Nr. 62: Vorgänge in Theusing nach der Besetzung durch amerikanische, später durch sowjetische und tschechische Truppen; Verschleppung eines Teiles der deutschen Bevölkerung zur Zwangsarbeit nach Innerböhmen.

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Erlebnisbericht des Fabrikanten Ludwig Klein aus Theusing, Kreis Tepl.

Original, 26. März 1955, 10 Seiten, hschr.

Nach einigen Worten über die Kriegslage kurz vor dem deutschen Zusammenbruch berichtet der Vf.:

Man wartete täglich auf das Eintreffen von Besatzungstruppen, wohl befürchtend, es könnten die Russen kommen, denen ja ein schlechter Ruf vorausging. Es war für uns eine Befriedigung, als endlich am Tag nach


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Pfingsten, am 8. Mai, amerikanische Panzer vorfühlten, denen in Kürze der amerikanische Troß nachfolgte. Sie belegten die Turnhalle und die besseren Häuser, auch in meinem Haus sollten 21 Mann Platz finden. Nachdem sie sich von der Unmöglichkeit überzeugt hatten, begnügten sie sich mit einem Raum für fünf Mann. Ihre erste Tätigkeit waren Hausdurchsuchungen, angeblich nach Waffen, wobei sie aber Goldwaren mitgehen ließen. Ansonst waren die Amis zur Bevölkerung anständig und waren es besonders die Kinder, die rasch Freundschaft schlossen und an den Proviantausteilungen gern und zahlreich teilnahmen.

Es folgten die Tage, wo wir trauernden Herzens zusehen mußten, wie ununterbrochene Reihen Lastautos, beladen mit unseren braven Soldaten, durch unsere Stadt fuhren, um in einer hoffnungslosen Verfassung in die Gefangenschaft abzugeben. Am Vorstadtplatz mußten sie die noch im Besitz habenden Waffen und sonstigen Kriegsgeräte abwerfen, die sich bald zu großen Haufen türmten. Es war für die zahlreich anwesenden Polen ein Vergnügen, sich um die abgeworfenen Revolver zu raufen und für uns eine Befürchtung, daß sich damit bewaffnete Banden bilden werden. Daß sich bei dem Streit um die Revolver ein Pole aus Unvorsicht selbst erschoß, sei nur nebenbei bemerkt.

Nach dem halbwegs guten Einvernehmen zwischen der amerikanischen Besatzung und der Bevölkerung wirkte die Nachricht, daß sich die Amis zurückziehen, um den anrückenden Russen Platz zu machen, wie ein kalter Wasserstrahl1. Es wurde Wahrheit, russische Fußtruppen, ca. 300 Mann, marschierten ein, während die Amerikaner nahe des Waldrandes in Zelten Platz nahmen. Die Russen quartierten sich im Schloß ein, das Kommando belegte die Bürgerschule. Es kam nun täglich und besonders nächtlich zu häßlichen Szenen, und oft genug mußten amerikanische Streifen eingreifen, wenn weibliche Hilferufe in der Nacht widerhallten. Tagsüber konnte man täglich mit dem Besuch der Russen, oft gemeinsam mit den Polen rechnen, die vor allem Wodka und Spiritus suchten. Oft genug stürmten sie im betrunkenen Zustand die Geschäfte und nahmen einfach mit, was ihnen passend erschien. Ich sah Russen, die an beiden Armen zwei oder drei Armbanduhren trugen. Das Unangenehme war, daß die Russen viermal die Truppen wechselten und die Neuangekommenen abermals auf Beute nach Waren und Weibern losgingen.

