5. Evakuierung und Flucht der deutschen Bevölkerung aus Jugoslawien.

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Der Ablauf der politischen und militärischen Ereignisse brachte es mit sich, daß Umsiedlungspläne und Umsiedlungsaktionen in Evakuierungsmaßnahmen und Fluchtbewegungen übergingen, ohne daß die einen ohne weiteres von den anderen unterschieden werden könnten. So wurde, ehe sich im Herbst 1944 die Front den Grenzen des ehemaligen Jugoslawiens unaufhaltsam zu nähern begann, ein Teil des Kroatiendeutschtum von einer Evakuierungswelle erfaßt, die sich noch in enge Verbindung mit Himmlers Umsiedlungsplänen seit dem Sommer 1942 bringen läßt 1 . Im Januar 1944 hatte Himmler nämlich die Umsiedlung der Volksdeutschen aus den "bandengefährdeten" Gebieten Westslawoniens nach Syrmien angeordnet 2 und damit nach knapper Jahresfrist auf einen Kompromißvorschlag der VOMI und des Auswärtigen Amtes zurückgegriffen, mit dem die Diskussion einer Gesamtumsiedlung der Volksgruppe in Kroatien abgeschlossen worden war. Die Aktion wurde im gleichen Monat ohne Wissen des Auswärtigen Amtes, der Deutschen Gesandtschaft in Agram, ja sogar eines Teils der Volksgruppenführung begonnen und in aller Eile von der Waffen-SS ausgeführt. Bis Ende März 1944 wurden ca. 20 000 Deutsche aus fast 30 westslawonischen Gemeinden nach Syrmien und in die Umgebung von Esseg transportiert, wo man sie provisorisch bei deutschen Familien und auf verlassenen serbischen Gehöften unterbrachte 3 . Die kroatische Regierung, die sich übergangen fühlte 4 , widersprach, und das Auswärtige Amt bat dringend um Einstellung der Evakuierung 5 , da politische Rückwirkungen auf die Kroaten und


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Serben bei einem so überstürzten Vorgehen noch vor der Erntezeit unausbleiblich schienen, wenn die Deutschen weiter als erste flüchteten. Trotzdem wurde der Abtransport der Deutschen nach Syrmien auch im Arpil 1944 nicht eingestellt, so daß schließlich ca. 25 000 Slawoniendeutsche ihre Siedlungen verlassen mußten 6 . Der Leiter der VOMI befleißigte sich, der Aktion den Charakter der Umsiedlung abzusprechen 7 . Tatsächlich waren die Grenzen zwischen Evakuierung und Umsiedlung inzwischen völlig fließend geworden.

Anfang September 1944 gewann dann die Frage einer Gesamtevakuierung des Kroatiendeutschtums, nunmehr unter dem Zwang der militärischen Lage, d. h. des drohenden russischen Vorstoßes nach Ungarn und der gesteigerten Aktivität der Partisanenbrigaden, erhöhte Bedeutung 8 . Der deutsche Gesandte Kasche sprach sich noch am 6. 9. 1944 aus Rücksicht auf die kroatische Kampfmoral gegen einen beschleunigten Abzug aus 9 , der SS-Bevollmächtigte Kammerhofer dagegen hatte schon von der VOMI die Vollmacht zur Evakuierung erhalten 10 . In Besprechungen mit der Volksgruppenführung wurde der allgemeine Rahmen für den Abtransport der Deutschen "bei ernster Gefahr" abgesteckt: die Kinder sollten als erste mit der Eisenbahn auf der Linie Esseg-Wien ins Reich gebracht werden, während die Masse der Volksgruppe in Trecks durch Ungarn nachfolgen sollte. Der dehnbare Begriff der ernsten Gefahr wurde dahin ausgelegt, daß die Evakuierung der Banaler Volksdeutschen oder eine angloamerikanische Landung an der kroatischen Küste als das auslösende Signal gelten solle. Unter diesen Voraussetzungen erklärte sich auch Ribbentrop mit der Evakuierung einverstanden 11 , doch erst am 25. 9. 1944 wurde die Agramer Gesandtschaft vom Auswärtigen Amt instruiert, den Evakuierungsplan mit Kammerhofer abzustimmen 12 . Inzwischen waren die Deutschen in Mittelslawonien in einer Reihe von örtlichen Evakuierungen in Syrmien zusammengeführt worden. Einzelne Siedlungen blieben freilich noch immer von diesen Maßnahmen verschont, vor allem entlang der wichtigen Bahnlinie von Belgrad nach Agram, wo deutsche Truppen stationiert waren. Dagegen wurden jetzt die hei der Bosnienumsiedlung ausgenommenen deutschen Dörfer Windthorst, Adolfstal und Troschelje regulär evakuiert (22. 9.). Die bis Anfang Oktober


