte da viel Staub und dicke Luft gegeben, daß sie alle kaum atmen konnten. Oberneuern war mit seinem weithin sichtbaren, hochragenden Turme das Hauptziel der Beschießung gewesen. Die Hauptstraße war erst durch den Beschüß der durchfahrenden Panzer an den Fenstern beschädigt worden. Beim Geschäft Tauscher (Nr. 188) war das ganze Geschäft zerstört und durch einen Schuß


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das ganze Schaufenster auf die Gassen hinausgerissen worden (Angelzeile), und dann wurde alles geplündert.

Aus dem Hause der Partei (Nr. 53, alte Schule) war eine Menge von Vorräten während des Brandes herausgetragen worden, besonders Konserven. Die Flüchtlinge haben sich dabei besonders hervorgetan, es war doch alles herrenloses Gut!

Der Tomanschneider (Dienstmann) erzählte von gestern: „Man kann doch nicht von mir verlangen, daß ich mit meinen 8 Männlein Volkssturm 7 schwere Panzer arretieren kann, noch dazu ohne Waffen! Dafür haben sie mich mit meinen Leuten verhaftet. Sie waren sehr anständig zu uns und ließen uns wieder laufen. Dafür nahmen sie den Oberleutnant fest, der beim Bäcker Zierhut war. Den Patzer hat ein Feldwebel gemacht, der beim Wirtshaus Schreiner (Nr. 167) auf einen Panzer schoß. Der ist ihm dann nachgefahren bis zum Lerachschmied hinunter (164), und dort haben sie tüchtig ins Haus hineingepfeffert, daß es dadrin verwundete Kinder und Weiber gegeben hat; es sind gut hundert Schuß gefallen dabei.”

Gleich der erste Schuß fiel gestern in den Friedhof. Es war während der Frühmesse. Dabei wurde ein Fenster beschädigt durch einen Steinsplitter. Beim Verlassen der Kirche traf es mehrere Leute. Aus Millik drei, darunter den Christibauern Stockinger, der um einen Fuß kam, dann die Pfeffermüllnerin und eine Frau Geiger. Niemand weiß Genaues über den Verlauf der gestrigen Vorgänge. Die Frau des Fachlehrers Baumrucker führte ihren Sohn an der Hand. Der fiel plötzlich um, ein Granatsplitter hat ihm den Hals durchsägt. Der Bäcker Max Müller wollte besorgt seiner Tochter entgegengehen, der bekam einen Granatsplitter in den Bauch und starb daran. Der Peternbauer Größl (Ausgedinger) aus Chudiwa (in meinem Alter) starb erst später an einer Bauchwunde. Auf der steinernen Brücke erschlug ein Treffer eine alte Frau usw.

Wird Neuern weiter verteidigt werden? Das ist die allgemeine Frage. Ich sprach zweimal mit dem Ortsleiter Major Brey. Der weiß auch nichts. Er sagte, er habe mit den Amis sprechen wollen, die waren aber über die untere Brücke und die Reichsstraße wieder über Glashütten davongefahren. Er und der Bürgermeister hatten das Nachsehen.

Verlassene Häuser wurden hie und da geplündert. Dem Hutmacher Engel, der alles in den Keller gebracht hatte und dann nach Holletitz gegangen war, wurden alle Betten, Kleider usw. gestohlen. Nur ein leerer Koffer soll ihnen geblieben sein.

Die Molkerei wurde ausgeräumt. Die fremden Frauen brachten die Eiervorräte weg; jemand soll sich fünf Kisten geholt haben. Kathi schöpfte sich zwei Liter Rahm ein und holte dann noch Magermilch. Niemand war da zum Einkassieren.

Dem Zipser Deutschen, Herren Tenzer, der im Hause 16 wohnt1, wurden


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zwei goldene Uhren, Ringe und anderes gestohlen, derweil er mit den Seinen außer Hause war.

