Nr. 51: Vorgänge und Ereignisse in Wüstung vom Einmarsch der Roten Armee bis zur Ausweisung im Mai 1946.

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Erlebnisbericht des Lagerverwalters Franz Lammel aus Wüstung, Kreis Friedland (Isergebirge).

Original, Januar 1956, 6 Seiten, mschr. Teilabdruck.

Der Vf. schildert einleitend kurz seinen vergeblichen Fluchtversuch vor der heranrückenden Roten Armee und einige Vorfälle nach der Besetzung seines Heimatortes durch russische und polnische Truppen.

Wenige Tage später, als sich die polnischen Einheiten in unserm Gebiet aufmachten, sich in das ehemalige sächsische Gebiet zu begeben, zogen tschechische Partisaneneinheiten in unsere Dörfer ein. Diese waren größtenteils unter Führung von ehemaligen tschechischen Grenzlern und Polizisten, es war aber auch keine Seltenheit, daß sich Elemente unter sie gesellten, die früher bei der deutschen Wehrmacht gedient hatten und die jetzt irgendeine tschechische Abstammung nachweisen konnten. Eine solche Einheit zog auch in die Wustunger Fabrik ein, größtenteils in den gelblichen Uniformen des ehemaligen deutschen Afrikakorps. Ich war in der Wustunger Zigarettenfabrik als Lagerverwalter beschäftigt, die unter tschechischer Führung kurz nach der Plünderung begann, mit den Restbeständen weiter zu arbeiten. In das ehemalige Materiallager trat ein uniformierter „Tscheche”, der mich in ziemlich gutem Deutsch ausfrug, ob ich Reichsdeutscher wäre und vielerlei wissen wollte. Als er aber sogar Brocken unseres Heimatdialektes sprach, stellte ich die Gegenfrage, ob er Tscheche sei. Er sagte ziemlich langgezogen: „Halbtscheche”. Wie ich später herausbekam, war es G. N., der aus Friedland-Hag stammte und in Dörfel verheiratet war. Er wurde mit meinem Aussiedlungstransport später als Deutscher ausgesiedelt.


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Das erste, was die tschechische Partisaneneinheit ablud und ins Lager stellte, war ein Faß Powidl1. Eifler Otto meinte spaßhaft zu mir: „De Powidlbiehm sein wiedr dou.”

Als die Polen abzogen, hinterließen sie auf Stellen vielerlei Spuren, traurige Spuren. Weinende Frauen zogen umher und suchten aus den zurückgelassenen Resten noch etwas für sich zu retten. Hart getroffen hatte es den Kretschambesitzer Edmund Hanisch. Ein polnischer Fremdarbeiter, der jahrelang hier gearbeitet hatte, hatte mit seinen Landsleuten im Kretscham2 „gewirtschaftet”. Der gesamte Viehbestand war dahin bis auf eine kranke Kalbe, sämtliche Betten und Kleidungsstücke entwendet, zerrissen. Die ganze Einrichtung des Gasthauses und der Landwirtschaft war halb zerstört, mutwillig beschädigt. Hanisch Edmund selber hielt sich die ganze Zeit verborgen, und als ich ihm nach Abzug der Polen vor seinen paar Habseligkeiten und den Trümmern stehen sah, war er ein gebrochener Mann.

Sämtliche Zugtiere, besonders Pferde, wurden den Bauern entwendet. Allein der Landwirt Josi Herbig hatte seine Pferde noch, die er geschickt im Hellgraben versteckt hatte.

Bald bildete sich wie in ändern Dörfern auch in Wüstung ein „antifaschistischer Ausschuß”, um die Ordnung in die Hand zu nehmen. Anfangs war es nicht schlecht gedacht, denn der russische Kommandant war ein ziemlich rücksichtsvoller Mann. Doch als die Russen die Befehlsgewalt den Tschechen übergaben und sich in das kunstvoll erbaute Holzbarackendorf im Wustunger Tiergarten in der Nähe des Arnsdorfer Jägerhauses zurückzogen, war dieser Antifa-Ausschuß nur befehlausführender Teil des Národní Výbor. Unter tschechischer Leitung wurde jeder Deutsche auf die Gemeinde geladen und nach allen Regeln der Kunst ausgefragt. Das Tragen der weißen Armbinde wurde eingeführt, ferner das Ausgehverbot in Dunkelheit und dergleichen mehr.

