Nr. 66: Internierung von Heimkehrern aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft; Lebensverhältnisse der im Lager Dubí bei Kladno internierten Deutschen in der Zeit von September bis Ende Dezember 1945.

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Erlebnisbericht des kath. Priesters Dr. Hermann Ebert aus Ober Lohma bei Eger.

Original, Februar 1946, 4 Seiten, mschr,

Am 28. 8 1945 wurde ich mit vielen anderen Kameraden aus dem russischen Kriegsgefangenenlager Focşani in Rumänien entlassen. Jeder von uns bekam seinen Entlassungsschein gleich in die Hand, und wir konnten fahren, wohin wir wollten. So fuhr ich mit anderen Kameraden aus meiner Heimat durch Rumänien und Ungarn in die neue tschechoslowakische Republik. In Brünn wollte man uns aufhalten. Wir wandten uns aber an den russischen Bahnhofsoffizier. Dieser gab den Tschechen den Befehl, in dem Zug nach Prag einen Waggon für uns frei zu machen oder einen anzuhängen. So fuhren wir ungehindert nach Prag. Auch hier konnten wir ungehindert weiter fahren. Doch als wir in den Zug nach Komotau—Karlsbad—Eger eingestiegen waren und uns schon zu Hause glaubten, wurden wir in Kladno angehalten und mußten aussteigen. An einen russischen Bahnhofsoffizier konnten wir uns hier nicht wenden, da keiner da war. Man gab vor, uns zur Überprüfung unserer Papiere zum russischen Stadtkommandanten zu führen, aber man führte uns statt dessen in das Internierungslager Dubí bei Kladno.

Dieses Lager umfaßte ungefähr 2000 Menschen, wobei ringsherum in der näheren Umgebung noch eine große Anzahl solcher Lager waren. Hier waren die Deutschen, die früher dort gewohnt hatten, Beamte, Ingenieure und Direktoren der „Poldihütte”, mit Frauen und Kindern interniert. Sie besaßen nur noch das, was sie am Leib hatten: l Hemd, l Unterhose, l Anzug, sonst gar nichts mehr. Da sie diese Sachen dauernd bei der Arbeit anhatten,


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waren es schon Lumpen, und Ersatz gab es keinen. Die meisten hatten auch im Winter keine Socken oder Strümpfe und vollständig zerrissene Schuhe. Ein Schuster und ein Schneider war zwar im Lager, aber sie hatten nicht einmal einen Fleck, um etwas zu nicken. Sie arbeiteten fast ausschließlich für das tschechische Wach- und Aufsichtspersonal. Wintermäntel oder warme Winterkleider gab es nicht.

Ferner waren im Lager Leute aus den deutschen Randgebieten (Sudetengau), die man hierher verschleppt hatte. Diese wurden ganz plötzlich von zu Hause weggeholt mit der Bemerkung, sie kämen nur 3 Wochen zum Arbeitseinsatz. Sie kamen aber nie mehr zurück. In Karlsbad hatte man ganze Straßenzüge ausgehoben mit allem, was drin war: alten Leuten, Krüppeln usw.1 Im Lager wurde ihnen alles abgenommen, was sie hatten und ihnen nur einige alte Kleidungsstücke gelassen. Geld durfte man im Lager überhaupt nicht haben. Im Oktober 45 kamen dann auch schlesische Flüchtlinge, die im Kriege in den Sudetengau geflüchtet waren, dort bei der Rückkehr der Tschechen bei tschechischen Bauern gearbeitet und so sich zu den paar Habseligkeiten, die sie noch gerettet hatten, noch einiges verdient hatten. Als sie ins Lager kamen, wurde ihnen ebenfalls alles abgenommen, sogar die Betten für ihre Kinder, Kinderwäsche usw. Im Lager waren auch ungefähr 100 deutsche Soldaten aus dem Reich.

