Nr. 61: Die Lebensverhältnisse einer Familie in Neudek; ihre Flucht in die amerikanisch besetzte Zone des Sudetenlandes und weiter nach Westdeutschland.

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Erlebnisbericht des Lehrers Willibald Ullmann aus Neudek .

Original, 31. März 1955, 5 Seiten, mschr.

Einleitend schildert der Vf. kurz seinen Lebenslauf und erwähnt, daß er das Amt für Volkswohlfahrt (NSV) in Neudek leitete.

Die Bevölkerung meiner Heimatstadt war im Kriege von 9000 bis zu 14 000 angewachsen. Dieser Zuwachs kam von den Evakuierten aus dem Ruhrgebiet, aus Leipzig und Berlin und von der Verlegung einiger Rüstungsbetriebe aus dem Altreich, ferner Kriegsgefangenen und Ostarbeitern. Zuletzt kamen auch noch Evakuierte aus Ober- und Niederschlesien dazu. Die Leute waren unterzubringen, und die NSV trug einen Großteil dieser Aufgabe. Als Lehrer wurde ich nicht mehr in Anspruch genommen. Zuerst gab es ja nur manchmal Kohleferien. Als aber die Schulen als Flüchtlings- und Durchzugslager eingerichtet werden mußten, hörte der Unterricht ganz auf.

Gegen Ende April hatten die Amerikaner Karlsbad und Graslitz besetzt1. Durch Neudek kamen täglich nur Streifen in ihren Jeeps. Ein amerikanischer Offizer hielt auch einmal eine Ansprache auf dem Marktplatz. Zum Zeichen der Ergebung mußten alle weiße Fahnen hissen. Die Eisenbahn von Karlsbad über Neudek nach Schwarzenberg verkehrte noch.

Kurz vorher waren kleinere Wehrmachtsteile durch unsere Gegend zurückgeflutet, noch in guter Ordnung; dann aber auch Versprengte, einzeln und in Trupps. Diese strebten zur Eisenbahn nach Sachsen und berichteten schon, daß sie von tschechischen Partisanen beschossen worden seien. KZler aus Sachsen durchzogen die Stadt in Richtung Osten, kriegsgefangene Russen und ukrainische Ostarbeiter wurden dorthin abgeschoben. Aus dem Osten kamen neue Trecks: schlesische Bauern mit bei ihnen beschäftigt gewesenen französischen Gefangenen, denen vor den Russen graute. Die NSV beriet, vermittelte, unterstützte wahllos alle, die in stetigem Strome vorsprachen, Landratsamt und Rotes Kreuz taten desgleichen.

In dieser Zeit kam auch meine Tochter Gertrud aus Bautsch im Ost-sudetenland, wo sie als Lehrerin wirkte, heim. Sie kam zu Fuß von Karlsbad nach Neudek, weil der dortige Bahnhof durch Bombenangriff zerstört war. Ihre Habseligkeiten, als Reisegepäck aufgegeben, waren verloren. Bald darnach flüchtete auch mein Schwager Edi Tarant aus Fischern, das die Ami den Russen überlassen hatten2, zu mir nach Neudek. Er berichtete von


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Gewalttaten der Russen besonders gegenüber Frauen. Etwa eine Woche zuvor hatten die im Erzgebirge um Neudek liegenden Wehrmachtsteile befehlsgemäß vor den Amerikanern in Neudek kapituliert. Dabei verteilten die in Gefangenschaft abgehenden deutschen Soldaten an Kinder und Frauen Schokolade und Eßwaren.

Die Schulküche in Neudek war der NSV zur Verfügung gestellt worden, um die im Gebäude der Mädchenschule untergebrachten Evakuierten und Flüchtlinge zu speisen. Am Tage der Kapitulation übernahmen die Kommunisten die Wahrung der Ordnung in der Stadt, an ihrer Spitze ein Herr Ebert, ein Herr Haschberger und ein tschechischer ehemaliger Fleischergeselle. Eine Verpflegsstelle der kapitulierenden Wehrmacht hatte einige Schweinehälften, die ja nicht mehr verbraucht werden konnten, der NSV-Küche zugefahren. Nun wiesen die Kommunisten sofort die Lagerinsasseu, darunter alte Leute und Frauen mit Kindern, aus dem Hause, nahmen die Küche mit allen Vorräten und den Schweinehälften in Beschlag und kochten für sich und ihre Wachmannschaft auf. Einspruch zu erheben wäre vergeblich gewesen.

