Nr. 26: Ausschreitungen von Prager Tschechen gegen die zum Abbau von Barrikaden eingesetzten Deutschen; Abtransport kranker Zivilisten und verwundeter Soldaten aus Prag nach Sorau in Schlesien.

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Erlebnisbericht der Frau A. L., ehemals Nachrichtenhelferin in Prag.

Original, 17. April 1952, 4 Seiten, hschr.

Im April 1945 wurde ich als Nachrichtenhelferin nach Prag versetzt. In den ersten Maitagen bekam ich, nachdem ich meine Entlassung aus der Wehrmacht beantragt hatte, meine Entlassungspapiere. Am folgenden Tage wollte ich in meine Heimat nach Schleswig-Holstein zurückkehren. Ich saß gerade beim Friseur, als plötzlich draußen auf der Straße ein Lärmen und Schreien einsetzte. Tschechische und rote Fahnen wurden gehißt. Der Umsturz erfolgte so plötzlich, daß man nicht zur Besinnung kam. Ich wollte so schnell wie möglich zum Bahnhof und stieg in eine Straßenbahn. Es fuhr aber alles durcheinander und als ich mich auf Deutsch nach dem Bahnhof erkundigte, wurde ich sofort aus der fahrenden Straßenhahn gestoßen. Zum Glück landete ich vor einem deutschen Lazarett. Deutsche Soldaten, die den Vorfall aus dem Fenster beobachtet hatten, brachten mich zunächst in Sicherheit. In einem Saal hatten sich inzwischen viele Deutsche, Soldaten,


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Frauen und Kinder, die nicht mehr in ihre Unterkunft bzw. Wohnung zurückkonnten, angesammelt.

Am 9. Mai mußten alle Frauen ohne Kinder, die Älteste war 75 Jahre, auf dem Hof antreten, ich befand mich auch darunter. Wir wurden in Arbeitsgruppen eingeteilt und dann mit erhobenen Händen bis zur Moldau-Brücke durch die Straßen gejagt. Sobald jemand die Arme sinken ließ, wurde er von den Begleitmannschaften mit dem Gewehrkolben bearbeitet. Noch schlimmer gebärdete sich der Pöbel auf der Straße. Hier taten sich besonders ältere Frauen hervor, die mit allen möglichen Gegenständen, wie Eisenstangen, Knüppeln und Hundepeitschen bewaffnet waren. Einige von uns wurden so geschlagen, daß sie zusammenbrachen und liegenblieben. Der Rest, darunter auch ich, mußte an der Moldaubrücke Barrikaden abbauen. Die tschechische Polizei bildete um die Arbeitsstelle eine Kette, doch wurde diese vom Pöbel durchbrochen, und so waren wir vollkommen schutzlos den Mißhandlungen ausgesetzt. Einige sprangen in ihrer Verzweiflung in die Moldau; auf sie wurde sofort das Feuer eröffnet. Wir sollten schwere Eisenrohre tragen, die wir gar nicht imstande waren hochzuheben. Dafür gab es wieder fürchterliche Schläge. Dann mußten wir fünf große Pflastersteine aufeinanderlegen und tragen. Von den Schlägen waren die Arme so kraftlos, daß die Steine immer wieder herunterfielen. Ein Tscheche hatte eine große Schere, und damit schnitt er uns der Reihe nach die Haare ab; ein anderer goß uns rote Farbe über den Kopf. Vorher waren mir schon vier Zähne ausgeschlagen worden. Fingerringe wurden uns mit Gewalt von den geschwollenen Fingern gerissen. Andere wieder hatten es auf unsere Schuhe und Kleidung abgesehen, so daß wir schließlich fast nackt waren, denn selbst Unterwäsche wurde uns vom Leib gerissen, junge Burschen und Männer traten uns mit Füßen in den Unterleib. Ich versuchte in meiner Verzweiflung ebenfalls ins Wasser zu springen, doch wurde ich zurückgerissen und von neuem geschlagen. Auch kann ich mich erinnern, daß ein Tscheche die Vorgänge mit einer Filmkamera festgehalten hat; zu welchem Zweck, erscheint mir bis heute schleierhaft. Als ich wieder einen Pflasterstein aufheben wollte, sah ich einen Pfennig vor mir liegen, und beim Anblick dieses Kupferpfennigs faßte ich wieder Mut. Ich kann es selbst nicht verstehen, aber der Pfennig gab mir in dieser verzweifelten Lage Hoffnung trotz Schmerzen, Hunger und Durst.

Als die Barrikaden abgebaut waren, mußten wir uns in Reihe auf der Brücke hinsetzen. Ein Grauen erfaßte uns. Für einen kurzen Moment dachte ich, daß es nun endgültig aus sei und daß mau uns der Reihe nach in die Moldau wirft. Aber der Glückspfennig hatte mich nicht enttäuscht. Wir wurden wieder mit erhobenen Händen zum Lazarett zurückgetrieben. Die deutschen Ärzte, die noch da waren, haben geweint, als sie uns in diesem Zustand sahen.

Ich brach zusammen, meine Kräfte hatten mich verlassen. Als ich zu mir kam, konnte ich nichts sehen, so war mein Gesicht angeschwollen. Auch hatte ich schwere innere Verletzungen davongetragen, abgesehen von den äußerlichen Wunden. In diesem Lazarett lag ich noch einige Wochen. Es waren keine Medikamente vorhanden. Die Verpflegung bestand aus Wassersuppen und selten einmal Brot. Für die Säuglinge war natürlich auch keine Milch


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vorhanden. Der tschechische Verwalter war jedoch ein Mensch, der uns ab und zu heimlich Brötchen und Weißbrot brachte; es war natürlich nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Er stand dabei Ängste aus, daß er nicht verraten und angezeigt wird.

Nach einigen Woche wurden wir in Viehwagen verladen und nach Sorau in Schlesien transportiert. Männer und Frauen waren in dem Wagen zusammengepfercht, ohne Decken und ohne Stroh. In den Wunden der Soldaten krochen Maden, da die Verbände nicht erneuert werden konnten. Fast alle bekamen wir die Ruhr. Viele starben unterwegs. In größeren Stationen wurden die Toten von Arbeitskommandos weggebracht. Die Angehörigen durften die Wagen nicht verlassen. Eine Konservendose diente uns dazu, unsere Notdurft zu verrichten. In Dresden brachte die Bevölkerung Verbandszeug und Lebensmittel, aber das reichte ja lange nicht aus. Einigen, die laufen konnten, gelang es, hier auszurücken.

In Sorau wurden wir ausgeladen. Am folgenden Tage jedoch wurden die Deutschen von den Polen ans ihren Wohnungen gejagt1. Ich schleppte mich auf zwei Stöcken zum Bahnhof, um über die Oder-Neiße-Linie zu kommen. Da war mir ein Russe, der etwas Deutsch sprach, behilflich. Er versteckte mich im Bremserhäuschen eines Güterwagens, brachte mir Verpflegung sowie ein Männerhemd und eine Arbeitsjacke. Trotzdem stand ich große Angst aus, doch er verhielt sich die ganze Fahrt über anständig. In Kottbus verließ ich den Zug, um nach Berlin zu kommen. Am nächsten Tag erreichte ich auf dem Dach eines Transportzuges Berlin. Von dort kam ich unter großen Strapazen im Juli 1945 in die Westzone.