Das Lager bestand aus Holzbaracken und einigen Steinbaracken. Es waren die Baracken, in denen während des Krieges auswärtige tschechische Arbeiter gewohnt hatten. Die tschechischen Zeitungen, die wir heimlich manchmal lesen konnten, beschwerten sich darüber, daß die Deutschen zu gut untergebracht seien, da sie in denselben Baracken lebten, in denen „ihre” Leute auch hatten leben müssen. Dabei verschwiegen diese tschechischen Zeitungen natürlich, daß früher in einem Raum einer solchen Baracke nur 4—8 tschechische Arbeiter nur vorübergehend Unterkunft fanden, während jetzt derselbe Raum bis zu 30 Menschen eine vollständige Wohnung sein mußte. 30 Menschen mit all ihrem Hab und Gut, das sie vielleicht noch gerettet hatten, auf einem Raum von ungefähr 25 Quadratmetern!

Als Schlafgelegenheiten waren Doppelbetten aus Holz mit Strohsäcken da, wie sie in Wehrmachtsunterkünften üblich waren. Es waren aber in jedem Raum nur 4—8 solche Schlafstellen. Die übrigen mußten sehen, wie sie unterkamen. Es mußten 2—3 auf einem Strohsack schlafen, die anderen auf dem Boden. Viele lagen überhaupt nur am Gang. Wenn wir abends todmüde von der schweren Arbeit nach Hause kamen, konnten wir uns in dem Raum kaum umdrehen. Sitzgelegenheiten gab es nur 4—5. Öfen waren da, aber kein Heizmaterial. In den Steinbaracken aber, in denen die Frauen mit den kleinen Kindern wohnten, war Dampfheizung. Aber die Dampfheizung war geschlossen, und Öfen waren nicht da. Deshalb hatten es gerade die kleinen Kinder ganz kalt, und die Allerkleinsten mußten das fast alle mit dem Leben bezahlen. Die Baracken waren außerdem total verlaust. Dazu kam noch eine sehr starke Wanzen- und Flohplage, so daß man bei Nacht überhaupt nicht schlafen konnte. In der Stadt gab es zwar eine Möglichkeit zur Entlausung, aber diese war vollständig ungenügend. Es konnten


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immer nur einige hingehen, so daß die Entlausung wirkungslos bleiben mußte. Man konnte sich dort nicht einmal baden, sondern nur waschen. Dann mußte man auf einem kalten Gang mit Steinboden unbekleidet auf seine Kleider warten.

Die Verpflegung im Lager bestand aus 1/2 Liter dünner Kartoffelsuppe, an der kein Körnchen Salz war, 200 g Brot und 2mal schwarzen bitteren Kaffee täglich. Wer nicht auf eine Art noch etwas anderes bekommen konnte, mußte verhungern. Das betraf vor allem Alte, Kranke und Kinder. Die auf Arbeit gingen, bekamen meist an ihrer Arbeitsstelle etwas zu essen, ineist aber nur trockene Kartoffeln. Die Frauen, die irgendwo privat im Haushalt arbeiteten, hatten manchmal Glück. Sie trafen doch auch gute Leute und konnten dann öfter ihren Kindern etwas mit nach Hause nehmen. Kinder, auch Säuglinge, bekamen anfangs dieselbe Kost wie die Erwachsenen, so daß die Säuglinge und Kleinkinder restlos starben. Später bekamen die Kinder, die später ins Lager kamen, einige gekochte ganze Kartoffeln und noch später etwas Milch und Margarine. Aber das reichte natürlich bei weitem nicht aus. So manche Mutter erzählte mir, mit Verzweiflung in ihrem Blick, wie sie ihr Kind langsam verhungern sehen muß. Die Zutaten, die die Küche manchmal für die Suppe bekam, wurden einfach für das Essen des Wachpersonals verwendet. Auch sonst ging aus der Küche vieles schwarz an Günstlinge und Verwandte, was eigentlich für die Allgemeinheit bestimmt gewesen wäre, wie es ja überall in solchen Lagern zu geschehen pflegt. Als ich ins Lager kam, waren die meisten alten Leute schon gestorben. Durchschnittlich starben in der Zeit, als ich im Lager war, täglich l—6 Menschen. Sie starben an völliger Entkräftung. Krankheiten wie Lungenentzündung wurden vom Arzt überhaupt nicht behandelt. Sie waren von vorneherein dem Tode preisgegeben. Wenn einer krank wurde und nicht mehr arbeiten konnte und von anderen nichts bekam, war er rettungslos verloren. Deshalb hatte jeder große Angst vor dem Krankwerden. Ein internierter Arzt war zwar hier, aber den nannten die Leute nur „Tierarzt”. Es war ein Tscheche. Anzuerkennen war, daß später ein Zahntechniker angestellt wurde.

