Nr. 65: Irrfahrt der zur Zwangsarbeit nach Innerböhmen verschickten deutschen Familien aus Mies.

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Erlebnisbericht der Hausfrau Maria Spiegl aus Mies.

Original, März 1947, 4 Seiten, hschr.

Der Sommer 1945 brachte uns Tag und Nacht Angst und Schrecken. Hausdurchsuchungen und Verhaftungen an der Tagesordnung. Alle Deutschen müssen die gelbe Armbinde tragen und erhalten Judenkarten. Meine gesamte Leibwäsche, Bettwäsche, sowie Kleidung, Antiquitäten, Silber und Teppiche usw. hatte ich in einen Bauernhof gebracht, wo ich annahm, daß sie dort sicherer als bei mir aufgehoben seien. Die Bäuerin war Čechin. Meine Annahme erwies sich als trügerisch. Der Hof wurde als einer der ersten des Dorfes Sittna enteignet, und ich verlor auf diese Weise mit einem Schlag die notwendigsten und besten Wäsche- und Kleidungsstücke.


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Eines Tages sahen wir schon um 7 Uhr früh Hunderte von guten Bekannten auf dem Marktplatz stehen, umgeben von Soldaten mit aufgepflanztem Gewehr, die uns den Zugang zu ihnen verweigerten. Sie halten nur wenig Gepäck bei sich, denn innerhalb 1/2 Stunde mußten sie unter Aufsicht packen und die Wohnung verlassen. So sahen wir am 20. Juli die ersten Mieser Bürger ihre Heimat für immer verlassen, unbekannt wohin. Wir entschlossen uns sofort, das Notwendigste zu packen. Meine Mutter ist 75 Jahre alt, die Mädchen 9 und 11 Jahre und ich 43. Wir wußten, daß man auch uns eines Tages auf diese Art und Weise aus unserem Haus in Mies Nr. 15 vertreiben wird.

Am 29. August, um 7 Uhr früh hörte ich aus dem Schlafzimmer meiner Mutter laute Stimmen. Es war so weit. Zwei Čechen überbrachten, daß wir abends bis 7 Uhr am Bahnhof sein müssen. Meine Mutter versuchte, auf Grund ihres hohen Alters zu erreichen, daß man von diesem Vorhaben absehen möge. Vergebens! Auf einem kleinen Wägelchen packten wir unsere Säcke und Koffer, und als wir so zum Bahnhof zogen, wanderten aus allen Straßen Hunderte von Menschen den gleichen traurigen Weg. In eine Fabrikhalle mußten wir unser Gepäck schaffen, Gold, Silber und Schmuckstücke wurden abgenommen. Alte und Kranke lagen auf den Säcken, Kinder schrien nach ihren Betten, es verging eine trostlose Nacht. Um 1/2 7 Uhr früh mußten wir unser Gepäck in einen bereitstehenden Zug verladen und fort ging es mit 1500 Menschen, unbekannt wohin. — Sibirien wurde allgemein angenommen. Wir kamen nach Rokyzan.

Der Zug hielt, Amerikaner prüften die Papiere des Lokomotivführers, es schien etwas nicht in Ordnung zu sein. Unsere Freude war groß, als nach 3stündigem Verhandeln die Maschine kehrt machte und wir wieder zurückfuhren. Allerdings nur zwei Stationen. Hier in Chrast verbrachten wir 30 Stunden im Waggon. Langsam ging die Verpflegung zu Ende, kein Trinkwasser mehr, und als wir uns welches holen wollten, wurden wir von den Posten mit dem Gewehrkolben verjagt. Die Säuglinge, von denen wir einige im Waggon hatten, schrien, denn was sollte man ihnen geben? Über drei Kerzen bereiteten wir etwas Tee für sie. Später zündeten wir wie Zigeuner am Bahndamm Feuer an und kochten Suppe. Unser einziger Gedanke aber war ständig, was mit uns geschehen wird.

