Nr. 59: Die Internierung der männlichen Bevölkerung von Saaz im Juni 1945; Zustände und Ereignisse im Konzentrationslager Nr. 28 in Oberleutens dorf bei Brüx; Austreibung der arbeitsunfähigen Lagerinsassen in die sowjetische Besatzungszone Deutschlands Ende August 1945.

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Bericht des Kaufmanns E. M. aus Saaz.

Beglaubigte Abschrift (vom Vf. ergänzt u. bestätigt), November 1945, 8 Seiten, mschr.

Am Sonntag, dem 3. Juni, ab 7 Uhr früh, sprengten tschechische Reiter durch die Stadt und trieben die gesamte männliche Bevölkerung, gleich ob Krüppel oder Kranke, alt oder jung, auf den Marktplatz. Zu einer Kundgebung, wie es hieß! Mit Gewehrkolbenhieben, MP-Schüssen und Peitschenschlägen wurden wir empfangen. Am Marktplatz war bereits ein Panzerwagen mit bemanntem MG aufgestellt. Es gab die ersten Toten.

Nach Formierung eines Zuges in Sechserreihen zogen etwa 5000 Männer von 13—65 Jahren aus unserer Stadt. Nur die wenigsten sollten sie wiedersehen, keiner mehr aber seine Wohnung.

Damals ahnte noch niemand von uns, daß mit dem Marsch nach Postelberg die „humane Aussiedlung” ihren Anfang nahm.

Nachdem in Postelberg die Funktionäre der NSDAP, Angehörige der SA, SS, NSKK, NSFK, Wehmacht, Polizei, Gendarmerie, Hilfspolizei usw. herausgezogen waren, um einer „besonderen Behandlung” zugeführt zu werden, wurden einige hundert von uns für lebenswichtige Betriebe nach Saaz, die übrigen in Arbeitslager verbracht1.

Wir kamen am 6. 6. 1945 mit etwa 800—1000 Kameraden, darunter auch 13jährige, in das Arbeitslager Nr. 28, Oberleutensdorf bei Brüx. Lagerkommandant war Karel Vlasak, unter „Zentrum-Karle” bekannt, da ehemaliger Kohlenarbeiter im Zentrumschacht Maltheuern bei Brüx.

Das Lager beherbergte früher Fremdarbeiter für das Hydrierwerk in Brüx und lag an der Straße Brüx—Oberleutensdorf, etwa eine Stunde vom Werk entfernt. Die Einrichtungen waren gut: moderne Küche, Speisesaal, Gartenanlagen, Wasserleitung, Brausebad und Waschhaus.

Als wir die Autobusse verließen und in das Lager einmarschierten, hagelten Schläge mit Gewehrkolben, Peitschen und Gummikabel auf uns nieder. Die tschechischen Posten, besonders die „Civilgarde”, benahmen sich wie Rasende.

Wir waren starr vor Schreck. Fortsetzung der Hölle von Postelberg? Warum das alles? Was haben wir verbrochen? Wir waren Deutsche, und das genügte!

So gingen wir durch das Tor des Lagers 28, das ungezählte Kameraden nur mehr als Tote verlassen sollten. „Bis der Kistendeckel auf der Nase drückt”, wie uns gleich bei der Abnahme unserer Kleidung, die wir nie


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mehr wiedersahen, angekündigt wurde. Ausgeplündert waren wir bereits in Postelberg. Jetzt mußten wir auch noch die Schlüssel und die Dokumente abgeben. Wir erhielten Sträflingskleidung, alte Uniformen; als diese nicht mehr ausreichten, wurden die Anzüge mit gelber Ölfarbe beschmiert (Hakenkreuze und KT 28 = Konzentrationstabor = KZ-Lager 28)1. Immer unter rohester Behandlung. Später wurden wir alle kahlgeschoren oder durch Haarschnitt arg entstellt („Autobahnen”, „Hundefrisur” usw.).

Nach einigen Tagen wurden die 13—16jährigen Jungen in das Lager Nr. 17 überführt.

In unserem Lager befanden sich jetzt etwa 1500 Mann aus Saaz, Brüx und Umgebung, auch einige Komotauer. Unser Lager wurde zu einer traurigen Berühmtheit, so wollte es der Ehrgeiz des Kommandanten Vlasak. Es herrschte ein System der Vernichtung durch Arbeit, Hunger und Mord.

Ich kam nach einiger Zeit in die Sanitätsbaracke. Meine Aufgabe war dort, die zusammengeschlagenen Menschen zu reinigen und die Ruhrkranken zu waschen. Zu diesem Zwecke hatten wir zwei große Holzbottiche aufgestellt, die als Badegelegenheit dienten. Der Arzt arbeitete in einem Nebenraum.