Gleich in den nächsten Tagen wurden die ehemaligen Amtswalter der NSDAP und ihrer Gliederungen und Verbände durch Boten aufgefordert, am ändern Tage um 8 Uhr morgens vor der Polizeiwache (Altes Rathaus) zu erscheinen. Dort fanden wir den Fleischergesellen in HJ-Uniform mit umgeschnalltem Revolver als Polizeigewaltigen und Herrn Ebert ebenfalls mit Revolver. Der rief unsere Namen auf, und dann wurden wir von Kommunisten, mit Gewehr, aber in Zivil, zur Arbeit geführt. Zuerst mußten wir einen Löschteich ausfüllen und den Platz ebnen, später Luftschutzgräben wieder einebnen. Einmal war auch ein Müllplatz zu säubern und zu ebnen. Dabei fand ich unter leeren Konservenbüchsen auch eine volle. Sie hatte ein kleines Loch, und meine Kameraden meinten, sie sei verdorben. Ich nahm sie aber doch mit heim. Beim Öffnen entwickelte sie einen argen Gestank. Aber es war Schweineschmalz. Mit starkem Zusatz von Zwiebeln und Erhitzen ergab es doch ein genießbares Fett, und wir bekamen auf unsere Lebensmittelkarten damals doch nur l g täglich! Und mein jüngster Sohn war aus einem Lazarett über Bodenbach her zu Fuß heimgekommen. Tschechische Partisanen beraubten ihn um seine einzige Fleischkonserve.

Doch wieder zu unserer Zwangsarbeit. Wir bekamen nun auch angekommene tschechische Partisanen als Wächter. Es ging aber mit ihnen. Es scheinen Studenten in deutschen Afrika-Uniformen gewesen zu sein, die stolz mit umgehängten Maschinenpistolen spielten.

Unter ihrer Aufsicht wurden wir aber einmal zu schrecklicher Arbeit angehalten. Da mußten wir früher antreten, und ein Lastauto stand bereit. Auch war eine besondere Auswahl unter uns getroffen. Scheinbar warteten unsere Wächter auf einen höheren Befehl. So wurden wir erst einige Zeit auf dem städtischen Bauhofe beschäftigt. Dann hieß es aber auf einmal, schnell aufs Auto, und fort ging es nach Bärringen. Dort hieß es wieder warten. Zum Zeitvertreib durften wir Straßen kehren. Im „Bärringer Hof”


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bekamen wir ganz unerwartet ein Mittagessen, Kartoffeln und Spinat. Dann hatte es plötzlich große Eile. Wir bekamen Schaufeln und Krampen. Ich war der Älteste mit 62 Jahren und schulterte einen Krampen in der letzten Reihe. Man führte uns vom Wege ab gradaus über den Berg hinauf im Eilschritt. Ich kam nicht recht mit, da erhielt ich von hinten einen Tritt. Der kam von einem besonders echten Partisanen, den wir noch nie gesehen hatten. Auf einer Waldwiese mußten wir aus einem Massengrab Leichen ausgraben, KZler, die von SS aus einem Transporte erschossen worden seien. Schaufeln und Krampen durften wir am Anfange benützen, dann mußten wir mit bloßen Händen graben und die Leichen herausheben und in bereitstehende Särge legen. Es war ein heißer Tag. Dann mußten wir die Särge je zu vieren einige hundert Meter zum Lastauto tragen. Dabei versagten mir die Kräfte, und ein anderer mußte mich ablösen. Wohl durften wir nach dieser Arbeit unsere Hände in Lysolwasser waschen, als aber einige von uns um Trinkwasser baten und der Führer, anscheinend ein Medizinstudent, solches herbeiholen ließ, schlug der oben schon erwähnte Partisan dem ersten unserer Kameraden das gefüllte Trinkglas aus der Hand. Deutschen gebührte eben kein Trinkwasser. Dann wurden wir wieder nach Neudek gebracht.