Aber nicht genug daran, an einem Samstagnachmittag erschienen tschechische Truppen, d. h. zusammengewürfelte und zusammengestohlene Uniformen, die nun ihren Rachegefühlen freien Lauf ließen. Jahrelange Unterdrückung hatte bei ihnen Unmengen Haß aufgespeichert, und wir Sudetendeutsche sollten nun diese entfesselte Wut zu spüren bekommen. Noch am gleichen Tage wurden sämtliche Parteigrößen verhaftet. Spitzel besorgten, daß alle ihnen unbeliebten Männer in Haft genommen wurden. Hausdurchsuchungen kamen nun nicht von der Tagesordnung. Die noch vorhandenen jungen Leute, junge Mädchen und Frauen mußten sich täglich am Národní Výbor zur Arbeit melden. Es regnete Verordnungen, deutsche Aufschriften


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mußten verschwinden, die Gassen erhielten neue Namen, Abliefern der Radios, Musikinstrumente, Fotoapparate, Büchersammlungen usw. Die Geschäfte wurden nach Warenbestandsaufnahme geschlossen, es hatte jeder Privatbesitz in Eigentum des Staates überzugehen, was aber nicht hinderte, daß die führenden Macher sich hintenherum in den Besitz dieser oder jener Waren zu setzen wußten. Verhaftung über Verhaftung erfolgte, man war sich oft nicht klar, warum dieser oder jener fortgeholt wurde. Man wußte keinen Tag, ob man die folgende Nacht noch in seinem Bett schlafen wird. Es folgte die Abgabe von Bargeld, zuerst in RM, sodann in Kč. Es wurden Kleidersammlungen für die armen Opfer von Lidice1 durchgeführt, es wurde den aus den KZ entlassenen Juden gestattet, in die besseren Häuser zu gehen und sich daselbst Anzüge und Wäsche auszusuchen. Sie kamen in Sträflingskleidern unter Führung eines jungen Deutschen. Es durfte kein Deutscher nach 8 Uhr auf der Straße sein, die Deutschen bekamen nur die minderen Lebensmittelkarten, ohne Fleisch und ohne Fett. Wenn ein Deutscher ohne weiße Armbinde angetroffen wurde, kostete es 50 Mark Strafe oder es gab Ohrfeigen.

Es tauchten Gerüchte auf, daß die Tschechen Evakuierungen vornehmen werden. Man schenkte diesen Gerüchten vorher keinen Glauben, doch als man hörte, daß in Karlsbad bereits ganze Gassen evakuiert wurden2, mußten auch wir uns mit dem Ernst der Lage befassen. Wir trafen Vorbereitungen, was da mitzunehmen wäre, um vor Überraschungen gesichert zu sein. Und es kam der Tag. Am 9. August 1945, frühmorgens um 5 Uhr erschienen tschechische Organe, d. h. Zivilisten mit Gewehren in den Wohnungen mit dem Befehl, die Wohnung bzw. das Haus sei binnen einer Viertelstunde zu räumen. Sammelpunkt Turnhalle. Mit der Uhr in der Hand wurde auf Einhaltung der Viertelstunde gedrängt. Eiligst wurde das Dringendste zusammengerafft, wobei es unvermeidbar war, daß oft Unwichtiges eingepackt und Wichtiges vergessen wurde. In der Turnhalle erfolgte eine gründliche Leibes- und Gepäcksrevision. . . . Den Leuten wurden wahllos Sachen weggenommen und zu Bergen aufgeschichtet, von dem Wenigen, was man mitgenommen, wurde das Beste geraubt, so daß mancher mit halbleerem Koffer oder Rucksack abziehen mußte. Meine Tochter bekam Ohrfeigen, weil sie deutsch sprach und doch tschechisch sprechen sollte. Von Theusing wurden an diesem Tage 400 Personen evakuiert, Theusing zählte etwa 2000 Einwohner.