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in Syrraien konzentrierten Volksdeutschen mußten sodann, meist mit Hilfe der Wehrmacht, in überwiegend geschlossenen und geordneten Trecks das Land verlassen, ohne daß sich dieser Abzug streng an die von der Volksgruppenführung ausgearbeiteten Richtlinien gehalten hätte 13 . Durch die Baranja und Südungarn, unterhalb des Plattensees her ihren Weg nehmend, erreichten sie bis Ende Oktober die damalige Reichsgrenze und wurden entweder in Österreich oder aber nach der Weiterleitung bis Schlesien in Landgemeinden untergebracht, aus denen sie z. T. vor den herannahenden Russen

erneut nach Westen flüchteten. - Ende Oktober galten Syrmien und Slawonien als von Deutschen geräumt; nur wer sich freiwillig ausgeschlossen hatte, konnte zurückbleiben. Damit war das Kroatiendeutschtum im Hinblick auf die Kriegslage noch rechtzeitig und in seiner überwiegenden Mehrheit evakuiert worden.

Ungleich schwieriger stellte sich das Evakuierungsproblem in den deutschen Hauptsiedlungsgebieten der Batschka und des Banats dar. Nach der rumänischen Kapitulation am 23. 8. 1944 und der dadurch ausgelösten militärischen und politischen Verwirrung der letzten Augusttage, auf die der schnelle Vorstoß der "2. ukrainischen Front" Malinowskis in Richtung auf die Theiss folgte 14 , wurden die Volksdeutschen in der 1941 ungarisch gewordenen Batschka und Baranja unmittelbar vor die Entscheidung zur Flucht gestellt. Aus politischen Rücksichten auf den letzten Bundesgenossen des Reiches in Südosteuropa waren genaue Evakuierungspläne nicht aufgestellt worden. Nur für das Gebiet um Neusatz war eine Räumung in Aussicht genommen, die allerdings auch erst in den ersten Oktobertagen überhastet und nur teilweise verwirklicht wurde. Als der russische Angriffskeil nördlich an Groß-Betschkerek vorbei auf Neusatz zu in die südöstliche Batschka vorstieß, wurde am 4. 10. in der Stadt zur Flucht aufgefordert; am 9. 10. verließen sie die letzten Flüchtlinge auf einigen donauaufwärts fahrenden Kähnen 15 . Südlich der Linie Apatin-Tscherwenka, also im Südteil der Batschka, setzten sich Trecks zwischen dem 8. und 11. 10. 1944 in Marsch; einem Teil der Volksdeutschen gelang es, den bequemeren Schiffsweg bis Mohaćs zu wählen, wo auch die Trecks eintrafen, um weiter nördlich bei Baja die Donau zu überqueren 16 . Kleinere Gruppen konnten von Mohaćs oder doch von ödenburg aus die Bahn benutzen, während die Trecks gewöhnlich nach zwei Monaten beschwerlicher Reisezeit in den schlesischen oder oberösterreichischen Auffangquartieren eintrafen, die sie


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im März oder noch im April 1945 in erneuter Flucht vor der Roten Armee verließen.

In der nördlichen Batschka blieb die Flucht durchweg der Einzelinitiative der Donauschwaben überlassen. Auf dem gleichen Wege wie die Wagenkolonnen aus dem Süden verließen die Trecks der Volksdeutschen Bevölkerung die Heimat und machten dann die gleichen Erfahrungen. Vor allem Angehörige der jüngeren Generation zogen die Flucht der von der Besetzung ihrer Dörfer durch Russen drohenden Gefährdung vor, wogegen die Älteren im Vertrauen auf ihre bewiesene Loyalität und nicht gewillt, den ererbten Besitz freiwillig aufzugeben, blieben und das Risiko einer noch ungewisseren Zukunft auf sich nahmen.