Besonders roh war die Behandlung in den ersten vier Wochen durch die Civilgarde. Ohne besonderen Anlaß wurden die Menschen schwerstens mißhandelt. So wurden eines Nachts alle Richter des Kreisgerichtes Brüx aus den Baracken geholt und mit dem gefürchteten Gummikabel (ca. 3 cm stark und 60 cm lang) geprügelt. Darunter 70jährige Männer (Landgerichtspräsident i. R. Bernhard Kunz, Landesgerichtsrat Balling, Landgerichtsdirektor Küchler, Zentraldirektor der Kohlengruben Klepsch u. a.). Ein alter Mann aus Brüx, wegen seines langen weißen Bartes von uns „Nikolaus” oder „Vater Jahn” genannt, erhielt von einem Tschechen ahnungslos einen so heftigen Schlag ins Gesicht, daß er taumelte. Dann wurde ihm der Bart abgeschnitten. Kurze Zeit darauf starb „unser Nikolaus”. Bei schweren Mißhandlungen waren nicht immer Zeugen dabei. Das wurde schon so eingerichtet. Dazu waren die Bunker, Luftschutzstollen und vor allem die Nacht da. Wir sahen aber dann die Folgen: Auf Tragbahren wurden Kameraden gebracht, noch blutend, bewußtlos, mit bis zur Unkenntlichkeit verschwollenen Gesichtern, mit Rippenbrüchen, losgeschlagenen Nieren. Die Rücken zeigten blutige Muster von der Bearbeitung mit Stahlruten. — Der Arzt sollte helfen! Narkotika gab es keine, wie überhaupt soviel wie nichts vorhanden war. Darüber später. Absude von im Lager gesammelter Arnika sollten den zerschlagenen Körpern Heilung bringen. Mehrmals kam es aber vor, daß Posten nachts in die Sanitätsbaracke kamen und einen Menschen holten, den sie tagsvorher halbtot geschlagen hatten. Solche Kameraden sahen wir dann nie mehr wieder. Auf den noch blutfeuchten Holzwollesack wurde schon vormittags ein anderer Kamerad gelegt.

Ein etwa 50jähriger Mann (Josef Körbel, stammend aus Saaz), der die Tschechen wegen seiner Beleibtheit gereizt hatte, wurde Tage hindurch


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oftmals geprügelt. Während der Mann auf den Arzt wartete, sickerte das Blut aus dem Hosenboden über den Sessel herunter. Er starb nach wenigen Stunden.

Die Civilposten, alle mit MP bewaffnet, nahmen sich das Recht, in der Krankenbaracke selbst Visite zu machen. Dann holten wir so rasch als möglich unseren deutschen Lagerarzt. Eines Tages ließ sich so ein Posten die Tuberkulosekranken zeigen und fragte, ob diese arbeiten könnten. Als dies der Arzt verneinte, befahl er kurz: „Fertigmachen!” Dazu kam noch ein 60jähriger Mann, der infolge Prügel an Gleichgewichtsstörungen litt und den Verstand verloren hatte. Sie wurden aus dem Lager geführt, der 60jährige Mann auf einen zweirädrigen Karren geladen und nachgefahren. Gegen Abend wurden diese armen Menschen erschossen. Außerhalb des Lagers sind sie verscharrt.

Der Vf. führt hier Namen und Daten dieser 5 ermordeten Männer an.

Der „Herr Kommandant” machte daraus gar kein Geheimnis und drohte manchem von uns, der nicht schnell genug arbeitsfähig werden „wollte”, mit einer unmißverständlichen Bewegung des rechten Zeigefingers.

Es folgen Namen und Daten von weiteren 2 Männern, die zusammen mit 3 anderen Unbekannten ermordet wurden, und von 15 Männern, die nach schweren Mißhandlungen im Lager und an Erschöpfung gestorben sind.

Die Vorgenannten waren mir fast alle persönlich bekannt. Das Lager war ziemlich groß und bestand aus weitverteilten Objekten. Ein Beisammenstehen oder Umhergehen im Lager war strengstens verboten. Es wurden uns daher nicht alle Ereignisse und Todesfälle bekannt. Viele schwere Mißhandlungen wurden aus Angst vor weiteren verschwiegen. Mußten sich die Kameraden an den Arzt um Hilfe wenden, so gaben sie Kohlenverschüttungen oder Ähnliches als Ursache der Verletzung an. Besonders, als die Prügel mit dem Gummikabel offiziell verboten war.

