b. Die Flucht der ostpreußischen Bevölkerung.

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Der russische Vorstoß vom Oktober 1944 hatte dazu geführt, daß die östliche Zone Ostpreußens nahezu völlig von der Bevölkerung geräumt und die Gesamteinwohnerzahl des noch unbesetzten Landes Ende 1944 auf l ¾ Millionen abgesunken war1). Da ein beträchtlicher Teil der evakuierten Bevölkerung in den Regierungsbezirken Königsberg und Allenstein untergebracht worden war, hatte sich dort die Einwohnerzahl der Städte und Landgemeinden durchschnittlich um rund 15 Prozent erhöht2). Diese dichte Ansammlung von Menschen in dem kleiner gewordenen ostpreußischen Raum erschwerte von vornherein die Flucht.

Als Mitte Januar 1945 vom Osten und Süden der russische Großangriff auf Ostpreußen begann, traf er auf eine Provinz, deren oberste Parteiführung ohne Bedacht auf die exponierte Lage Ostpreußens hartnäckig die Notwendigkeit vorsorglicher Evakuierungen leugnete und an dieser Haltung auch dann noch festhielt, als der Vormarsch der Roten Armee nach Ostpreußen in vollem Gange war3). Die Eifersucht, mit der der Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar von Ostpreußen darüber wachte, daß kein Räumungsbefehl in den Städten und Landgemeinden gegeben wurde, den er nicht genehmigt hatte, führte dazu, daß die Anordnungen der Gauleitung in Königsberg ständig hinter der Entwicklung der militärischen Lage herhinkten und die Räumungserlaubnis oft erst gegeben wurde, als eine ordnungsgemäße und gelenkte Evakuierung längst unmöglich geworden war. Vielerorts waren die Räumungsbefehle völlig überflüssig geworden, weil sich die Bevölkerung bereits selbständig auf die Flucht begeben hatte.

Eine rechtzeitige und organisierte Räumung fand fast nirgends statt, vielmehr stellte der Aufbruch der ostpreußischen Bevölkerung meist eine regellose, im letzten Moment ausgelöste und oft völlig verwirrte Flucht dar. Und dabei erwies es sich noch als ein Glück, daß sich wenigstens ein Teil der Bevölkerung nicht um das Fluchtverbot kümmerte, sondern, ohne die Bekanntgabe des Räumungsbefehls abzuwarten, mit der Eisenbahn oder auf dem Treckwege die bedrohten Wohnorte verließ.

Der Verlauf, die Richtung und der Erfolg der Flucht der ostpreußischen Bevölkerung waren in erster Linie bestimmt vom Ablauf der militärischen Operationen. Durch diese und die geographische Lage Ostpreußens bedingt, ergaben sich für die Flucht verschiedene zeitliche und örtliche Schwerpunkte.

Der erste Abschnitt der Flucht setzte etwa am 19./20. Januar ein und dauerte bis zur Abschnürung Ostpreußens bei Elbing am 26. Januar. Während dieser Zeit verlief die Fluchtbewegung im allgemeinen von Osten nach Westen. Aus den nordöstlichen Kreisen Labiau und Wehlau floh die Bevölkerung seit dem 19. Januar ins Samland und in Richtung Königsberg. Aus den östlich der Masurischen Seen gelegenen Kreisen Angerburg, Lötzen, Lyck, Johannisburg,


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die im Oktober entweder gar nickt oder nur teilweise geräumt waren, begann der Aufbruch ziemlich gleichzeitig am 20. Januar.

Die Flüchtlingstrecks versuchten zunächst, quer durch Ostpreußen zu kommen, um dann bei Marienwerder oder Dirschau die Weichsel zu überqueren; denn jedermann glaubte, an der unteren Weichsel werde der Vormarsch der Russen zum Stehen kommen. Der russische Vorstoß von Süden nach Elbing machte diese Absicht jedoch weitgehend zunichte.