Jetzt verlangten auch die damaligen Verwalter der Wustunger Zigarettenfabrik die gestohlenen Tabakbestände und Zigaretten von der Bevölkerung. Jetzt war auch die Zeit der Denunzierungen gekommen, Hausdurchsuchung folgte auf Hausdurchsuchung, und auch ich hatte sehr darunter zu leiden, weil ich samt der Mutter in der Zigarettenfabrik beschäftigt war. Als erstes wurden sämtliche Reichsdeutschen, die in der Gemeinde wohnten, mit dem, was sie gerade tragen konnten, über die nahe Grenze gejagt.

Am 15. Juni, eine Stunde vor Mitternacht, wurden die ersten Gemeindeangehörigen aus dem Bette geholt und mußten um Mitternacht beim Spritzenhäusel sein. Man sprach, es wären die sogenannten Parteifunktionäre gewesen, aber auch das traf nur zum Teil zu. Was zum Beispiel die Frau Marta Gärtner aus dem Gemeindehäusel oder die Familie Wilhelm Hirschmann (Neumkoarl Milla mit Mann) oder der Wirtschaftspächter Anton Weise großartig mit Parteifunktionen zu tun hatte, kann ja doch keiner beantworten. Frau Elisabeth Charamsa mit ihren vier kleinen Kindern tat


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mir am meisten leid. Das kleinste Kind, Helga, starb kurz nach der Aussiedlung ...

Es waren etwa 20 Dorfaugehörige, darunter auch mein jetziger Schwiegervater Josef Wohl und Ernst Halama, der mit im Haushalte der Mutter lebte. Sie wurden in die Weigsdorfer Jute getrieben, am nächsten Tag in Waggons gepfercht, nachdem man ihnen noch die schönsten Sachen abgenommen hatte. Dann schob man sie per Bahn über die Grenze in das nun von Polen besetzte Gebiet und jagte sie zwischen den Dörfern „Roamrtz” und „Nickrsch” aus den Wagen in die Hände der lauernden Polen, die den Flüchtlingen noch ihre wenige Habe erleichterten.

So bitter es klingen mag im Augenblick, aber als man von den furchtbaren Mißhandlungen in ändern Dörfern hörte und auch einige Tschechen vom Kreise von dem örtlichen Národní Výbor die Auslieferung der „Nazi” verlangten, so konnten doch diese darauf hinweisen, daß man diese schon über die Grenze geschoben hatte, und so blieb den armen Menschen doch noch die gröbste Mißhandlung erspart. Sollte dieser Gedanke wirklich von Richard Altmann stammen, so sage ich ihm heute dafür noch Dank. Richard Altmann mußte selber noch, weil er sich für verschiedene Deutsche einsetzte, trotzdem er überzeugter Kommunist war, über die Grenze fliehen, sonst hätten ihn die Tschechen mißhandelt.

Am 15. Juli, es war ein Sonntag, wurde die Hälfte der Einwohner unseres Dorfes sowie der umliegenden Ortschaften „ausgesiedelt”. Binnen zwei Stunden mußten die betroffenen Familien und Einwohner auf den Bahnhof Weigsdorf gestellt sein. Tschechische Flintenweiber und Gendarmen durchsuchten das wenige Gepäck der Betreffenden, zogen die Menschen bis auf die Haut aus und nahmen alles, was ihnen irgendwie in die Augen stach. Besonders Lebensmittel und Kleidungsstücke, Bettzeug und Schmuck wurden auf einen Haufen geworfen und mit einem Pferdefuhrwerk weggefahren. Meine spätere Ehefrau Helga, welche bei dieser Flüchtlingsgruppe dabei war, erzählte mir unter anderm: Unser kleiner Leiterwagen, mit denen wir uns unsere wenigen Habseligkeiten auf den Bahnhof gefahren hatten, wurde uns vor den Augen zerschlagen, mit dem höhnischen Satze: „Für euch deutsche Schweine ist es so gut.” Besonders taten sich dabei die tschechischen Grenzler oder Polizisten Muschikempa und Selinka hervor. Die gut 800 umfassende Gruppe der auszusiedelnden Menschen wurde dann in bereitstehende Last- und Personenwagen gepfercht. Stundenlang standen die Leute in der prallen Julisommerhitze, bis sich endlich am späten Nachmittag der Transport in Bewegung in Richtung Grenze setzte. Ebenfalls schon auf ehemaligem reichsdeutschen Gebiet wurden die Flüchtlinge aus den Wagen gejagt, dort von polnischen Soldaten und Zivilisten empfangen, die das Plündern fortsetzten und die wenige Habe noch den armen Menschen erleichterten. Erwähnt sollte dennoch werden, daß polnische Frauen in großen Kesseln Eintopf an die Flüchtlinge gaben, wo besonders viel Fleisch darin war.