Kameraden, die außerhalb der Sanitätsbaracke starben, zu Tode geprügelt oder erschossen wurden, kamen auch nicht auf den Friedhof, sondern sind außerhalb des Lagers, an der Südwestecke, verscharrt. Wir wußten gut zu unterscheiden, was in der Nacht Schreckschüsse oder „Liquidierungen” waren. Übrigens sahen wir dann am frühen Morgen, an genannter Stelle, das Graben von Gruben.

Den Mannschaftsstand des Lagers kannte nicht einmal der Kommandant genau. Er war Herr über Leben und Tod von ca. 1500 Deutschen. Kleinste Verfehlungen wurden manchmal mit Erschießen bestraft. So nahm ein Mann einmal ein Stückchen Leder aus dem Werk mit in das Lager, um seine Schuhe zu flicken. Bei einer der üblichen Leibesuntersuchung wurde es gefunden. Der Mann mußte sich vor angetretener Mannschaft nackt ausziehen, auf einen Sandhaufen knien und wurde erschossen.

Wieviel Menschen in den ersten 5—6 Monaten starben oder umgebracht wurden, kann nicht annähernd gesagt werden.

Arbeit und Arbeitszeit: Wecken 4 Uhr früh, oft schon um 1/2 4 Uhr, Schlafenszeit ab 22 Uhr! Während dieser Zeit wurden die Menschen gejagt, mußten stundenlang stehen oder wurden gequält, niemand durfte auf


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seiner Pritsche liegen. Der etwa 4 km lange Marsch in das Hydrierwerk1 und zurück bedeutete eine weitere Qual. Die Lederschuhe waren uns abgenommen worden, die Holzschuhe verursachten schmerzhafte Wunden. Ohne Rücksicht auf Alter und Gebrechen mußten wir im Gleichschritt marschieren. Dazu mußten deutsche und auch tschechische Lieder (Kolíne ...)2 gesungen werden. Wer nicht mitsingen konnte, besonders bei den tschechischen Liedern, wurde mit Gummikabel, Peitschen und Gewehrkolben „behandelt”. Geprügelt wurde bei dem Einmarsch in das Werk, während der Arbeit im Werk, bei dem Rückmarsch und im Lager erst recht. Einfach immer. Tag und Nacht. Kopfbedeckung war weder bei Sonnenglut noch Regen erlaubt (kahlgeschorene Köpfe!).

Die Arbeiten im Werk waren partienweise eingeteilt und zum großen Teil recht schwer, so: Bahnoberbau, Ausladearbeiten, Kabelverlegungen, Abtransport von Maschinen, Aufräumungsarbeiten, Arbeiten mit Teer, auch Ausgraben von Bombenblindgängern (zu dieser Arbeit war einmal Oberlehrer Reut von Johnsdorf befohlen). Bis auf die letztgenannte Arbeit erfolgte jede andere unter ständigem Antreiben mit dem Gummikabel.

An Sonn- und Wochentagen Arbeitszeit: von 6 Uhr früh bis 12 Uhr mittag, 13 Uhr bis 18 Uhr. Nach Rückkehr von der Arbeit die gefürchteten Leibesvisitationen, die wie schon erwähnt immer mit Prügel und Auspeitschungen verbunden waren. Später mußte die Lagerpolizei (drei ausgewählte Deutsche) die Auspeitschungen vornehmen. Bei Schichtwechsel am Samstag betrug für die Nachtschicht die Arbeitszeit 18 Stunden, von 6 Uhr abend bis 12 Uhr mittag. Dauerläufe und im Lager Umhermarschieren, oft unter Absingen von Liedern, (mit Prügel natürlich) füllten die Zeit vor und nach der Essenausgabe aus. Der vorhandene große Speisesaal durfte nicht benützt werden. Wir mußten, an den Küchenschaltern vorbei, durchmarschieren. Bei Wind und Wetter standen wir hinter dem Speisesaal im Freien und verschlangen hungrig aus dem Blechnapf das magere Essen. Dafür spielte im Speisesaal ab August eine kleine Kapelle. Die Musik war bis auf die Straße zu hören!

Für eine Reinigung des Körpers oder der einzigen Garnitur Wäsche, die jeder seit unserer Einlieferung auf dem Körper trug, blieb natürlich keine Zeit. Verlausung war die Folge. Erst im August wurde eine Wäscherei und eine Entlausungsanlage eingerichtet, es fehlte aber an Wäsche. Zahn-


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bürsten und Seife waren uns fast 8 Wochen lang unbekannte Gegenstände. Daß die gefürchteten Nachtkontrollen unter solchen Umständen immer Anlaß fanden, wegen Unsauberkeit der Füße oder Wäsche (!) zu prügeln, ist selbstverständlich.