Nur ein geringer Teil der Bevölkerung der östlichen Kreise, der schon am 20., 21. und 22. Januar auf dem Schienenwege flüchtete, hat noch vor der Einschließung Ostpreußens die westlich der Weichsel gelegenen Gebiete erreichen können. Vor allem aus Königsberg sind auf diesem Wege schon ab 15. Januar schätzungsweise 75 000 Menschen herausgekommen1). Am 21. Januar fuhren die letzten Flüchtlingszüge aus Königsberg ab, von denen einige aber bereits nicht mehr nach Elbing durchkamen und von Braunsberg nach Königsberg zurückgeleitet werden mußten2). — Schon am Vortage war durch die Einnahme Allensteins die südliche Strecke blockiert. Über andere Eisenbahnverbindungen, wie die von Lötzen über Rastenburg nach Heilsberg und Elbing, mögen am 22. Januar ebenfalls noch einige Tausende Ostpreußen verlassen haben. Spätestens ab 22. Januar war jedoch der Zugverkehr von Ostpreußen nach dem Reich auf allen Strecken eingestellt3).

Ganz aussichtslos war es für die Masse der Bevölkerung aus den östlichen Kreisen, die mit dem Treck losgezogen war, auf dem Wege nach Westen über die Weichsel zu gelangen. Schnee und Kälte trugen das Ihre dazu bei, daß ein Vorwärtskommen der Trecks auf den von Flüchtlings- und Wehrmachtsfahrzeugen verstopften Straßen sehr verzögert wurde. Es gelang kaum einem dieser Trecks, auf dem Landweg in westlicher Richtung die Weichsel zu erreichen. Am 21. Januar fiel Allenstein in russische Hand, wodurch für die südöstlichen Gebiete der Fluchtweg auf den nach Westen führenden Straßen endgütig versperrt wurde. Die unterwegs befindlichen Trecks mußten nach Norden ausweichen, und als am 23. Januar erste russische Panzer durch Elbing fuhren, war jeglicher Landweg nach Westen über die Weichsel abgeschnitten. Nur am Frischen Haff entlang konnten noch einige wenige Flüchtlinge aus der Elbinger Gegend sowie aus Tolkemit durch die Niederungen von Nogat und Weichsel nach Westen gelangen, bis am 26. Januar durch den russischen Vorstoß nach Tolkemit ans Haff auch diese beschränkte Möglichkeit fortfiel.

Zunächst etwas günstiger war die Situation für die südwestlichen und westlichen Kreise Ostpreußens, durch die der sowjetische Durchbruch aus dem Raum Ciechanów—Soldau nach Elbing führte.

Vom 19. bis 21. Januar fuhren aus den Kreisen Neidenburg, Ortelsburg, Allenstein, Osterode, Mohrungen und Pr. Holland noch mehrere Flüchtlingszüge entweder über Dt. Eylau und Thorn nach Südwesten oder über Marienburg und Elbing nach Nordwesten. Der ungeheuer schnelle russische Vormarsch, der bereits am 18. Januar den am weitesten südlich gelegenen Kreis


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Neidenburg erreichte, am 19. und 20. die Kreise Ortelsburg, Osterode und Dt. Eylau erfaßte und sich am 21./22. Januar auf das Gebiet um Allenstein, Mohrungen und Pr. Holland ausdehnte, verursachte auf den Bahnhöfen der Städte ungeheure Menschenansammlungen1). Dieser russische Vorstoß wurde aber vor allem denen zum Verhängnis, die sich seit dem 19. Januar auf dem Treck nach Norden und Nordwesten unterwegs befanden. Mit Ausnahme derjenigen Trecks aus dem Kreise Pr. Holland und aus der westlichen Hälfte des Kreises Mohrungen, die den direkten Weg nach Westen in Richtung Marienburg eingeschlagen hatten und sich auf diese Weise der Einschließung Ostpreußens entziehen konnten2), bewegten sich die Dorf- und Gutstrecks aus den südlichen und südwestlichen Kreisen auf den Straßen nach Nordwesten in Richtung Elbing/Frisches Haff, also genau auf der Linie und in der Richtung, die die sowjetischen Panzer für ihren Vormarsch gewählt hatten.