Halb 3: Draußen donnern in der Ferne die Kanonen. Sonnig und kühl. Der Ortsleiter Major Brey geht zu einer Sitzung der NSV, die die Versorgung der vielen Flüchtlinge organisieren soll. Er klagt über den Mangel an Mitarbeitern. Über die Lage weiß er nichts, die hängt vom Verhalten der Amis ab, deren Absichten ihm nicht bekannt sind.

Um 5 Uhr nachmittags übernahm SS-Oberleutnant Poppen (im Russenlager) das Kommando. Heute ist um 5 Uhr die Sitzung, in der über die Übergabe entschieden werden soll. In dieser Sitzung wurde aber nur über die Versorgung gesprochen.

Gestern war die Daumentischlerin Altmann auf dem Friedhof gestorben, einige sagen vor Schreck, andere, es hätte ihr den Kopf abgerissen. Es fiel gestern beim Weg aus der Kirche der 16jährige Sohn des Postbeamten Grandl. Den alten Wenzel Wallisch traf es auch, er war sofort tot.

Viele Leute laufen zum Wald hinauf, Decken unterm Arm oder sonst bepackt. Gerücht: Neuern hat 24 Stunden Frist zur Übergabe — wenn nicht, so wird es in Schutt und Asche gelegt.

Eine bekannte Frau (Seemann) zieht ein Wagerl zum Förster Schöttner hinauf, wo sie übernachten wird. Sie warnt mich eindringlich, nicht in Neuern zu bleiben.

Gärtner Seidl wandert hin und her, sucht und findet allerlei Spuren der Beschießung an Zäunen, Mauern und auf der Erde und sammelt dabei Granatsplitter.

Hinter meinem Garten auf der Wiese ein Loch von einem Einschlag. Im oberen Zimmer, Westseite, Schuß durch ein Fenster, zwei Scheiben zertrümmert in der Wohnung Wobring, Loch unter der Decke, das kleine Projektil war zurückgesprungen, fand sich beim Fenster unterm Sofa.

Veranda: Mehrere Scheiben hin (vier), von Norden, von der Straße her war ein Granatsplitter durch die Holzwand gedrungen, dann durch eine zweite Holzwand, wütete dann unter Holzstäben (Skistöcken) und Papperollen, schlug eine Grube in der Westmauer und fuhr wieder durch eine dritte Holzwand in den Raum der großen Veranda, wo er einen Liegestuhl zerriß, dann durch ein Südfenster gegen Watzliks Haus hinüberflog, usw.

Nachmittags starker Donner im Nordwesten. Neumark? Fortdauer bis abends.

In der Optischen Fabrik: In den Brandruinen gab es nachmittags einen furchtbaren Krach. Es war ein Stück Zwischenmauer eingestürzt und auf die Schienen der Decke gefallen. Das Brückl über dem Gerinne ist halb weggebrannt, auch die durch und durch nasse Wontrack hatte gebrannt. Ich erinnerte mich an die Erzählung von dem Mühlbrande 1862, wo auch das Holzgerinne gebrannt haben soll. An einem Fenster der Ostseite der Mühle (Fabrik) war das Glas geschmolzen und hing wie kleine Eiszapfen herunter. In Oberneuern hatten mehrere Häuser von dem Brande Feuer gefangen, konnten aber gerettet werden, während die nahe stehenden unberührt blieben (wie 1862).


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Die Feuerwehr hatte am Parteigebäude gelöscht, an der Fabrik nicht, die für Neuern wichtiger war und früher angefangen hatte zu brennen und wo das Feuer hätte anfangs leicht erstickt werden können. Da war eben die Gefahr größer wegen der Beschießung.

Der Totengräber zählte mir 14 Tote auf.

Abends waren wir zuerst im Keller; ich ging aber bald hinauf und schlief in meinem Zimmer.

Ganz Neuern ist ausgewandert — in alle umliegenden Orte, besonders in die höher gelegenen und südlichen: Freihöls, Hochwies, Waldwiesen, Bayereck, Dörrstein, Hinterhäuser. Watzlik sen. war diese Nacht daheim, die ändern im Forsthause bei Bayereck.

