Nr. 64: Erlebnisse einer Frau in einem Dorf an der Sprachgrenze und während der Zwangsarbeit in Bilov.

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Erlebnisbericht der Lehrerwitwe A. L. aus Buchau, Kreis Luditz.

Original, 27. Mai 1947, 4 Seiten, mschr.

Eingangs berichtet die Vfn. anhand einiger Beispiele aus eigenem Erleben über das gespannte Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen an der Sprachgrenze in den dreißiger Jahren. Sie erwähnt, daß sich gegen Ende des Krieges die Spannung bis zu Haßausbrüchen von tschechischer Seite steigerte.

Dann kam die Kapitulation Deutschlands, und das Elend brach über uns herein. Ein fürchterliches Blutbad an der Sprachengrenze begann. In meiner Heimat nahmen sich zehn Personen das Leben, weil sie das Fürchterliche nicht mehr ertragen konnten. — Ich möchte mir wünschen, daß jeder einzelne seine Erlebnisse bekannt gibt, damit die Welt erfährt, wie es uns ergangen hat.

Wir warteten ständig in Buchau, daß mein Bruder mit seiner Familie käme und wir zusammen fliehen könnten. Unter dem tschechischen Pöbel hatten wir fürchterlich zu leiden, alles wurde uns genommen, sie drangen in die Wohnungen, warfen die Deutschen hinaus, nahmen ihnen alles, trieben sie mit 7,— RM über die Grenze. Ich sah die ersten Deutschen, wie sie ausgewiesen wurden, nur mit Rucksack und Kinderwagen versehen, meist ohne ein bißchen Essen, wurden sie der Grenze zu getrieben von bewaffneten Soldaten. Von diesem Transport hat sich das Ehepaar R. erhängt.

Meine Mutter war alt und krank, konnte also diesen Marsch nie unternehmen, und so beschlossen wir, aus dem Leben zu gehen. Zuvor mußte ich aber Verbindung mit meinem Bruder in Scheles und meiner Schwester in Luditz haben. Aber mein Bruder war bereits tot1 und meine Schwester irgendwohin fortgetrieben. Fürchterliche Tage hatte ich zu durchleben. Nur mit allergrößter Mühe gelang es mir, meine Mutter für einige Tage vom Selbstmord zurückzuhalten, und ich versprach ihr, meine Schwester zu suchen. Tatsächlich machte ich mich auf den Weg und schlug mich unter lauter Russentransporten durch bis Rudig und zurück bis Lust. Auf dem bereits vertschechisierten Meierhofe in Lust fand ich ihre Spur. Ich verfolgte sie weiter, immer weiter, und in der Ortschaft Tönischen2 fand ich sie, sie ihrerseits wollte wieder uns suchen, und so trafen wir uns. Ein derartiges Wiedersehen läßt sich wohl nicht schildern. Am nächsten Tage schleppten wir uns heim nach Buchau.

Dann war ich bemüht, Erkundigungen einzuziehen, auf welche Art und Weise mein Bruder ums Leben gekommen ist. Er wurde ca. 14 Tage nach der Besetzung, nachdem er alles und alles verloren hatte, von bekannten


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Tschechen fortgeführt, angeblich zu einem Verhör und kam nie mehr heim. Er wurde so viel geschlagen und wieder geschlagen, und dann starb er daran. Seinem Kinde und seiner Frau wurde strengstens untersagt, Trauerkleidung zu tragen; täten sie es trotzdem, so kämen sie auch ins Tschechische. Man nahm meiner Schwägerin sogar den Ehering ab.

Wir Deutscheu mußten stets weiße Armbinden tragen, 10 cm breit. In meinem Hause hatte ich dauernd bis 20—25 Russen, 5 Volksdeutsche (Flüchtlinge aus der Slowakei) und meine Schwester mit 3 Kindern. Vor Leid waren wir alle gebrochen. Einmal nur ging ich ohne Armbinde ins Nachbarhaus, schon stand ein tschechischer Offizier vor mir und fragte, ob ich Tschechin oder Deutsche sei. Ich spreche tschechisch und sagte, ich sei Deutsche. Und schon saust etwas Hartes auf meinen Kopf, und ich liege auf den Steinen, ganz benommen, ganz toll, und so sehr schäme ich mich, ein Mensch zu sein. Eine Frau schlägt man ohne Ursache nieder! Ich bin ganz erschöpft und kann mich nicht erheben. Da droht mir der tschechische Offizier, auf mich zu schießen, wenn ich nicht aufstehe. Mühsam raffe ich mich auf, und im nächsten Moment saust wieder das Harte, Schwere in mein Gesicht, und ich liege abermals auf der Erde. Von ganz weit her höre ich die Worte: „Die Lehrer L. hat er niedergeschlagen”; und dann schreit der Offizier, alle mögen von den Fenstern sofort verschwinden. So wurden an diesem Tage in Buchau noch viele Frauen geschlagen; dann ging dieser Soldat auf die umliegenden Ortschaften und suchte und fand viele und neue Opfer.