Ein Teil der Trecks aus den Kreisen Ortelsburg, Allenstein, Mohrungen konnte noch rechtzeitig nach Norden abschwenken, der größere Teil aber fiel in russische Hand. Besonders die Trecks aus dem Kreise Osterode, der im Zentrum der russischen Angriffsbewegung lag, wurden meist schon im Kreisgebiet von sowjetischen Panzern überrollt3).

Groß war in diesem südwestlichen Teil Ostpreußens auch die Zahl derer, die noch, ehe sie sich zur Flucht entschlossen hatten, in ihren Heimatdörfern und -Städten unter die Russen gerieten. In Allenstein war noch die Hälfte der Bevölkerung in der Stadt, als diese völlig überraschend von sowjetischen Truppen besetzt wurde, und auch in der Stadt Osterode hielten sich während des russischen Einmarsches noch Tausende von Einheimischen und Flüchtlingen auf.

Von den über 500 000 Menschen, die im Südwestteil Ostpreußens (südlich der Linie Elbing—Allenstein—Ortelsburg) lebten, wurde etwa die Hälfte infolge des sowjetischen Vorstoßes, der zur Abschnürung Ostpreußens führte, überrascht bzw. unterwegs überrollt. Rund ein Viertel gelangte mit der Eisenbahn, mit Kraftwagen oder mit dem Treck nach Westen über die Weichsel, und die übrigen flohen in den Raum südlich des Frischen Haffs, der in den folgenden Wochen im Brennpunkt der Fluchtbewegung in Ostpreußen stehen sollte.

Nachdem schon eine Woche nach dem Beginn der Fluchtbewegung der direkte Landweg von Ostpreußen nach dem Reich unterbrochen war, blieben nur noch zwei Fluchtmöglichkeiten: über See im Schiffstransport von Pillau aus oder über das Eis des Frischen Haffs auf die Nehrung und von dort aus über Kahlberg und die Weichselmündung nach Danzig und dann weiter nach Pommern.

Für die Bevölkerung, die sich im nördlichen Zipfel Ostpreußens (nördlich des Pregels) befand, war der Weg nach dem Samland und Pillau der gegebene, während die Masse der aus den südöstlichen und mittleren


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ostpreußischen Gebieten fliehenden Bevölkerung den Weg zum Frischen Haff einschlug. Diejenigen Trecks, die aus den östlich der Masurischen Seen gelegenen Kreise Lötzen, Lyck und Johannisburg schon am 20./21. Januar aufgebrochen waren und sich zunächst in westlicher Richtung bewegt hatten, bogen jetzt nach Nordwesten um und zogen durch die Kreise Sensburg, Rössel und Rastenburg. Dazu kamen noch Teile der Trecks aus dem Kreis Ortelsburg, die vor dem südlichen russischen Angriff geflohen waren. Dadurch strömte in dem Gebiet unmittelbar westlich der Masurischen Seen bald eine unübersehbare Menge von Flüchtlingen zusammen. Als schließlich seit dem 25. Januar auch die Bevölkerung der Kreise Rastenburg, Sensburg und Rössel vor den nachdrängenden Russen die Flucht ergriff, waren die Straßen bald so verstopft, daß die Bewohner mancher Ortschaften die Flucht als aussichtslos betrachteten und die sowjetischen Truppen zu Hause erwarteten1).

Der harte ostpreußische Winter, die Nachrichten von dem Vorstoß der Sowjets bis nach Elbing und bis vor Königsberg sowie das sichtbare Elend der Flüchtlingszüge nahmen Teilen der Bevölkerung allen Mut, sich an den Aufbruch zu machen. Am 26. Januar wurde Rastenburg, am 28. die Städte Sensburg und Rössel von Truppen der Roten Armee eingenommen, und dabei fielen nicht nur zahlreiche Bewohner dieser Städte in russische Hand2), sondern auch viele Trecks aus den weiter östlich gelegenen Gebieten, die nicht schnell genug vorangekommen waren.