Vor 8: Während ich die Notizen schreibe, sehe ich Leute bergwärts eilen. Ich bleibe bei den Meinen und gehe, wenn es sein muß, mit ihnen zugrunde. Im Keller bei mir fühlen sich die Verwandten wohl und sicher. Das Haus wurde ja immer überschossen.

Dienstag, 1. Mai.

Gerücht: In Neuern seien zwei deutsche Panzer; je zwei andere sind gegen Eisenstein und Glashütten durchgefahren.

Ich traf motorisierten Arbeitsdienst; ihrer 20—30 fahren gegen Freihöls, wo eine Panzersperre an der Bezirksstraße ist und Soldaten eingegraben waren. Dorthin war schon ein Wagen mit Panzerfäusten gefahren.

Diese Arbeitsdienstleute kamen um 11 zurück und fragten nach der Straße nach Drosau.

Um 10 Uhr starker Geschützdonner.

Gerücht: Neumark sei abgebrannt (wahr), Neumark gestern in Flammen gestanden (nicht wahr).

Neuern wandert aus. Auch Vieh wird weggetrieben. Dem Schneiderbauern auf der Höhe ist alles verbrannt, auch das Vieh im Stall. Die Flüchtlinge stehlen sehr viel in den leeren Häusern.

Es fehlen Särge. Man sagt, die Leute müssen sich ihre Toten selber eingraben.

5 Uhr nachmittags Feindalarm. Glockenläuten. Alles rennt gegen den Wald hinauf, wir in den Keller. Blinder Lärm: Die Amis waren nur bis Spitzberg gefahren, um die englischen Diplomaten abzuholen. Diese waren dort sechs Jahre lang interniert gewesen.

Abends war vollständige Ruhe.

Diebe gehen herum, plündern verlassene Wohnungen, die Kaufläden; sie suchen vor allem Lebensmittel. Der Volkssturm bewacht die Geschäfte. Die Molkerei ist geschlossen, Leute kommen um Milch, warten vergeblich.

Die Narren, die allein gegen die Amis aufgetreten waren, haben viel Schaden angerichtet. Sie sind nicht auffindbar. Im Spital: Der Barackenanbau war mehrfach durchschossen. Die Kranken waren in den Keller gebracht worden.


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Die Amis sprachen mit den gefangenen Franzosen. Sie hätten Neuern bei ihrer Durchfahrt nicht beschossen, wenn sie nicht angegriffen worden wären. Die SS war beim Angriff der Amis meist in die Wälder geflüchtet.

Vor sieben abends war das Begräbnis des Max Müller (Bäckermax). Der Mann hatte früher bei jedem Rummel dabei sein müssen, nun ist er ein Opfer seiner Neugier geworden. Er war auf einem Mistwagen hinaufgefahren worden zum Friedhof. Um 7 wurde sein Verwandter Wenzel Wallisch begraben. Der hatte den Leichenwagen. An den Begräbnissen nahmen nur die nächsten Verwandten teil. Wir gingen bald zu Bette. Im Keller blieben nur die zwei Mädchen mit der kleinen Sigrid.

Mittwoch, 2. Mai.

Das Haus des optischen Arbeiters Swoboda (früher Grouwaschneider) Nr. 12 ist übel zerschossen; es fehlt der ganze Dachstuhl. Von der Optischen Fabrik ist nur das große ehemalige Mühlgebäude weggebrannt. Das neuere Haus (Buen retiro) mit den Kanzleien blieb unversehrt, ebenso die niedrigen Baracken. Gang durch Neuern vormittags. Auf der Betonbrücke Einschlag, Blutspuren, wo es auf der Westseite die Frau erschlug. Hier und da sind die Fenster mit Brettern verschlagen. Landwirtschaftskasse: Einschlag durchs Fenster, die Schreibmaschine zerschlagen. Der Ringplatz in Unterneuern ist ganz unbeschädigt. Viele Leute. Es wird erzählt, der Führer sei tot, Dönitz sein Nachfolger, Mussolini erschossen.