Am 31. August, abends um 6 Uhr fuhr der Zug endlich in die Richtung nach Mies. In Tuschkau1 aber hielt der Zug. Čechen und Amerikaner erwarteten uns. Wir mußten heraus aus den Waggons, uns familienweise zusammenstellen. Viele Frauen bekamen Herzkrämpfe, Wahnsinnsanfälle, und ich bemühte mich zu helfen, wo es anging. Ich hatte eine kleine Apotheke mit, und als Dipl. Schwester konnte ich manchem Linderung schaffen. Eine Musterung begann. Ein čechischer Gendarm und ein amerikanischer Captain sondierten nun die Masse. Alte, Gebrechliche und kranke Leute, Frauen mit vielen Kindern wurden zurückgestellt. Auch wir gehörten zu den Glücklichen. Wie groß war aber die Verzweiflung derer, die wieder in die Waggons mußten und abermals, jetzt aber in Richtung Časlau abfuhren. Unser Gepäck mußten wir, meine kleine elfjährige Tochter und ich, nun unter-


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bringen. Es goß in Strömen. Wir waren derart ermattet, verhungert, naß und verzweifelt, daß wir laut weinten. Die übrigen 180 Personen lagen einstweilen in einem Gasthof auf dem Stroh. Um 1/2 12 Uhr nachts hieß es wieder heraus, Gepäck zum Bahnhof, ab nach Mies.

Dort angekommen, mußten wir bis 4 Uhr früh in der Kälte im Freien auf dem Bahnhof warten, ehe man uns schließlich doch wieder in die Fabrik Just einließ. Mittags 12 Uhr wurden wir dann auf Lastwagen wie das liebe Vieh gepfercht, Soldaten mit geladenem Gewehr sprangen auf, und wie Schwerverbrecher wurden wir abtransportiert. Wir kamen nach Milikau. Erst wohnten wir bei einem Bauern. Dieser wurde dann enteignet, und es hieß wieder weiter ziehen. In einer verfallenen Hütte fanden wir ein neues Unterkommen. Täglich mußten wir uns früh um 7 und um l Uhr mittags bei dem Vorsteher melden, zur Arbeitseinteilung. Wir mußten schwere Arbeit verrichten, ohne dafür jedoch Bezahlung oder Verpflegung zu erhalten. Ständig lebten wir in Angst und Sorgen, daß es eines Tages wieder fort gehen wird. Was unternahmen wir nicht alles, um über die Grenze zu gelangen, nichts wollte gelingen.

Am 13. Oktober, 4 Uhr früh klopfte es an unser Fenster. Wir vernahmen čechische Stimmen. „Aufmachen! Na transport!”1 Wieder waren wir soweit! Die Kinder schrien, meine Mutter bekam einen Herzanfall. Unter der Aufsicht von vier zweifelhaften Gestalten, mit Knüppeln bewaffnet, mußte ich packen. Nur eine Garnitur Wäsche, ein Kleid und einen Mantel wollte man uns mitnehmen lassen. Auf Leiterwagen wurden wir und unsere Säcke geladen, und fort ging es, wieder nach Mies zum Bahnhof. Viele Familien, die bereits den ersten Transport mitmachten, waren wieder dabei, auch Milikauer Einwohner. Dort in Mies stand ein langer, langer Zug, und viele gute Bekannte (1600 Personen) fuhren mit ihm abends um 7 Uhr ab ins Ungewisse. Am schlechtesten benahm sich bei dieser Gelegenheit der Arzt Herr Dr. Morawez. Diesmal hatte man es jedoch so eingerichtet, daß der Zug nachts Rokyzan, die Demarkationslinie, passierte. Wieder eine traurige schreckliche Nacht. Kinder weinten, Frauen beteten leise den Rosenkranz. Es regnete durch die Decke und war bereits empfindlich kalt. Wir kamen nach 24-stündiger Fahrt nach Kralupy.

Verschlafen, frierend und hungernd saßen wir auf unseren Elendsbündeln, und bald stellten sich auch die „Käufer” bei dem Viehmarkt ein. Unter Führung des Arbeitsamtes wurde die „Ware” ausgesucht. Wir, meine alte Mutter, meine Kinder und ich, sowie einige alte Leute, Frauen mit vielen kleinen Kindern fanden keinen Absatz. Man schaffte uns ins Inter-nierungslager mit der unsichtbaren Überschrift: „Laßt alle Hoffnung draußen!” Seit Mai 1945 vegetierten hier Bodenbacher, auch gefangene Soldaten. Der Hunger stand allen im Gesicht geschrieben. Die Kinder hatten meist Krätze und waren elend abgemagert. Der Arzt, ein gefangener Rheinländer, war schon ganz apathisch. Zu essen bekamen wir nichts, erst am nächsten Tag etwas schwarzen Kaffee und etwas Brot. Wir lagen auf den Gängen, denn das Lager war total überfüllt. Es war rührend, wie die gefangenen Soldaten uns nachts ihre Betten überließen und selbst auf dem blanken


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Fußboden die Nacht verbrachten. Allerdings muß ich, um objektiv zu bleiben, sagen, daß die Leitung dieses Lagers sich ziemlich korrekt uns gegenüber benahm. Mittags kam das Arbeitsamt und ein Arzt, die feststellten, daß es sich bei uns um Alte, Kranke und Kinder handle, und daher die Rückkehr nach Mies durchgeführt wird.