Dennoch gab die Bevölkerung im ganzen die Flucht keineswegs auf. Obwohl der feindfreie Raum südlich des Haffs Ende Januar zusehends kleiner wurde, strömten weitere Massen von Osten und Süden in die Kreise Pr. Eylau, Heilsberg, Braunsberg und Heiligenbeil ein, wobei die nachdringenden Russen unter der fliehenden Bevölkerung immer wieder heillose Verwirrung anrichteten3). Trecks und Flüchtlinge aus nahezu allen ostpreußischen Kreisen trafen hier zusammen4), und es entstand eine Zusammenballung von Menschen, der das Organisationsvermögen der Behörden nicht mehr gewachsen war. Kälte, Hunger und Luftangriffe kamen hinzu und verursachten besonders in den Städten Braunsberg, Mehlsack und Heiligenbeil hohe Verluste5).

Seit Ende Januar bis in die letzten Februartage vollzog sich von der Haffküste bei Heiligenbeil und Braunsberg der Abmarsch von Hunderttausenden von Flüchtlingen über das Eis des Frischen Haffs nach der Nehrung6). Während der Kessel südlich des Haffs hartnäckig von deutschen Truppen verteidigt und nur in wochenlangen Kämpfen eingeengt werden konnte, zogen


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Tag und Nacht auf abgesteckten Treckwegen Tausende von Menschen und hochbeladenen Pferdewagen durch diese letzte, gefahrvolle Öffnung des russischen Einschließungsrings um Ostpreußen. Einbrüche in das Eis, russische Luftangriffe auf den endlosen Flüchtlingszug und Bombenabwürfe auf die Eisdecke sowie Erfrierungen, Hunger, Durst und das Übermaß der Anstrengungen kosteten während dieser Flucht über das Eis und die Nehrung vielen Menschen das Leben1).

Vom Haff aus führte der Weg der Flüchtlinge auf der Nehrungsstraße in westlicher Richtung nach Kahlberg und Stutthof. Der weitaus größte Teil der Menschen, die glücklich die Nehrung erreichten, setzte die Flucht auf diesem Wege nach Danzig und Pommern fort. Ein geringer Teil wandte sich auf der Landzunge ostwärts nach Neutief und suchte, unter Zurücklassung von Pferden und Wagen, von Pillau aus über See in das westliche Reichsgebiet zu gelangen2). Ende Februar begann die Eisdecke zu schmelzen; damit wurde der Flucht über das Haff ein Ende gesetzt.

Inzwischen war auch der Kessel an der Haffküste immer enger geworden. Ein Teil der einheimischen Bevölkerung und der Flüchtlinge war in den Kreisen Braunsberg und Heiligenbeil während der wochenlangen schweren Kämpfe, die diesen Landstreifen verwüsteten, bereits unter die Russen geraten oder hatte sich, von dem Elend und den Gefahren der Flucht über das Haff abgeschreckt, zur Aufgabe weiterer Fluchtversuche entschlossen. Die überwiegende Mehrzahl der Menschen, die sich in den Monaten Januar und Februar südlich des Haffs zusammengedrängt hatten, war jedoch über das Eis entkommen. Ihre Zahl kann auf knapp eine halbe Million berechnet werden3).

Nachdem Ende Februar die Flucht über das Haff geendet hatte und Ende März die Abwehrkämpfe im Kessel von Heiligenbeil endgültig eingestellt werden mußten, blieben nur noch in Königsberg und im Samland letzte Schlupfwinkel für die deutsche Bevölkerung. In den letzten Januartagen war der Angriff sowjetischer Truppen mit voller Wucht in den Raum um Königsberg und ins Samland hineingetragen worden. Er hatte dazu geführt, daß


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Königsberg eingeschlossen und die Samlandfront bis dicht an die Ostseeküste zurückgedrängt wurde.