Es wird immer schlimmer, wir trauen uns nicht mehr auf die Straße. Jeder Tscheche kann mit uns machen, was er will, jeder Tag bringt neue Verbote und neuen Zwang. Essen gibt es für uns fast gar nichts. Es ist ein Wunder, daß wir noch leben. Überall sind Tschechen, sie kommen in allerschlechtesten Kleidern, bei sich haben sie eine alte Aktentasche, in der gewöhnlich ein Stück Brot, ein Beneschbild und ein blau-weiß-rotes Fähnchen ist. So kommen sie in unsere Häuser und sagen: „Nyní jsem ja majitel” (jetzt bin ich der Besitzer). Und unsere Leute mußten ihre Häuser räumen, nur mit dem Allernotwendigsten versehen, im besten Falle durften sie am eigenen Hofe als Knecht leben.

Ich arbeitete weiter im Geschäfte meines Schwagers. Eines Tages wurden wir nach Luditz gefordert, meine zwei Schwägerinnen, meine Nichte und ich, zum Arbeitsamt. Eine Ahnung sagt mir, nun ist die Reihe abermals an mir. In Luditz werden wir von einigen Tschechen übernommen, mit anderen Deutschen auf den Bahnhof getrieben, in einen vollen Zug gestopft und irgendwohin ins Tschechische geschleppt. Heute wundere ich mich noch über mich selbst, daß ich nicht den Verstand verloren habe. Ein kleines Kind zu Hause, eine alte kranke Mutter, die Schwester mit drei Kindern unversorgt; wann werden sie aus meinem Hause, dem letzten von vieren, das uns bis dahin verblieben war, hinausgetrieben, und wohin werden sie getrieben werden, was geschieht mit mir? Werden sie uns den Russen ausliefern, wie seinerzeit in Luditz alle Mädchen vom 14. Lebensjahr angefangen? Gibt es einen Herrgott im Himmel, der dies alles geschehen läßt! O, wir wünschen uns alle den Tod — und doch geschieht nichts, nichts als daß die Reise


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weitergeht, immer weiter. Wir fahren durch Scheles, an der Villa meines Bruders vorbei, vorbei an allen Stellen, wo ich bisher mit ihm geschafft hatte, sei es in der Kanzlei oder auf den Feldern gewesen. In Plaß bei Pilsen1 müssen wir aus dem Zuge heraus. Gott sei Dank, daß es nicht noch weiter ging, denn hier kenne ich mich noch aus; und langsam beginne ich mich irgendwie zu wehren.

Wir werden in ein von Schmutz starrendes Gasthaus geführt. Groß und klein kommt gelaufen, um uns anzustarren. Sind wir doch die ersten Opfer der Verschleppung. Dann werden viele Russen gerufen, und wir werden ihnen angeboten. Meine Schwägerin und ich sprechen tschechisch, und sie verurteilen die Tschechen ob ihres Vorgehens. Dann holte man Bauern, die uns besehen mußten, es wollte uns aber niemand haben, sie hatten Angst, „vor der Sünde”, wie sie sagten. Sie wußten gut, das Verschleppen war eine Untat. Am nächsten Morgen wurden wir auf Wagen geladen und von Dorf zu Dorf gefahren und verschachert.