Bei der Rathaus-Ecke eine Beratung: Bürgermeister Fritz Fremuth, Gendarmeriemeister Unertl, Stadtinspektor Hackl und andere Männer. Der Bürgermeister schreit aufgeregt, er habe keine Hilfe von keiner Seite, es sei niemand aufzufinden. Ich ging weiter und grüßte nicht einmal hin.

Bei Rupprecht im städtischen Elektrizitätswerk: Der schimpft furchtbar auf den Führer und die ganze Räuberbande. Alles war von Anfang an ein Bluff, angefangen vom Brand des Reichstagsgebäudes in Berlin und dem angeblichen Attentat in München. Wo sich der Bande Gegner zeigten, wären sie sogleich unschädlich gemacht worden. Wir hörten Radio. Die Meldung vom Tode des Führers im Kampfe in Berlin1. Aufruf des Dönitz an das deutsche Volk und an die Deutsche Wehrmacht.

Rupprecht machte mir ein starkes Blech zurecht, für die Tür im Hause 16, damit sie versperrbar wird. Auf dem Heimwege starke Kanonenschläge im Westen.

Aus Rothenbaum war Besuch gekommen. Man hatte die Beschießung Neuerns mit dem Feldstecher verfolgen können.

Der Arzt Dr. Greissinger war mit dem Rade in Neumark gewesen. Er berichtete von der Zerstörung dieses Ortes. Brandbomben! Die SS war im Gutshof; auch aus den Höhen hinter dem Tannaberg war gegen die Amis gefeuert worden.

Daheim angekommen war das Licht wieder da!

Im Pfarrhof um einen Ballen Betten, der dort verwahrt war (aus Nr. 16). Pfarrer Schalek erzählte, daß heute noch Neuern übergeben werde, aber erst nach einer kleinen Schießerei. Er weiß das von SS-Oberleutnant Poppe.


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Daheim traf ich die Schriftstellerin Mönch. Ich mußte ihr für ihren Hausherrn, Oberlehrer i. R. Wenzel Skalitzky, der nicht aus dem Hause kann, Neuigkeiten aufschreiben.

In Neuern werden Aufrufe ausgeteilt zur Herstellung der Ordnung, Niederlegung der Waffen des Volkssturms, Eröffnung der Betriebe, behelfsmäßigen Herstellung der Häuser. Vom Stadtkommandanten Poppe. Half nicht viel.

In Chudiwa waren amerikanische Panzerspähwagen und teilten Schokolade an die Kinder aus.

Die Leute sind noch nicht beruhigt. Bis gegen Abend war der Schnee zum größten Teil weggeschmolzen. Donnerstag, 3. Mai.

Morgens das Radio wieder hergestellt. Schlimme Nachrichten: Berlin und München erledigt. Hitler und Göbbels haben Selbstmord begangen. In Italien ist der Krieg zu Ende1. Eine Million Gefangene. Im Westen eine Viertelmillion Gefangene, darunter 150 Generale und Admirale.

Viele Leute wandern wieder langsam nach Neuern zurück, um nach ihren Sachen zu sehen.

Der Bäcker Altmann, der auf dem Erlhof in St. Katharina ist, wird heimberufen, um die Bäckerei wieder zu eröffnen, da ihm sonst der Betrieb aus der Hand genommen würde. Die Botin lief aber wieder heim, als sie bereits auf der Saueben war und auf der Glashütter Straße starkes Schießen hörte.

11 Uhr: Drei starke Bomberverbände überfliegen Neuern, halb 12 — neue Bomber in der Richtung Pilsen. Und wieder neue Wellen.

Hitler genießt keinen guten Nachruhm: „Wir sind belogen und betrogen!” sagen die Leute.

Überall auf den Straßen kehrt man vor den Häusern Glasscherben zusammen auf den Gehsteigen.

Im Rathaus lange Schlangen vor den Kartenstellen.

Die Städtische Sparkasse kann nicht eröffnet werden, weil die Beamten abwesend sind. Direktor Kreibich liegt krank in Unterneuern bei seinem Schwager Gobes (Nr. 129). Ich traf meinen ehemaligen Schüler Kautnik (nun Auborsko), der mir eine starke Schnitte Fettbrot aufdrängte. Ich ließ es mir daheim gut schmecken.