Invaliden und arbeitsunfähige Kranke wurden mit leichter Arbeit im Lager beschäftigt. In den Baracken lagen auch drei 80jährige Männer aus Brüx.

Verpflegung: Abwechselnd 200—300 Gramm Brot, 1/2 Liter schwarzer Kaffee morgens, Dörrgemüsesuppe mittags, Dörrgemüsesuppe abends. Das war in den ersten 8 Wochen alles. Der Hunger und die geschilderten Verhältnisse führten zu einem rapiden Kräfteverfall aller Lagerinsassen. Männer, die sich zu den Latrinen begeben wollten, brachen auf dem Weg dorthin zusammen. Es waren wandelnde Skelette, die sich aus den Krankenbaracken über den Platz schleppten.

Als sich die Leitung des Hydrierwerkes aus Leistungsgründen für eine bessere Verpflegung einsetzte, es erschien auch zweimal eine russische Kommission, war die Verpflegung für Tage besser. Auch unser Lagerarzt Dr. G. richtete ohne Rücksicht auf seine Person eine ernste Eingabe an das Militärkommando und erklärte, daß in naher Zeit die Hälfte der Männer zugrunde ginge, wenn sich die Verhältnisse nicht ändern würden. Daraufhin wurden den Suppen Frischgemüse, Bruchweizen1 und auch neue Kartoffeln zugegeben. Meistens aber blieb es bei alten, angefaulten Kartoffeln, die ungeschält in Streifen geschnitten in die Suppe getan wurden. Wir suchten uns vom Müllhaufen Abfälle, aßen Kaffeesatz, Löwenzahnpflanzen und ähnliches Unkraut. Nach der Eingabe unseres Arztes erhielten die Kranken, d. h. also die Arbeitsunfähigen, zweimal wöchentlich etwas Margarine, auch wurden 50 Gramm Fleisch pro Woche versprochen. Dafür erhielten wir verdorbene Rindermägen in die Suppe geschnitten. Ab Mitte August wurde die Verpflegung etwas besser.

Besondere Rohheiten waren Schläge mit dem Gummikabel auf die Halsmuskel, Fußtritte in die Geschlechtsteile. Ein Brüxer Eisenbahner wurde so heftig getreten, daß in der Schambeingegend eine 10 cm lange und l cm tiefe Wunde entstand. Bei Bewußtlosigkeit half der Wasserkübel. Bei der Abfuhr der Fäkalien mußte das Faß gestrichen vollgefüllt werden. Den Wagen zogen 4—5 Mann an einem Seil, 6 Mann mußten rückwärts anschieben. Die Straße aus dem Lager war ziemlich ansteigend. Unter Gebrüll der Tschechen und Schießen mit der Maschinenpistole wurde nun Laufschritt kommandiert: In großem Bogen ergoß sich die Jauche auf die rückwärts anschiebenden Kameraden. Es gab keine Seife, kein Handtuch, nur die Wäsche und die Kleidung, die jeder auf dem Körper trug. Gefürchtet waren auch Dauerläufe auf Händen und Füßen unter dauernder Mißhandlung mit Fußtritten und Schlägen; ebenso bei Dauerlauf durch das Lager, [das] Schießen vor, hinter, auch in die Kolonne. Wurde ein Mann getroffen, schrie der Posten nur: „Vier Mann!” Diese trugen den Verwundeten zum Arzt.


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Der Empfang für Neuankommende bestand in der Regel darin, daß sich die Kameraden mit erhobenen Händen und mit dem Gesicht einer Mauer zugewendet in die Sonne stellen mußten. Stundenlang. Vorbeigehende „Soldaten”, auch der Herr Velitel (Kommandant) stießen je nach Laune mehr oder minder heftig mit der Faust gegen den Hinterkopf. Die Folge waren gebrochene Nasenbeine und heftige Blutungen. Bei Bewußtlosigkeit half der Wasserkübel. Mancher Soldat mit englischen, russischen, amerikanischen Entlassungspapieren in der Tasche erfuhr solche Behandlung.

Krankheiten: Folgen nach schweren Mißhandlungen, z. B. Rippenbrüche, Nierenschäden, Herzschäden, eiternde Wunden, Wasserbeine; Folgen allgemeiner Erschöpfung, Phlegmonen, Hungerschäden, Ruhr, Furunkulose.