Für einen wurde dieser Tag zum Verhängnis. Für Oberlehrer Adolf Moder, einen in der ganzen Gegend hochangesehenen Mann. Er war fünf Jahre älter als ich, also 67. Deswegen erschien er an diesem Tage nicht zur Arbeit. „Dem werden wir helfen”, sagte Ebert. Nach einigen Tagen wurde bei Moder hausgesucht und er mit einem Hitlerbild um den Hals zwischen Partisanen auf dem Marktplatze herumgeführt. Darnach kam er nach Neu Rohlau ins KZ und wurde dort zu Tode gequält1.

Ich wurde nun nicht mehr zu Zwangsarbeiten geholt, kam auch sonst fast nicht mehr in die Stadt und blieb in meinem außerhalb gelegenen Häuschen. Es kam von Pokau bei Aussig her im Fußmarsch meine älteste Tochter Berta und berichtete von fürchterlichen Greueln, die sie seit dem Einmarsch der Russen dort gesehen, und zuletzt erschien, erschöpft und abgerissen, meine Schwägerin Friedl Schleser. Sie war der Prager Hölle entflohen2, dann über Pilsen und durch Bayern nach Eger und dann nach Neudek gewandert, über den Verbleib ihres Mannes war sie ganz im unklaren. Von den Ereignissen in der Stadt und in der Welt erfuhr ich nur durch meine Frau, wenn sie mit anderen Frauen um die wenigen Lebensmittel anstehen mußte. Aus diesen Schlangen holte sich Herr Ebert diejenigen heraus, die er zu Abortwaschen und anderen erniedrigenden Arbeiten brauchte.

Wir waren nun acht Erwachsene im Hause. Die eingelagerten Kartoffeln waren verzehrt, im Garten gab es im April/Mai im Erzgebirge noch nichts, auf den Wiesen höchstens Knöterich und an Zäunen Brennessel. Um ihren Hunger zu stillen, ging eine Tochter — die Lehrerin — als Dienstmädchen zu einem Fleischer in Gibacht, die älteste als Magd zu einer alten Bäuerin nach Thierbach, und der Sohn ging als Knecht zu einem Bauern nach Scheft.


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Eine Tochter war im Arbeitsamt beschäftigt, das wunderbarerweise wie auch die große Kammgarnspinnerei in Betrieb blieb.

Durch nächtliche Streifen der Partisanen wurde die Bevölkerung in Furcht versetzt. Auch wir wurden mehrmals betroffen, wobei uns die tschechische Sprachfertigkeit der Prager Schwägeria sehr zustatten kam. Doch fehlte dann immer etwas aus dem Kleiderschrank oder aus dem Keller. Der schon früher erwähnte Polizeigewaltige, der tschechische Fleischergeselle, hat sich aus einem ändern Haushalt auf die Weise einmal mit Wäsche, Kleidern und Stiefeln sehr ausreichend versorgt.

Als die Amerikaner den Russen Fischern, links der Eger, überlassen hatten, erschienen in Neudek Anschläge zum Lobe der Roten Befreiungsarmee in deutscher Sprache, und es mußte nun anstatt weiß rot geflaggt werden. Das konnte nur so geschehen, daß aus den vorhandenen NSDAP-Fahnen das Hakenkreuz herausgetrennt wurde. Viele taten es, ließen es aber bei der weißen Fahne, weil das Hakenkreuz in den roten unverblichen hervortrat. Nun zog im Bürgermeisteramte auch ein tschechischer Bürgermeister ein. Der sperrte in der städtischen Sparkasse und in der Kreditanstalt der Deutschen sofort alle Guthaben. Ich konnte also von meinen Guthaben nichts mehr beheben, und wenn meine Töchter nicht einiges Geld mitgebracht hätten, wären wir nicht einmal in der Lage gewesen, die wenigen erhältlichen Lebensmittel einzukaufen.