In Bilov bei Scheles kamen wir zu Bauern; hier geht das Leiden weiter. Keine Nachricht von mir erreicht meine Angehörigen. Wir haben keine Wäsche, keine Seife, keinen Kamm. Die Bäuerin erlaubt mir nicht, mich zu säubern. Ich bekomme bei allerschwerster Arbeit fast nur jeden zweiten Tag ein Mittagessen und da meist nur ein bißchen Quark und Kartoffeln. Von letzteren kann ich immer nur zwei essen. Die Arbeit beginnt um 5 früh und dauert bis 1/2 ll Uhr abends. Jeden Donnerstag ist Versammlung für die Bauern, und von Donnerstag zu Donnerstag wird es für uns schlimmer. Die Wohnung des Bauern Josef Vlk in Bilov, wo ich bin, und wo ich in einem feuchten Loch schlafe, ist total versaut. Die Frau hatte so viel Läuse und ist Bettnässerin. Sie schlief mit ihrem Mann in der Küche in einem Bette. Das Bett darf nie zum Trocknen aufgehängt werden, ich mußte es immer naß und stinkend wieder einbetten, desgleichen das Bett der Tochter. Flöhe und Fliegen fraßen uns buchstäblich auf, das Kind ist oft ganz zerbissen. Ich durfte mich nur waschen, wenn ich allein am Felde arbeitete und ein Wassergraben in der Nähe war. Immer arbeitete ich barfuß, auf den Bachwiesen stand meistens das Wasser.

Nun wurde ich krank, schwer krank. Meine einzige Garnitur Wäsche ist schmutzig und zerfällt. Ich bekomme immer mehr Fieber, arbeite und schlafe mit der ganzen Kleidung. Meine Cousine bekommt Ausschlag an den Beinen, und ich stelle mit Schrecken fest, daß sich auf meiner rechten Hand ein Ekzem festgesetzt hat und mir langsam die ganze Hand zerfrißt. Ich kann fast nicht mehr aufrecht gehen. Will ich um Futter in die Scheune gehen, muß ich häufig auf allen Vieren kriechen, und in den Nächten stelle ich fest, daß ich Läuse habe, von den Flöhen, die uns martern, will ich gar nicht reden. Nach ca. 6 Wochen bin ich ganz verhungert, kann nicht mehr gehen und werde fürchterlich behandelt. Scheleser guten Bekannten, denen ich begegnete, bin ich nicht mehr erkenntlich. Der Bauer Vlk, bei dem ich arbeitete, nannte mich nur svíně (Sau) oder německá svíně (deutsche Sau).

Und am Sonntagnachmittag um 2 Uhr (es war der 16. oder 17. September) taumeln wir ganz einfach davon und wollen nur heim und dann sterben.


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Zwei Tage brauchen wir, ehe wir heimkommen. Die Angst, aufgegriffen und erschossen zu werden, treibt uns weiter, immer nur auf fast unmöglichen Wegen und in Gräben. Deutsche helfen uns unter Lebensgefahr. Um 12 Uhr mittags erreiche ich mein Haus, und um 2 Uhr nachmittag kamen schon zwei Männer vom Národní Výbor und suchen mich wieder. Einer hieß Zajic, und sie suchten sich aus, was ihnen gefiel. Am nächsten Tage mußten wir zum Chefarzt, Dr. Karpathy, nach Luditz, der uns als Todeskandidaten bezeichnete. (Das Attest von Dr. Karpathy befindet sich noch in meinen Händen.) Tatsächlich ist meine Schwägerin nach einiger Zeit auch gestorben. Ich selbst hatte für sieben Personen zu sorgen und mußte mich gewaltsam ans Leben klammern. Als ich halbwegs konnte, arbeitete ich wieder im Geschäfte meines Schwagers, das in der Zwischenzeit enteignet worden war. Mein Haus wurde zwar von den Russen geräumt, aber von den Tschechen sofort wieder genommen. Frau Kotrbaty nahm mir die letzten paar Möbel, das Haus nahm der Buchauer Kommissar Třiska. Kurz darauf stahl er jedoch aus der Buchauer Stadtkirche eine rote Altardecke und ließ daraus eine kommunistische Fahne und ein Kleid für seine Tochter Elinka nähen. Außerhalb Buchau steht eine sehr alte, aber schöne Kirche, die Jakobikirche, die von den Russen und Tschechen innen fast ganz demoliert wurde, und in der sie ihre Gelage abhielten. Als wir für unsere beiden Brüder, die durch die Tschechen ihr Leben einbüßten, eine Messe lesen ließen, ließ uns Frau Kotrbaty nicht eine Blume für unser Grab aus meinem Garten nehmen.

Als Erbe von Bilov gilt mir meine rechte Hand, an der ich meine Fingernägel verlor.

Die Vfn. schließt ihren Bericht mit einigen Bemerkungen über ihre schwierige wirtschaftliche Lage nach der Vertreibung.