Über Klattau waren gestern Tiefflieger: 24 Tote.

Die deutschen Beamten des Landratsamtes sollen ihre Stellen wieder antreten. Sie kommen nicht, da es keine Verkehrsmittel gibt.

Dreiviertel 2: Geläute, Feindalarm. Man fürchtet Bombenabwürfe.

Es herrscht große, ängstliche Spannung.

3 Uhr. Man hört Panzer rollen, dann nichts mehr. Halb 4: Kanonenschuß von Westen (Glashütten) her, nach fünf Minuten ein zweiter Schuß, vor 4 Uhr Schuß auf Schuß, ganze Salven im Süden. Kampf an der Hammerer Straße, bei den Spiegelschleifen, gegenüber Freihöls. Kampf um die Panzersperre. Über Freihöls kreuzen sich die Geschosse, die der SS


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vom Rantscher herunter, die der Amis von der Straße hinauf. — [Nachtrag:] Ein Freihölser (der Wagner Alois Kolmer) erzählte als Augenzeuge dieser Kämpfe mir am 20. 5.: Auf deutscher Seite kämpfte der Arbeitsdienst. Dessen Oberststurmbannführer1 ist gefallen, ferner 30 Mann. Ein Mann war hinter dem Betongerinne des Traxlerwerkes herausgeschossen auf einen amerikanischen Panzer. Der ging sogleich in Flammen auf, und die Leute verbrannten darin. Die Amis haben sie in der Nacht weggeschafft. Die Arbeitsdienstler wurden in der Nähe begraben. Am Bruckhof brannte ein Stadel nieder, auch die Schweineställe. Viel Schaden hat der Hanneshof erlitten. Er wurde dabei baufällig, auch das Hannesbäusel au der Straße. Der alte Nausch, Spiegelschleifer, verlor vor dem Hause stehend den halben Kopf durch einen Flakschuß. Er fiel um, die Hände in den Taschen, wie er dort gestanden war und gegafft hatte. —

Halb 6: Dr. Behrens kam und rasierte sich mit seinem elektrischen Rasierapparat, verbiß die Schmerzen und erzählte von einem Freunde, der in Petrowitz war mit 40 Frauen. Der war in der Nähe des Bahnhofes Neuern durch einen Schuß in Gefahr gekommen, das Geschoß war aber ein Blindgänger gewesen.

Einzug der Amerikaner.

Es war am Donnerstag, dem 3. Mai, 6 Uhr abends. Lehrer Gobes kam und rief zum Gartentürl herein: „Alle Waffen sind bis 8 Uhr abzugeben. Wer sich nach 8 Uhr auf der Straße zeigt, wird erschossen. Niemand darf Neuern verlassen!”

Um beil. 7 Uhr in die Stadt. Jeder Mensch, dem man begegnet, sagt erleichtert: „Gott sei Dank, daß endlich einmal Ruhe ist!”

Einige sagen lachend: „So, nun sind wir amerikanische Staatsbürger!”

Die Frau Girstl steht auf dem Platze beim Gasthof Haas, lacht übers ganze Gesicht, ringt die Arme und ruft: „Gott sei Dank, daß sie endlich da sind, da werden wir doch endlich Ruhe haben! Jetzt wird die ewige Schießerei aufhören!”

Überall stehen Gruppen von Leuten und Amerikanern herum. Einige rufen: „Da schaut, was sie mir gegeben haben!” und zeigen Zuckerln her. (Wahrscheinlich solche, die die Amis bei Schwecke & Haas genommen hatten.)

Bei Blau (16) war die Haustür aufgebrochen, auch die ändern Türen, beim Plündern, auch die Schränke. Es war alles durchwühlt und durchsucht. Aus dem Glaskasten war der geringe Goldschatz, der in einem Glas verwahrt war, verschwunden. Vor dem Gasthause Peter Altmann Nr. 23 stand die größte Gruppe von Leuten. Der Bürgermeister war sehr rührig, er flog nur so herum. Er schickte Boten mit weißen Binden auf die Dörfer hinaus mit der Botschaft, es solle nach 8 Uhr niemand hinausgehen. Waffen wurden in Menge abgeliefert. Ein Wagen voller Säbel und Flinten wurde dahergefahren. Die Amis zeigten sich einen Ehrendolch der HJ. Die Panzer und Spähwagen standen vor der Brücke, kleinere Wagen jagten herum.