Wir wurden sodann in Lastautos nach Petschau gebracht, dort in offene Viehwaggons verladen, nach Karlsbad gefahren, wo wir den Tag und die folgende Nacht in den offenen Waggons zubrachten. Wir hatten noch immer die Hoffnung, wieder zurückzukommen, doch wir täuschten uns. In strömendem Regen landeten wir nach einer endlosen, immer wieder unterbrochenen Fahrt in der Umleitestation Lužna-Lischan. Hier wurden unter nicht zu beschreibenden Szenen die Frauen und Kinder von den Männern getrennt. Die jüngeren Männer kamen in ein Kalkwerk bei Prag, während die älteren, zu denen auch ich gehörte, etwa 50 Mann aus Theusing, nach Kolin bei


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Prag kamen. Die Frauen mit Kindern kamen in čechische Dörfer zu landwirtschaftlicher Arbeit. Sie kamen vorher in ein Lager in Rakovník, wo die Frauen von den Bauern aus der Umgebung wie auf einem Viehmarkt begutachtet und zur Arbeit ausgesucht wurden. Ältere Frauen und Frauen mit Kindern wurden verschmäht und blieben übrig, wodurch meine Frau mit zwei Töchterfamilien (ohne Männer) mit anderen wieder heimfahren konnten. Auch diese Heimfahrt vollzog sich bei strömendem Regen in offenen Waggons. Tschechische Organe wollten sie aber nicht in die Stadt hereinlassen, man ließ wohl nach langen Beratungen die vollständig durchnäßten Frauen und Kinder erst nach Stunden herein, um sie aber nicht in die eigene, sondern in fremde Wohnungen einzuweisen. Mein Haus war in der Zwischenzeit von zwei Gendarmeriefamilien besetzt.

Auch wir älteren Männer fuhren in offenen Waggons und landeten, ebenfalls in ununterbrochenem Regen, in den Morgenstunden des dritten Tages in Kolin und wurden vom Bahnhof weg, begleitet von den verächtlichen Blicken und höhnischen Zurufen der Bevölkerung, in das Arbeitslager geführt, wo wir noch am gleichen Tage mit der Arbeit beginnen mußten. Das Bargeld, das wir bei uns hatten, mußten wir sofort abliefern, mancher hatte ein kleines Vermögen bei sich, wehe, wenn einer etwas verheimlicht hätte. Wir bekamen nichts mehr zu sehen davon. So besaßen wir also keinen Pfennig, bekamen aber auch keinerlei Bezahlung für unsere Arbeit, die darin bestand, daß wir 72 Stunden in der Woche, sonntags bis 2 Uhr, mit Schaufel und Spitzhacke Aufräumungsarbeiten eines durch Bomben vollständig zerstörten großen chemischen Werkes besorgen mußten.

Wir waren in diesem Lager zirka 500—600 Mann aus Theusing, Petschau, Karlsbad, Joachimsthal, Platten, Rumburg und Warnsdorf, zumeist Kaufleute, Gewerbetreibende, Lehrer, Advokaten und Pensionisten usw., die nun die ungewohnte Arbeit verrichten sollten. Dafür gab es als Entgelt Hungerrationen, wir lernten hungern. Wie oft sah ich, daß junge Menschen, vom Hunger getrieben, aus den Abfalltonnen Kartoffelschalen heraussuchten und gierig verschlangen. Es gab abwechselnd Kartoffeln, Erdäpfel und Brambore1. Die Folge waren viele Erkrankungen mit Durchfall, so daß die Latrine unter ständiger Belagerung stand. Es gab zahlreiche Sterbefälle und Selbstmorde. Ein sadistisch veranlagter Kommandant, stets mit einer Hundspeitsche und Revolver bewaffnet, ersann immer wieder neue Quälereien Es ist mir u. a. in guter Erinnerung geblieben, als er von heut auf morgen das Einlernen tschechischer Lieder befahl, die wir tags darauf beim Antreten singen mußten. Was dabei herauskam, mag für den Zuhörer ohrenschmerzend gewesen sein. Auch der Herr „Velitel” war mit diesem Gesang unzufrieden, also mußte weiter geprobt werden. Er bemüßigte den von uns allen verehrten Direktor der Petschauer Musikschule, den Gesang dieser čechischen Hetzlieder von einer erhöhten Kiste aus zu dirigieren. Früh um 6 Uhr heim Abmarsch zur Arbeit mußten wir nun täglich singen. Bei der dünnen Schnitte Brot und etwas schwarzem Kaffee im Bauch, war uns doch gar nicht zum Singen zumute. Aber wehe, wenn es nicht nach Wunsch ging, umkehren und wiederholen, oder auch es gab 1/2 Stunde lang tiefe Knie-