Von unserem hochgelegenen Häuschen konnten wir an einem Spätnachmittag den Ein-, vielmehr Durchzug der Russen auf der Straße gegen Graslitz beobachten. Er vollzog sich sehr lärmend. Ein Troß mit mitgeführten geraubten Kühen lagerte auf einer Wiese. Ob es während dieser Nacht zu den befürchteten Ausschreitungen einquartierter Offiziere kam, weiß ich nicht. Am ändern Morgen zogen sie weiter. Die Lage wurde aber immer beängstigender.

Da entschloß ich mich, allen vermeintlichen Beobachtern einige Tage zu entschwinden. Auf Seitenwegen und durch Wald wanderte ich nach Sauersack. Ich sah nirgends Russen. Bei Neuhaus war wohl ein Schlagbaum, aber ohne Bewachung. In Sauersack gab es nur Tschechen, wie mir meine Tante sagte. Zu einem alten 80jährigen Onkel wagte ich mich gar nicht hin, weil in der Nähe die Tschechen lagen. Mit einer Flasche Milch versehen, wanderte ich am ändern Tage zu einem Vetter in Silberbach-Nancy1. Von dem erfuhr ich, daß in Silberbach Russen seien und auf der Straße nach Graslitz eine russische und gleich darnach eine amerikanische Sperre. Ich umging diese Sperren über den Hausberg und war dann bei meiner Schwiegertochter und meinen beiden Enkeln. Von ihr und ihren Eltern erfuhr ich, daß in Graslitz wohl die Tschechen die Stadtverwaltung übernommen hätten, aber großen Respekt vor den Amis zeigten und Übergriffe gegen Deutsche unterließen. Am übernächsten Tage marschierte ich über Ober-Rothau und Heinrichsgrün (von der russischen Besatzung sah [ich] nichts) nach Neuhäuser bei Bleistadt zu einem anderen Vetter. Hier wurde mir klar, daß die Amis das Zwodautal mit der links abzweigenden Straße nach Falkenau besetzt hielten.


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Als ich am nächsten Tage bei meinem Bruder in Köstldorf1 eintraf, erwartete mich, wie verabredet, dort meine älteste Tochter. Die erzählte mir, daß in den vergangenen zwei Tagen plötzlich alle Frauen und Kinder von SS-Leuten, alle Staatsbeamten, darunter die Lehrer, sich mit einer Frist von 10 Minuten zur Abreise bereitmachen mußten und dann auf Lastautos in Richtung Gottesgab zur sächsischen Grenze abtransportiert wurden. Weil wir das auch bestimmt zu erwarten hätten, seien von meinen Töchtern und meiner Frau schon Rucksäcke genäht worden und gepackt. Wenn wir Neudek schnell freiwillig verließen, könnten wir doch einige Habseligkeiten retten. In der Gaststube war auch ein aus Karlsbad geflüchteter Beamter anwesend, der bestätigte, daß das in Karlsbad, das in diesen Tagen von Amis den Russen überlassen wurde2, auch geschehen sei3.

So kam es, daß wir am nächsten Tage — einem Sonntag Mitte Juni — früh am Morgen mit einem gebrechlichen Handwagen, beladen mit einigen Rucksäcken unser liebes Blockhaus und die Vaterstadt verließen. Über Köstldorf kamen wir nach Sponsl. Ein befreundeter Gastwirt gab uns auf dem Strohboden seiner Scheuer Quartier. Am nächsten Tage wurde uns klar, daß wir ohne Passierschein nicht in die amerikanische Zone gelangen könnten. Ich und zwei meiner Töchter marschierten vier Stunden nach Falkenau und erbettelten denselben. Mittlerweile standen unser Gastwirt und meine Leute Todesängste aus, die erst schwanden, als wir am nächsten Tage wohlbehalten zurückkamen. Nun war der Weg frei in die amerikanische Zone. In Graslitz blieben wir fünf Monate. Als die Amerikaner auch dieses räumten, stahlen wir uns bei Nacht fort aus dem Heimatlande.