Es war nun diese Zeit angebrochen, als die tschechischen „Häuslkeefer” täglich ankamen und sich die schönsten Häuser und Höfe der Dörfer aussuchten und dann hineinzogen. Es kam sehr oft vor, daß diese Tschechen


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vielfach umsiedelten und die zurückgelassenen deutschen Möbel und Kleidungsstücke zusammenstahlen und immer wieder das Schönste für sich verwendeten. Sie übertrafen sich im Bestehlen, unsere „böhmischen Brüder”, und es gab sehr wenige, die vernünftig handelten und dachten.

Der Landwirt Ernst Pradel aus Wüstung Nr. 10 wurde, als er der ersten Aufforderung nicht Folge leistete, von tschechischen Soldaten aus seinem Hofe buchstäblich mit Frau und Tochter herausgeprügelt. Als ich ihn kurz später in seiner Notunterkunft besuchte, saß er auf einem Stuhl und starrte unentwegt vor sich hin. Er starb wenige Jahre nach der Aussiedlung in Sachsen.

Die Maschinen der Wustunger Zigarettenfabrik mußten von den zurückgebliebenen deutschen Männern abmontiert und verladen werden. Sie kamen ins Tschechische. Ein Teil der Wäsche und Kleidung der bereits ausgesiedelten Deutschen wurde in den Räumen des Gasthauses Gublaß in Wüstung Nr. 4 zusammengeholt und dann in Richtung Friedland gefahren.

Ich war einer der ersten, der in der Wustunger Fabrik entlassen wurde. Aushilfsweise arbeitete ich bei einem sehr guten Bekannten in Priedlanz auf dessen Landwirtschaft mit. Eines Tages wurde ich vom Felde nach Hause geholt durch eine Verwandte. In meiner Abwesenheit waren zwei Tschechen per Auto in unserm Hause gewesen, hatten nach mir gefragt und das ganze Haus systematisch durchsucht. Als sie versteckt noch einige Zigaretten gefunden hatten, hatten sie den Stiel des Hausbesens zerbrochen und damit meine anwesende Mutter geschlagen, daß sie am ganzen Körper blaue Flecke hatte. Was nützte uns eine Anzeige, denn wir Deutschen waren rechtlos. Seit dieser Zeit schlief meine Mutter stets mit bei den Bekannten, wo ich arbeitete. Als diese Familie Bührdel am 15. 7. mit ausgesiedelt wurde, half ich in Wüstung mit meiner Mutter bei der Einbringung der Ernte, denn die deutschen Bauern waren zum größten Teil bereits ausgesiedelt. Im Frühherbst wurde ich dann ins Gebirge als Holzfäller verpflichtet, konnte es doch auf Grund meines Gesundheitszustandes erreichen, daß ich im Wustunger Revier arbeiten durfte.

Anfang August wurde wieder eine scharfe Hausdurchsuchung bei mir vorgenommen. Dabei fand man meinen alten HJ-Gürtel, ein Buch von der früheren Wustunger Jugend und eine Landkarte, welche die ehemalige Sprachgrenze der Deutschen in Böhmen stark herausstellte. Das genügte, um mich am selben Tage mit auf die Polizeistation in Priedlanz zu nehmen und dort drei Stunden lang nach Strich und Faden nach allem möglichen auszufragen. Dabei ging es auch ohne Mißhandlungen nicht ab. Dann ließ man mich Gottseidank gehen, aber ich mußte nächsten Tag aus meinem Hause, welches ein Neubau war und zog nun mit meiner Mutter in das strohgedeckte Haus Nr. 7. Der Tscheche, welcher in mein Haus zog, war ein sehr vernünftiger Mann. Er hieß Franz Morawek, aus der Nähe von Pardubitz. Er ließ mich sämtliche Kleidung und Wäsche mitnehmen, lediglich die Betten mußte ich im Hause lassen, bekam aber dafür andere von dem Národní Výbor. Es war schon einige Monate später. Ich lief etwas traumverloren durch das immer fremder werdende Heimatdorf und ging ganz in Gedanken in mein ehemaliges Haus Nr. 83 hinein. Er empfing mich


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sehr freundlich, bewirtete mich sogar und versprach mir damals, daß er auf die Sachen und den Besitz schauen würde. Doch heute ist auch Morawek nicht mehr im Hause.