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Deutsche Gefangene und solche aus dem Russenlager wurden genau durchsucht und ihnen alles abgenommen. Die Tschechen zeigten strahlende Gesichter.

Ein Amerikaner schaffte die Zuschauer weg, sie sollten „home” gehen. Gruppen wurden auseinandergejagt. Einige hatten negroide Gesichter, die meisten der Amis waren fesche Leute. Gleich am ersten Abend begannen bereits Mädchen, sich mit den Amis anzufreunden.

Dr. Behrens hatte sich von uns hinten hinaus durch die Lücke im Zaun entfernt — mit großer Vorsicht. Drei Wagen waren zum Lager hinauf gefahren und ließen sich dort von allen Leuten die „papers” zeigen (die Ausweispapiere). Das Schießen dauerte bis abends fort, weil im Steinbruch hinten die Panzerfäuste vernichtet wurden. Die beschlagnahmten Waffen wurden vor der Stadt draußen vernichtet. Abends Radio: Berlin ist gestern nachmittag 3 Uhr gefallen. Hamburg und Oldenburg wurden in gütlicher Vereinbarung genommen.

Bei uns wurde den Einwohnern der Ausgang von 8—10 vormittags und 4—6 Uhr nachmittags erlaubt. „Wann werden wir denn da einkaufen können?” fragen sich die Leute.

Prag wurde zur Lazarettstadt erklärt. Ganz Norddeutschland ist vom Feinde besetzt. Die Amis marschieren gegen Linz. Der alte Wobring sagte dazu: „Det kann ich nich alles jloben!” und ging kopfschüttelnd zu Bett. Robert Böhm, Architekt in Neuern, beim Bauamt in Eisenstein beschäftigt, sagte: „Es ist gut, daß sie einmal da sind. Ich habe zu tun, alle Bauschäden in Neuern aufzunehmen.”

Donnerstag nachmittags sah ich, wie zwei rohgetischlerte, nicht angestrichene Särge zum Lager hinaufgeführt wurden. Kurz darauf kam das Fuhrwerk zurück, es brachte die Särge, nun gefüllt, zum Friedhof. Ein Posten mit dem Fahrrad, dieses führend, dabei, sonst ohne jede Begleitung. Zwei alte Leute aus dem Lager waren gestorben, darunter ein Mann von 93 Jahren. — Bei den letzten Begräbnissen lagen die Särge bereits versenkt in den offenen Gräbern, zur Einsegnung bereit.

Die Amerikaner fuhren wieder ab. Warum? Freitag, 4. Mai.

Gestern waren die Amis am späten Nachmittag mit ihren Panzern wieder abgefahren.

Um halb 9 sah ich viele Leute wie besessen wieder den Häuserer Weg hinaufrennen. Was ist denn da wieder los? Ein Besuch erzählt: „Die Waffen-SS ist wieder da. Sie hat gestern die Amis überfallen und versprengt, nun wird es erst gefährlich werden!”

Neue Spannung, neue Gefahr! Es geschah aber vorläufig nichts.

Dr. Behrens erzählt, Oberleutnant Poppe sitze wieder im Rathaus. Er war gestern mittags fort und abends wieder gekommen. Die Amerikaner hätten die SS verjagt, aber nun sei sie wieder da. Gestern haben die Amerikaner mit einem Kolbenschlag im Lager die Schreibmaschine zertrümmert, die Telefonleitung abgeschnitten, alle Karabiner verbrannt.


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Es ist Ruhe, man sagt, die Ruhe vor dem Sturm. Ob die Amerikaner heute wiederkommen oder erst in einigen Tagen? Können wir denn nie zu endgültigen, festen Zuständen gelangen? Halb 3: Wieder ferner Donner. SS-Mannschaften gehen herum. Leute laufen hin und her, holen ihr Gepäck heim, andere tragen es weg.