Männer und Frauen waren getrennt untergebracht und durften miteinander nicht sprechen, auch der Mann mit seiner eigenen Frau nicht. Wenn sie es taten und erwischt wurden, gab es Fußtritte oder Prügelstrafen. Überhaupt wurde die Prügelstrafe in der rohesten Weise angewendet, bei der geringfügigsten Sache, z. B. Rauchen oder Lesen, was ja verboten war. Sogar gegen Frauen und Mädchen wendete man diese Strafe an. Sämtliche deutschen Bücher, Gebetbücher und Bibeln, sogar Rosenkränze, wurden den Leuten abgenommen. Ich ersuchte den Lagerleiter, einmal im Lager Gottesdienst halten zu dürfen. Aber die Antwort war eine unflätige Schimpferei auf Kirche und Pfaffen. Nicht einmal zu Weihnachten durfte ich Gottesdienst halten. Wörtlich sagte mir der Lagerleiter: „Die Deutschen sind für uns keine Menschen, und sie werden dementsprechend behandelt.” Es war mir auch verboten, zu den Sterbenden zu gehen. Zu den Männern konnte ich zwar meist kommen, da ich in die Männerbaracken hineinkonnte, aber in die Frauenbaracken konnte ich nur, indem ich mich der Gefahr aussetzte, verprügelt zu werden.


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Die Toten, die jeden Tag „anfielen”, wurden in einen größeren alten Sarg gelegt, meist mehrere auf einmal, auf einem Wägelchen in das etwa 3 km entfernt gelegene Dorf Rapice1 gefahren und dort in einem Massengrab hinter der Friedhofsmauer „bestattet”, d. h. der Sarg wurde einfach umgekippt, auf die Toten etwas Erde geworfen, so daß sie nur etwas verdeckt waren, und darauf wurden dann wieder die anderen Toten aufgeschichtet. Der Sarg wurde wieder mit nach Hause genommen.

Die Wache des Lagers wurde von einer zivilen Miliz gestellt. Das waren durchwegs Kommunisten, die auch bei den anderen tschechischen Arbeitern in dem Ruf standen, daß sie aus Arbeitsscheu sich solche Posten gesucht hätten. Diese Wache mit Gewehr mußte jeden Internierten außerhalb des Lagers begleiten. Anfangs Dezember blieb nur noch die Lagerwache. Die Begleitwache fiel weg. Dafür wurden aus den Reihen der Internierten Gruppenführer gewählt, die dafür verantwortlich waren, daß ihre Gruppe wieder geschlossen ins Lager zurückkam. In der Stadt war es jedem Deutschen verboten, den Gehsteig zu benützen, ein Geschäft zu betreten oder mit jemandem zu sprechen. Oft wurden Deutsche auf der Straße angespuckt oder geschlagen.

Ungefähr im Oktober wurde dann für die Kinder eine Art Schulunterricht eingeführt, d. h. sie sollten vor allem Tschechisch lernen. Zu Weihnachten wurde unter Mitwirkung der Kinder eine sogenannte „Weihnachtsfeier” gehalten. Diese bestand darin, daß alle Lagerinsassen im Freien sich unter einem Weihnachtsbaum versammeln mußten zu einer hämischen Rede des Lagerleiters, zu einigen tschechischen Weihnachtsliedern der Kinder und — was der Hauptzweck der „Feier” war — zu einem Sprechchor der Kinder, der den Eltern in ganz gemeiner Weise aus dem Munde der Kinder die härtesten Anklagen entgegenschleuderte. Das war angesichts des Schmerzes so vieler Mütter über den Verlust sämtlichen Besitzes, der Heimat, so vieler Kinder und Angehörigen gerade am Heiligen Abend eine besondere Gefühlsrohheit.