Im Spätherbst bekam ich einen selbständigen Abschnitt zum Durchkämmen im Walde zugeteilt, nahm mir noch zwei junge Burschen aus dem Dorfe in den Wald zum Holzfällen mit. Kurze Zeit später wurde aber mein Arbeitskollege Josi Prade verhaftet. Man hatte herausgeschnüffelt, daß er 1938 angeblich beim Freikorps war1. Es erfolgte abermals eine Hausdurchsuchung mit einer ziemlichen Vernehmung. — Ein Glück, daß ich 1938 erst 15 Jahre alt war. — Josi Prade konnte aber im nächsten Jahre aus der Haft entfliehen.

Durch eine dumme Rederei wurden eines Morgens einige ganz junge Burschen und Mädchen verhaftet, die angeblich die Werwolf-Ausbildung hinter sich hatten, darunter Rudi Hoffmann, Rudi Bergmann aus Nr. 13 und noch einige. Nach tage- und wochenlangen, groben Mißhandlungen im Gerichtsgefängnis in Friedland stellte sich die Unschuld der Halbwüchsigen heraus.

Unterdessen hatten sich ja die Bestimmungen über die Behandlung der Deutschen etwas gelockert. Wir bekamen die Schwerarbeiterkarte mit Fleischmarken, denn Deutsche hatten bis dahin kein Fleisch auf ihren Karten, auf unsere Armbinde bekamen wir ein schwarzes P, was Arbeiter bedeutete, die Ausgehzeit für Deutsche wurde verlängert.

Zwei bereits ausgesiedelte Freunde waren eines Nachts bei mir. Früh um etwa 2 Uhr machten sie sich auf, um noch vor Hellwerden über der Neiße zu sein. Zwei Stunden später pochten Tschechen an die Tür, ich mußte aufmachen, und es folgte wieder eine Hausdurchsuchung, wobei sämtliche Dielenbretter aufgerissen wurden. Was wäre passiert, wenn sie zwei Stunden früher kamen?

Einmal empfing man mich schon, als ich aus dem Walde kam. Wieder standen zwei Wagen da. Es ging diesmal glimpflicher ab, als ich annahm. Aber acht Hausdurchsuchungen mußte ich über mich ergehen lassen.

Einmal flüsterte, mir der Leiter des Antifa-Ausschusses zu, daß gegen mich etwas im Gange sei, und ich sollte über die Grenze fliehen. Ich ließ mich wirklich einschüchtern, ging nachts über die Grenze bei Weigsdorf und auf die Neiße zu. Doch ich irrte stundenlang herum, und beim dämmernden Morgen stand ich vor einem tschechischen Grenzstein in der Nähe des Ortes, wo ich über die Grenze ging. So war ich stundenlang im Kreise herumgelaufen. Als ich am nächsten Abend wieder nach Wüstung zurückging, hatte sich nicht das geringste ereignet.

Anfang Mai, als wir in den Kunnersdorfer Tschauwäldern Holz schlagen waren, holte uns ein Bote aus dem Dorfe ab. Die Aussiedlungstransporte hatten begonnen, und ich hatte das Glück, beim ersten zu sein, der in die amerikanische Zone ging. Meine Mutter erwartete mich schon, und am nächsten Morgen wurden wir beim Jägerhaus auf Fuhrwerke verladen und in das Aussiedlungslager nach Friedland gebracht. 60 Kilo mußten wir pro


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Person haben, darunter auch die Betten. Die Sachen wurden noch von Tschechen gründlich in Augenschein genommen, und es ging noch viel verloren. Es war auch manchmal sonderbar: Ich habe fast sämtliche Sachen durchgebracht, die ich hatte, durfte mir sämtliche Papiere behalten, darunter auch meine Besitznachweise, während meine Mutter neben mir fast die Hälfte der Sachen hergeben mußte, sämtliche Papiere verlor, darunter auch die Sparkassenbücher. Von jeden Bettüberzug wurde einer genommen. Nach fast achttägigem Lageraufenthalt wurden wir in die Transport-Wagen verladen. 30 Leute in einen Viehwaggon. Mit diesen Gepäck von je 60 kg. Am 14. Mai 1946 ging der Transport von Friedland weg. Zum letzten Male sah ich im Morgengrauen das Wallensteinschloß leuchten, bis es entschwand. Heimatlos, doch glücklich, wieder ein freier Mensch zu sein, passierten wir einen Tag später die deutsche Grenze bei Furth im Wald. Mit noch 60 aus meinem Heimatdorfe wurde ich damals in einem Transport von etwa 1000 Menschen unseres Heimatkreises ausgesiedelt.

Es folgen noch Angaben über das Schicksal einzelner Personen, über einige Gewalttaten und die Ermordung mehrerer Landsleute des Vfs. durch tschechische Soldaten.