Um 4 Uhr: Man hört wieder Schüsse fallen.

Nachtrag zu gestern nachmittag: Es wurde Neuholletitz, die Gegend um den Bahnhof und Bistritz beschossen, in Bistritz brannte ein Haus ab.

Freitag: Die SS will sich in den Zufahrtsstraßen der amerikanischen Panzer festsetzen und aus den Kellern feuern. Es sind Kämpfe um Häuser zu erwarten. Ich verbarrikadierte die Kellerfenster gegen die Straße mit starkem Prügelholz, in zweifacher Reihe.

Die Lebensmittelläden sind offen, die Molkerei, die Bäcker und Fleischer. Der Bäcker Altmann ist noch am Erlhof.

Sage: Es gab in Neuern wenige Tage einen Soldatensender „Martha” auf dem Holzplatze Fremuth. Er wurde, als sich Tiefflieger zu sehr für ihn interessierten, nach Eisenstraß gebracht. Er war anscheinend von der deutschen Heeresverwaltung errichtet.

SS-Leute krauchen hinter unserer Holzschar herum und verschwinden dann wieder.

Später sah man lange Reihen von Panzern und anderen Wagen gegen die Glashütten hinauf ziehen. Wir liefen alle bis zum Gasthaus Wieder, da kamen deutsche Panzerabteilungen aus dem Inneren Böhmens gezogen gegen die Grenze hinauf. Die Soldaten zogen in die Gefangenschaft und hatten frohe Gesichter, hatten weiße Fahnen. Die Leute sagen: „Jetzt ist der Krieg aus!”

Sechs Uhr. Ein trauriges Bild vom Untergange der deutschen Armee! Die Soldaten teilten aus, was sie im Überfluß hatten, damit es die Amis nicht kriegen: Käse, Zigarren, Zigaretten, einer warf eine schöne neue Brieftasche den Leuten zu, von ihren Wagen aus. Die Soldaten wurden von den vielen Leuten begrüßt. Sie riefen: „Wir kommen bald wieder!” oder „Wir fahren heim ins Reich!” — „Wir fahren nach Amerika!”

Ein NS-Heißsporn behauptete: „Die machen einen Angriff gegen die Amerikaner!”

Lachend klärte man ihn auf: „Sie haben ja weiße Fahnen! Der Krieg ist aus!” — der aber: „Da muß ich aufs Rathaus zum Oberleutnant!”

Es war ein großartiges, aber trauriges Schauspiel, das Ende der großen Armee. Die meisten Leute machten schwermütige Gesichter. Nun sollte erst noch das Fußvolk kommen. Das aber wanderte in die russische Gefangenschaft.

Nun begann die große Rückwanderung der Leute vom Gebirge herunter, beladen mit großen Bündeln von Betten, mit allen möglichen Fuhrwerken. Die meisten der Ausflügler kommen aber erst morgen.


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Samstag, 5. Mai.

Heute um 8 Uhr früh trat die Kapitulation des deutschen West-Heeres in Kraft1. Kopenhagen und Haag befreit. Die Russen rücken gegen Olmütz. In der Stadt wird überall aufgeräumt. Der Schieferdecker bessert Dach für Dach aus. Er hat keinen Gehilfen.

In der Angel liegen Panzerfäuste, Gewehre, Patronengurte, Munition. Die Lehrerin Fräulein Hackl kommt wohlbepackt aus Freihöls zurück. Ihre erste Frage an mich: „Wann bekommen wir die Pension?” „Wahrscheinlich nie wieder!” mußte ich antworten.

Gegen Mittag war in Oberneuern der Platz durch eine Kette von Amerikanern abgesperrt, es wurde Haus für Haus nach versteckten SS-Leuten abgesucht, aber auch sonst nach verborgenen Dingen gesucht. In der Gartenseite gingen sie schon herum.

Ein Hilfspolizist kommt ansagen: „Niemand darf das Haus verlassen und auf die Gasse, weil die Amerikaner einmarschieren.”