75 Personen wurden in je einen Viehwaggon mit ihrem Gepäck verladen (3 Waggons), und zurück ging es nach Mies. Wir konnten weder ordentlich sitzen, noch stehen oder liegen. Zum Unglück bekam meine kleine Tochter hohes Fieber. Ich gab ihr Pulver, und es war traurig anzusehen, wie das Kind kein ruhiges Plätzchen finden konnte. Aus dem ersten Transport hatte ich bereits eine Lehre gezogen und einen kleinen Kübel mitgenommen. Es wäre trostlos gewesen, wenn die 75 Personen ohne dieses notwendige Gerät hätten auskommen müssen. Am 20. Oktober kamen wir abends um 6 Uhr wieder glücklich nach Mies. Jeder war froh, endlich aussteigen zu können.

Doch wer beschreibt unser Entsetzen, als wir den Waggon überhaupt nicht verlassen durften. Unbeschreibliche Szenen spielten sich ab. Fräulein Kurzka Marie riß aus ihren Säcken die Wäsche und Kleidungsstücke heraus und warf alles wahllos umher. Sie war nicht mehr ganz bei Sinnen. Herr Huis bekam einen Herzkrampf nach dem anderen. Eine Frau aus Kladrau wurde sterbend herausgetragen. Ich selbst war am Ende meiner Kraft, und ich hätte wohl meinem Leben ein Ende bereitet, wenn eine Möglichkeit vorhanden gewesen wäre. Wir hatten tagelang nichts richtiges mehr gegessen, spürten auch gar keinen Hunger mehr. Die Kinder waren matt und rührten sich gar nicht mehr. Unsere Verzweiflung war groß. Leute aus der Stadt kamen und wollten Suppe und Kaffee bringen, doch verwehrte man ihnen den Zugang zu dem Zaun. Mir war elend zumute, und ich glaubte, daß ich diese Situation nicht überleben könnte. Da kam der Transportführer, den doch ein menschliches Gefühl leitete, und er vertraute mir an, daß er und der Bahnvorstand an das Innenministerium telefoniert haben.

Er fuhr also abends um 8 Uhr wieder ab mit uns nach Prag. Wir kamen dort um 9 Uhr früh an, und kurze Zeit schon darauf mußten wir in einen Waggon II. Klasse zur Untersuchung. Es wurde festgestellt, daß es sich bei uns tatsächlich um arbeitsunfähige Personen handelt (86 kleine Kinder, das älteste elf Jahre). Zurück in die Heimat, in die alte Wohnung, und wir sollten einen Schein erhalten, auf dem der Vermerk stehen solle, daß wir bis zur Aussiedlung nicht mehr aus unseren Wohnungen entfernt werden dürfen. Nach acht Tagen bekamen die kleinen Kinder hier endlich etwas Milch, die übrigen Suppe und Brot. Nun waren wir wieder einmal gerettet! Zwei Gendarme mit schriftlichen Weisungen an den Mieser Výbor begleiteten den Heimtransport.

Abends 5 Uhr, am 22. Oktober, kamen wir in Mies an. Niemand kümmerte sich um uns. Nur zwei Beamte standen da am Bahnhof und erklärten, daß wir einstweilen zusehen sollen, daß wir irgendwo übernachten können, und den nächsten Tag sollen wir in das Rathaus kommen. Nach acht Wochen durften wir wieder in unser Haus. Allerdings erlaubte man uns nur, die


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Küche zu bewohnen. Viele aber von unseren Leidensgenossen konnten nicht mehr in ihre Wohnugen, denn sie waren bereits von Čechen bezogen.

So kam Weihnachten heran, das traurigste Weihnachten unseres Lebens. Die Läden waren angefüllt mit Süßigkeiten, die Schaufenster hell erleuchtet und mit Ware überladen. Für uns und unsere armen Kinder aber gab es nichts zu kaufen. Am 1. Feiertag predigte der Geistliche: „Herr, gib uns die Kraft und den Willen, dieses grausige Weihnachten 1945 zu vergessen!” Wir und unsere Kinder aber werden es wohl nie vergessen. Ende Jänner 1946 begann die Aussiedlung. Wir meldeten uns freiwillig zu dem zweiten Transport, der am 28. Februar zusammengestellt wurde.

Abschließend berichtet die Vfn. kurz über ihre Ausweisung.