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beuge. Wir waren bloß Nummern, die wir auf der linken Brustseite und am rechten Hosenbein gut sichtbar tragen mußten. Unsere briefliche Verbindung mit unseren Angehörigen, alle 14 Tage eine Karte, durfte nur čechisch geschrieben sein, bekam einer von uns etwas deutsch geschrieben, wurde ihm nur das leere Kuvert ausgefolgt. Beim Appell kam es vor, daß bei der Zählung, die 2mal im Tage stattfand, die Ziffern nicht stimmten, es gab dann Strafen für das ganze Lager. Es kam vor, daß der abends Fehlende den nächsten Morgen in einer Ruine aufgehängt vorgefunden wurde. Ich entsinne mich eines Falles, als ein junger Mann aus Nordböhmen das Antreten versäumte, vom Kommandanten mit der Faust so oft zu Boden geschlagen wurde, daß er an der erlittenen Gehirnerschütterung am nächsten Tag verstarb. In einem anderen Fall trieb er einen Professor aus Joachimsthal, der wegen einer Krankheit allein am Dachboden schlief und die Zeit des Antretens verschlafen hatte, mit der Hundspeitsche über die Treppen. Die Aufsicht bei den Arbeiten versahen bewaffnete Soldaten, die abends beim Appell Meldung machten, in welcher Gruppe nachlässig gearbeitet wurde. Der betreffende Gruppenführer, von uns selbst bestimmt, mußte dafür büßen, indem er 15—20 Stockhiebe auf den Hintern bekam.

Es war für uns alle ein trostloses Leben, und nur die ständige Hoffnung, unsere Heimat und unsere Familie wiederzusehen, verlieh uns Kraft und Ausdauer. Unser Lagerarzt, Dr. Lauda aus Theusing, tat das möglichste, um gewisse Härten zu mildern. Bei vielen von uns, die durch Entkräftung, Erschöpfung und seelische Zermürbung nicht mehr mitkonnten, sorgte er dafür, daß sie von der Arbeit wegbleiben konnten. Er zog sich allerdings durch den erhöhten Krankenstand den Unwillen des Kommandanten zu. Leider wurde er eines schönen Tages mit noch anderen verhaftet und in das Koliner Stadtgefängnis abtransportiert. Parteifunktionäre waren ganz besonders gesucht. — Es war für uns Freude und Jubel, als es hieß, daß unser menschenfreundlicher Kommandant wegen Unterschlagung abgesetzt ist. Sein Nachfolger war das Gegenteil, ein Mensch mit Herz, wir genossen nun verschiedene Begünstigungen, hatten freien Sonntag und bekamen reichlich Kostaufbesserung, was wir besonders begrüßten. Dafür wollte aber sein „deutscher” Stellvertreter mittels Strenge an dem alten Zustand festhalten.

Ich kam krankheitshalber nach 9 Monaten zurück nach Theusing, wo die Aussiedlungen bereits im Gange waren. Wir begannen mit Vorbereitungen, es wurde eingepackt und ausgepackt und wieder eingepackt, um das erlaubte Gewicht von 50 kg nicht zu überschreiten. Beim dritten Transport hieß es. Abschied nehmen von unserem Heim, von unserer Heimat, wo unsere Urgroßväter als deutsche Bürger hausten. Die humane Aussiedlung endete für uns auf einem kleinen Dorf in Oberhessen.


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