Ich selbst mußte gleich am 2. Tage, als ich im Lager war, in die Arbeit gehen, und zwar in eine Kabelfabrik. In dieser Fabrik arbeiteten ungefähr 80 deutsche Frauen und Mädchen und 20 Männer. Jeden Tag wurden wir früh um 1/2 6 Uhr hingeführt. Auf dem Hof der Fabrik mußten wir antreten. Dann kamen die tschechischen Arbeiter und Meister und suchten sich die „Stückzahl” aus, die sie brauchten. Wir hatten unwillkürlich alle das Empfinden, es sei wie auf einem Sklavenmarkt. Wir Deutsche mußten nur die schwersten und schmutzigsten Arbeiten verrichten. Das Essen bekamen wir in einem Raum, der ungefähr 40—50 m2 groß und ganz voll Drahtrollen war. Darin sollten noch 100 Menschen Platz haben. Wir mußten deshalb meist draußen im Freien stehend essen, auch im Winter. Wir bekamen Tag für Tag trockene Kartoffel. Während die tschechischen Arbeiter nur 8 Stunden arbeiteten, mußten wir nachmittag meist noch mehrere Waggon Kohlen, Draht usw. abladen oder verladen bis spät abend.

Nach einiger Zeit bekam ich plötzlich den Befehl, ich müsse sofort ins Kohlenbergwerk einfahren. Warum, weiß ich heute noch nicht. So wurde


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ich Bergmann. Hier war es wieder so: Die schwersten und schlechtesten Arbeiten mußten wir Deutsche verrichten. Während die Schicht für die Tschechen nur 8 Stunden dauerte, mußten wir Deutsche 10 Stunden ununterbrochen im Schacht arbeiten, ohne Pause und ohne Essen. Die Verpflegung bekamen wir am Schacht, und sie war etwas besser, aber viel zu wenig und fast kein Fettstoff. Dazu kamen noch sehr schlechte Arbeitsbedingungen: Die Kleider waren innerhalb kurzer Zeit vollständig zerrissen, da man mit den Straßenkleidern einfahren mußte, weil kein Arbeitsanzug da war. Einen Ersatz für zerrissene Kleider gab es nicht. Wenn man ferner die ganze Schicht in Schweiß gebadet war und sich nachher unter der heißen Dusche abgewaschen hatte, mußte man dann oft 1/2—l Stunde in der Kälte im Freien um Essen anstehen. Dieses mußte man auch im Freien essen, wenn man es nicht im Waschraum, in dem sich zur selben Zeit die anderen wuschen, tun wollte.

In jeder Schicht waren ungefähr die Hälfte der Arbeiter Deutsche. So war es auch auf den Schächten ringsherum und in den meisten Betrieben. Bei der Arbeit gab es auch oft Schläge und Fußtritte. Allerdings muß ich auch anerkennen, daß es unter den Arbeitern auch sehr anständige Menschen gegeben hat, die uns gut behandelt und uns auch hie und da heimlich etwas zum Rauchen oder zum Essen zugesteckt haben.

Daß ich Ende Dezember 1945 entlassen wurde, habe ich nur dem Umstand zu verdanken, daß ich einen tschechischen Pfarrer sehr gut kannte. Auf seine Vermittlung kam ich frei. Sonst wäre für mich keine Möglichkeit gewesen, herauszukommen. Es hieß immer, daß die Kranken und Alten entlassen werden, aber als ich das Lager verließ, war noch nichts dergleichen geschehen. Die Arbeitsfähigen dürften wohl noch lange in dieser Sklaverei verbleiben müssen.

Die Dinge, die ich hier berichtet habe, habe ich mit eigenen Augen gesehen und erlebt. Sachen, die mir die Leute aus der Zeit vorher erzählt haben, habe ich nicht erwähnt; sie waren noch viel schlimmer.