Weiter: „Niemand darf Neuern verlassen. Den Amerikanern ist Wohnung und Bett zu geben, wenn es verlangt wird. Wo nötig, soll man für sich beim Nachbar Wohnung suchen.” Unser Viertel blieb einstweilen von Einquartierung verschont. In Neuern hatte ein Fuhrmann erzählt, es seien Schwarze im Anmarsch. Hat sich aber als unwahr erwiesen.

Um halb 4 kamen zwei Amerikaner, pochten ungestüm an. Ich mache rasch auf, und sie fragen noch „Pistol und Foto”. Ich sage: „Welcome, gentlemen!” Sie lachen und fragen weiter: „Speak english?” — „A littl!” Im Zimmer reißen sie alle Schubladen auf. Dem einen gab ich ein Stamperl Likör, da muß ich zuerst selber nippen. Der andere darf nichts kriegen. In der Schublade des Schreibtisches liegt eine alte Taschenuhr. Die nimmt der Große ohne ein Wort an sich und steckt sie in die Tasche. Der andere entdeckt eine Schachtel mit kleinen Lichtbildern. Beide fordern nun von mir: „Foto, foto!” Sehr dringend. Ich gebe ihnen meinen alten Apparat 9 mal 12, der gefällt ihnen nicht. Im Keller suchen sie „Snaps”, finden keinen. Die oberen Zimmer waren fast leer, nur finden sie da in einem Kleiderschrank das Futteral eines Foto-Apparates. Nun fahren die zwei wie wild auf mich los, einer zieht die Pistole, ich zeige aber auf das Bild des eingerückten Neffen und sage: „This is not my home. — He is in war!” (Das ist nicht meine Wohnung! Er ist im Krieg!) Da lassen sie von mir ab. Ich war sehr aufgeregt. Die zwei gehen dann ins Nachbarhaus zu Watzliks. Hier haben sie mehr Erfolg. Die Waffe nötigt den jungen Watzlik, ihnen die in den Kohlen vergrabenen Sachen, einen Feldstecher, eine Leica u. a. auszufolgen.

Diesen selben Tag kam noch ein zweiter Besuch.

Später sah man zwei Amerikaner vorbeigehen, der eine hatte ein Mädchen um den Hals, den andern führten gar zwei Luder in der Mitte, lauter Evakuierte, keine Hiesigen.


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Abends kurz vor 10 kamen nochmals zwei Amis mit Gewehren unterm Arm. Ohne ein Wort zu reden stürmten sie durch alle Räume, sahen sich die auf dem Sofa liegende kranke Thilde scharf an, ob sie nicht ein getarnter Soldat wäre, stöberten auch oben die alten Wobrings auf, die schon im Bette lagen; erst als sie gingen, sagten sie „all right” und ich darauf „good night”, und weg waren sie.

Uhren: Bei der Bildlföhre zeigte ein Amerikaner den beiden Bäcker-Altmann-Töchtern seine beiden Unterarme, die voller Armbanduhren waren; die Fanny sagte: „Da ist auch die meine dabei!” Er streckte ihr die beiden Arme hin: „Suchen Sie!” Die Mädchen liefen aber weiter, heimzu.

Nachmittags kam eine Frau mit einem Mädchen und einem Kind auf einem Sportwagerl. Sie sucht eine Wohnung. „Und wenn es nur ein kleines Löcherl war!” Die Frau tat uns leid, wir hatten aber selber alle Räume besetzt. Wir zeigten ihr den Weg ins Lager hinauf, wo man sie aufnahm.

Das Radio meldet aus Prag: „Hier Aufstand gegen die deutsche Besatzung!” Es wurde die tschechische Wehrmacht und Polizei angerufen. In Prag hat sich ein Nationalausschuß gebildet, der die Regierung der čechoslovakischen Republik in die Hand nehmen will1.

Es folgen die Tagebuchaufzeichnungen über die Ereignisse in Neuern bis zum Abschluß der Ausweisungsaktion Ende Oktober 1946.