War es in der Batschka und Baranja etwa die Hälfte der Deutschen, der die Flucht gelungen sein mochte, so bei den Banaler Schwaben weniger als einem Zehntel; nur das in Belgrad konzentrierte Deutschtum Nedić-Serbiens wurde noch vor Beginn der Belagerung mit Eisenbahn und Schiffen rechtzeitig evakuiert 17 . Die Volksgruppenführung in Groß-Betschkerek hatte zwar einen minutiös genauen Evakuierungsplan für das gesamte Banat ausgearbeitet, der Befehl zum Aufbruch wurde jedoch in den letzten Septembertagen, als sich die Truppen von Tolbuchins "3. ukrainischer Front" näherten, immer wieder hinausgezögert. Der höhere SS- und Polizeiführer in Belgrad, Behrens, und sein Vertreter bei der Volksgruppenführung, SS-Brigadeführer Fiedler, widersetzten sich strikt jeder Vorbereitung zur Flucht, und vage Gerüchte über den Einsatz frischer deutscher Verbände oder gar der "Wunderwaffen" bewogen auch die Verantwortlichen um Dr. Janko zu weiterem Abwarten. Immerhin bedeutete der am 13.-15. 9. 1944 unternommene Vorstoß deutscher und ungarischer Truppen bis vor Temeschburg insofern ein warnendes Zeichen für das serbische Banat, als die kurzfristige Besetzung des größten Teils des rumänischen Banats sogleich zur systematischen Evakuierung der deutschen Bevölkerung benutzt wurde, deren Trecks durch das serbische Banat nach Ungarn zogen und dort die weitere Entwicklung abwarteten 18 . Die drohende Gefahr wurde also nicht nur der Volksgruppenführung in Groß-Betschkerek, sondern auch den Deutschen der Dörfer und Städte längs der Durchfahrtstraßen unmittelbar vor Augen geführt, und fraglos hätte nach dem Scheitern des Angriffs auf Temeschburg mit allem Nachdruck auf eine zu diesem Zeitpunkt noch mögliche Evakuierung hingewirkt werden müssen. Allein Tag für Tag verging in wachsender Spannung, Fragesteller bei der Volksgruppenführung wurden vertröstet und zur Ruhe ermahnt. Am 1. 10. gingen noch einige Kindertransporte aus Kubin, Homolitz. Ploschitz und Karlsdorf mit der Eisenbahn ins Reich. Zu der geplanten Verschickung möglichst aller Kinder mit dem Ziel, ihnen die Strapazen des Trecks zu ersparen, wie diesen zu entlasten, war es bereits zu spät. Plötzlich brachen die russischen Angriffsspitzen in das Banat ein: motorisierte Truppen stießen über Modosch vor und tauchten, ohne nennenswerten Widerstand zu finden, zwischen dem 29. 9. und 5. 10. auf ihrem Weg nach Westen auch in den Dörfern der Donauschwaben


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auf 19 . Eine überstürzte Fluchtbewegung setzte hier und da noch ein: über eine Ponton-Brücke über die Theiss bei Aradac verließen Gruppen der deutschen Bevölkerung von Groß-Betschkerek einschließlich der Volksgruppenführung das Banat; ein verhältnismäßig großer Treck von 500 Personen konnte am 1. 10. mit Genehmigung der Partisanen Perlas verlassen, aus Kabin schlugen sich Volksdeutsche auf einem Kahn bis Semlin durch und gelangten von dort mit der Eisenbahn nach Österreich 20 . Familien und Einzelne strebten in regelloser Flucht den Theiss- und Donauübergängen zu, Wehrmachteinheiten nahmen auf dem Rückzug bisweilen Grüppchen auf Lastwagen mit - im allgemeinen kam jedoch der russische Vorstoß zu überraschend, als daß sich nach den verpaßten Gelegenheiten in der letzten Septemberwoche noch ein geregelter Abzug aus den donauschwäbischen Siedlungen hätte durchführen lassen. Allein aus Weißkirchen wurden dank der Initiative des deutschen Ortskommandanten die Deutschen geschlossen auf dem Wege über Belgrad evakuiert.

Die genaue Zahl der Jugoslawiendeutschen, die seit dem Oktober 1944 unter der Besatzungsherrschaft der Russen und Partisanen zurückblieben, läßt sich nicht angeben. Sorgfältige Schätzungen 21 beziffern sie auf ca. 200 000; danach ist die Mehrheit durch Evakuierung oder Flucht entkommen.


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