Einige Zehntausende von Einheimischen und Flüchtlingen waren in Cranz und anderen Orten des Samlandes von sowjetischen Einheiten überrascht worden1), und auch nördlich von Königsberg kam es im Zuge der Einschließung der Stadt in und bei Metgethen für die in Richtung Pillau fliehenden Menschen zu einer Begegnung voller Schrecken mit russischen Truppen2).

Der Masse der im Samland zusammengeströmten Flüchtlinge und der einbeimischen Bevölkerung gelang es jedoch, sich zunächst entweder in die Stadt Königsberg oder in den schmalen Küstenstreifen von Neukuhren bis nach Pillau und Fischhausen zu retten3). Über 150 000 Menschen befanden sich zu dieser Zeit in Königsberg und über 200 000 wurden in den noch feindfrei gebliebenen Raum des Samlandes zusammengedrängt.

Die Königsberger Bevölkerung war zunächst mit Eisenbahnzügen geflohen, bis der Zugverkehr nach dem Reich am 21. Januar aufhörte. Danach hatten sich große Teile nach Pillau begeben4), um von dort aus entweder über die Nehrung nach Westen zu gelangen oder über See ins Reich abtransportiert zu werden. Als Ende Januar 1945 die Einschließung der Stadt vollendet war, wurden noch geringe Teile der Bevölkerung zu Schiff von Königsberg nach Pillau gebracht5), und Mitte Februar, nachdem im Norden der Stadt die Verbindung nach dem Samland für einige Wochen wieder freigekämpft war, konnten noch weitere Teile der Zivilbevölkerung aus Königsberg ins Samland übergeführt werden6). Dennoch blieben ca. 100 000 Menschen in Königsberg zurück7). Viele von ihnen kamen den Räumungsaufforderungen der Partei absichtlich nicht nach, weil sie sich in der Stadt sicherer glaubten als im Samland oder auf dem gefahrvollen Fluchtweg über Pillau8).

Fortgesetzte Bombenabwürfe und Artilleriebeschuß auf Königsberg zerstörten während der Wochen der Einschließung einen großen Teil der ohnehin durch Luftangriffe schon früher schwer mitgenommenen Stadt und


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richteten unter der nur noch in Kellern lebenden Zivilbevölkerung hohe Verluste au. Als schließlich am 6.—9. April der Generalangriff der Roten Armee auf Königsberg erfolgte, wurden nochmals viele Zivilisten in die Kriegsereignisse hineingerissen1). Ca. 25 Prozent der in Königsberg verbliebenen Bevölkerung waren im Laufe der Kampfhandlungen ums Leben gekommen, als am 9. April die Stadt an die Russen übergeben wurde2).

Als letzte Bastion in Ostpreußen blieb nunmehr nur noch der Streifen entlang der Samlandküste und der Raum um Pillau—Fischhausen in deutscher Hand. Noch immer betrug die Zahl der aus Königsberg, dem Samland und aus weiter östlich gelegenen Kreisen in Pillau, Fischhausen, Palmnicken, Rauschen und Neukuhren untergebrachten Menschen viele Tausende, obwohl die Hauptmasse der Flüchtlinge bereits von Pillau aus über See abtransportiert worden war.

Die ersten mit Flüchtlingen beladenen Schiffe hatten am 25. Januar Pillau verlassen, und am 15. Februar konnte in Pillau bereits registriert werden, daß 204000 Flüchtlinge mit Schiffen abbefördert und weitere 50000 nach Neutief übergesetzt und im Treck oder Fußmarsch auf der Frischen Nehrung weiter geleitet worden waren3).

Aber noch immer strömten viele Tausende nach Pillau. Sie kamen nicht nur über Land, sondern auch von Neukuhren aus mit kleinen Schiffen an4). Die Stadt beherbergte an manchen Tagen über 75 000 Menschen, unter denen die ständigen sowjetischen Fliegerangriffe hohe Verluste anrichteten. Allein in der Zeit von Anfang März bis Mitte April fanden 13 schwere Luftangriffe auf Pillau statt, während gleichzeitig auch sowjetische Artillerie Stadt und Hafen beschoß5).