Der Kräfteverfall war bei der langen Arbeitszeit und der schlechten Ernährung rapid, zumal es sich bei den Lagerinsassen um solche Deutsche handelte, die wehruntauglich oder nicht mehr wehrpflichtig zu Hause gebliehen waren. Also alte und kranke Menschen. Ruhende Tbc-Fälle wurden aktiv.

Ärztliche Versorgung: Die Sani-Baracke mußte erst wieder eingerichtet werden. Drei deutsche Ärzte gaben sich die größte Mühe, mit den vorhandenen Mitteln zu helfen. Es fehlte aber praktisch an allem. So mußte z. B. als zusätzliches Verbandsmaterial bei stark nässenden Phlegmonen altes Zeitungs- und Packpapier verwendet werden, das erst auf dem Lagerhof zusammengesucht wurde. Bis Mitte August wurde mit Rasierklingen operiert, da kein geeignetes Messer vorhanden war. Ein bis höchstens drei Thermometer für etwa 250 Kranke. (Mehr durften nicht krank werden, oder es mußten dafür andere „gesund” werden. Diese Zahl bestimmte der Herr Velitel-Kommandant.) Zum Pulszählen mußte ein Pendel benützt werden, eine l m lange Schnur, daran ein Stein befestigt. Zwei Ausschläge zählte ich als eine Sekunde und danach den Puls. Bezeichnenderweise besaß unter den 1500 Deutschen keiner mehr eine Uhr. Erst nach 4 Wochen, also Anfang Juli 1945, konnten Schwerkranke mit Aussicht auf Besserung in das Krankenhaus nach Brüx gebracht werden, Zahl beschränkt, später nur soviel, als „arbeitsfähig” in das Lager zurückentlassen werden konnte.

Die Behandlung im Brüxer Krankenhaus war durch die deutschen Ordensschwestern und auch weltlichen Schwestern rührend gut. Aber auch die der tschechischen Ärzte, das müssen wir ausdrücklich hervorheben, war trotz besonderer Vorschriften gut und menschlich.

Seelsorge: Mitte Juli wurde dem ehemaligen katholischen Priester von Gebirgsneudorf im Erzgebirge gestattet, vor dem offenen Leichenwagen, der jeden Abend die Toten abholte, Gebete zu sprechen. Der Leichenwagen war ein rotgestrichener alter Postwagen. Darauf stand mit Kreide geschrieben (in tschechischer Sprache): Beerdigungsanstalt. Dahinter ein großes Fragezeichen! In dem ehemaligen großen Speisesaal hatten wir einen Altar errichtet. Der Priester durfte dort ab Mitte Juli an wenigen Sonntagen für die Kranken die hl. Messe lesen. Besonders ein Posten benahm sich während der Messe und auch dem Priester gegenüber in der ordinärsten Form. Später mußte der Priester die Rote-Kreuz-Binde ablegen und ebenfalls ins Werk schwer arbeiten gehen.


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Die Aussiedlung: Fast täglich wurden Deutsche, die teils auf der Straße oder in den Städten zusammengefangen wurden, in das Lager gebracht. Platzmangel zwang zur Entlassung. Inzwischen war die Zahl der vollkommen Arbeitsunfähigen auf 200 angewachsen. Ende August ging der erste Transport Kranker, Amputierter, Schwerkriegsbeschädigter in Autobussen an die Grenze. Dort wurden wir, vollkommen erschöpft, völlig mittellos, in alten Uniformen, in Sträflingskleidung, zerrissenen, mit Ölfarbe beschmierten Kleidern, noch ein Stück von der Grenze landeinwärts getrieben, immer mit dem Knüppel bedroht. Todkranke und Sterbende mußten mitgeschleift werden, weil zum Tragen wir selbst zu schwach gewesen waren.

Es folgen die Namen von 4 Männern, die gestorben sind.

Dann verließ uns der tschechische Soldat.

Wir waren ausgesiedelt! „Human ausgesiedelt”, wie von höchster tschechischer Stelle wöchentlich wenigstens einmal der Welt versichert wurde.

Beneš: „Die Aussiedlung der Deutschen erfolgt mit der gewohnten Rücksicht”;

Pierlinger (Ministerpräsident): „Die Grenzen der Humanität werden nicht überschritten.”1

Als wir bei dem Ausmarsch aus dem Lager 28 noch einmal den Blick zurückwendeten, konnten wir über dem Torbogen in großen Buchstaben den Wappenspruch der Tschechen lesen: „Pravda vítězí” (Die Wahrheit siegt). Zu beiden Seiten wehten tschechische Staatsfahnen2.


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