Vom 8. März an mußte für ca. drei Wochen der Abtransport von Flüchtlingen aus Pillau eingestellt werden, weil aller zur Verfügung stehende Schiffsraum in dieser Zeit zum Abtransport der Flüchtlinge aus den Städten Danzig und Gdingen benötigt wurde, denen in Kürze die Einnahme durch sowjetische Truppen drohte6). In dieser Zeit, als keine Schiffe von Pillau abfuhren, zogen viele Tausende nach Neutief herüber und die Nehrung entlang, denn von der Danziger Niederung aus verkehrten auch nach der Einnahme Danzigs noch Fährprähme nach Hela, von wo aus dann der Weitertransport ins Reich erfolgen konnte.

Ab Ende März wurde der Schiffsverkehr von Pillau aus nach dem Westen wieder aufgenommen. Erst als nach dem Fall von Königsberg der sowjetische


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Großangriff gegen die Samlandfront Mitte April begann1), stand auch für das Fluchtzentrum Pillau das Ende bevor. Innerhalb weniger Tage mußten die letzten Verteidigungsstellungen längs der Samlandküste aufgegeben werden. Aus Neukuhren, Rauschen und z. T. auch aus Palmnicken und der Stadt Fischhausen konnte nur noch ein Teil der Bevölkerung fliehen. Zahlreich waren auch diejenigen, denen der Mut zu einer weiteren Flucht gesunken war und die resigniert den Einzug der Russen abwarteten2). Am 20. April begann der Kampf um die Festung Pillau, der nach fünf Tagen mit dem Übersetzen sowjetischer Truppen nach Neutief endete. Zahlreiche Soldaten fielen dabei in russische Hände, aber der Hauptteil der Flüchtlinge war bereits vorher abbefördert worden.

Die Flucht nach Pillau hatte sich für Hunderttausende als Rettung erwiesen. Insgesamt verließen von Ende Januar 1945 bis Ende April 451 000 Flüchtlinge mit Schiffen den Hafen von Pillau, und in der gleichen Zeit wurden 180000—200000 Menschen nach Neutief übergesetzt3).

Durch Schiffsuntergänge fanden mehrere Tausende ein entsetzliches Ende4). Die überwiegende Mehrzahl der über See abtransportierten Flüchtlinge kam jedoch wohlbehalten im westlichen Reichsgebiet oder in dem damals noch von deutschen Truppen besetzten Dänemark an5).

Während der sowjetischen Offensive gegen Ostpreußen haben über 75 Prozent der ostpreußischen Bevölkerung, die Anfang 1945 noch im Lande war, Ostpreußen verlassen, um dem sowjetischen Zugriff und den russischen Truppen zu entgehen. Nur ca. 400 000 Menschen sind entweder durch den sowjetischen Vormarsch überrascht worden oder aus persönlichem Entschluß in Ostpreußen zurückgeblieben6). Es kann angenommen werden, daß dazu die zahlenmäßig kleine Gruppe der echten polnischen Minderheit gehörte, obwohl darüber keine Zeugnisse vorliegen. Zusammen mit den ca. 100 000 Menschen, die schon im Herbst 1944 im Memelland und im Regierungsbezirk Gumbinnen in die Hände der Russen gefallen waren, blieben somit rund eine halbe Million Menschen in Ostpreußen zurück. — Faßt man den Verlauf der Flucht der ostpreußischen Bevölkerung vom Herbst 1944 bis zum April 1945 in wenige große Abschnitte und ungefähre Zahlen zusammen, so ergibt sich folgendes Bild:


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Für Hunderttausende von Menschen war mit dem Verlassen der ostpreußischen Heimat jedoch ihr Leidensweg noch nicht beendet. Sie gerieten im Raum um Danzig und in Ostpommern abermals in das Chaos des Krieges hinein, und viele von ihnen wurden noch dort von russischen Truppen erfaßt.