c. Die Flucht der deutschen Bevölkerung aus Danzig-Westpreußen und Ostpommern.

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Das von der Provinz Ostpreußen sich nach Westen hin erstreckende Land, das im Süden durch den Lauf der Netze, im Westen durch die Oder und im Norden durch die Ostseeküste begrenzt wird, war im Verlauf der militärischen Kampfhandlungen seit Ende Januar 1945 ein gesondertes Operationsgebiet. Der russische Vorstoß über Thorn—Bromberg—Schneidemühl nach Küstrin hatte wohl auch die südlichen Kreise Westpreußens und Pommerns berührt, er ließ aber an seiner nördlichen Flanke zwischen Weichsel und Oder einen ca. 100 km breiten Landstrich entlang der Ostseeküste verschont. Zur gleichen Zeit war dieses Gebiet durch den sowjetischen Angriff in Richtung Elbing auch von Ostpreußen getrennt worden. Nur über die Landzunge der Frischen Nehrung bestand, wie erwähnt, eine schmale Verbindung mit Ostpreußen, über die Hunderttausende von Flüchtlingen nach der Weichselniederung und nach Danzig und Pommern hineinströmten.

So wurde dieses Gebiet, das den Nordteil Westpreußens mit der Weichselmündung, Danzig, Gdingen und Hela sowie Ostpommern umfaßte, seit Ende Januar der große Auffang- und Durchmarsch-Raum für die Flüchtlinge aus Ostpreußen und den westpolnischen Gebieten. Mit rund 800 000 Flüchtlingen stellte Ostpreußen den Hauptanteil dieses Zuzuges.

Die ostpreußischen Flüchtlinge durchlebten, nachdem sie Ostpreußen verlassen hatten, ein sehr verschiedenes Schicksal. Viele durchzogen in endlosen


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Trecks Pommern1), ein Teil trat mit der Eisenbahn von Danzig oder Pommern die Fahrt nach dem Reichsgebiet westlich der Oder an2), und anderen gelang es, in Danzig ein Schiff zu besteigen, das sie in Sicherheit brachte3). Schätzungsweise die Hälfte aller ostpreußischen Flüchtlinge blieb aber im Raum von Danzig oder Pommern und wurde später, im März, von russischen Truppen überrollt4). Zu dieser großen Anzahl ostpreußischer Flüchtlinge kamen schätzungsweise noch 100 000—200 000 Flüchtlinge hinzu, die in den letzten Januartagen aus den nördlichen Kreisen des Warthegebietes fliehen mußten und von Süden her nach Pommern hineinzogen5).

Abgesehen von all diesen Flüchtlingen, von denen etwa die Hälfte (ca. eine halbe Million) in Westpreußen, Danzig und Pommern blieb, lebten zu dieser Zeit fast drei Millionen einheimischer Deutscher in dem Gebiet zwischen Ostpreußen und dem Unterlauf der Oder: über 1,6 Millionen allein in Ostpommern, 404 000 im Gebiet der Freien Stadt Danzig, 310 000 in den alten westpreußischen Gebieten, die bis 1939 zu Ostpreußen gehört hatten, und weitere 307 000 in dem seit 1920 polnischen Teil des Reichsgaues Danzig-Westpreußen.

Die zeitlich früheste Berührung mit den sowjetischen Truppen innerhalb dieses Bereichs fand in Westpreußen statt, dessen östlich der Weichsel gelegene Teile von Elbing bis Thorn von dem russischen Vorstoß zur Abschnürung Ostpreußens gleichzeitig und in gleichem Maße erfaßt wurden wie die benachbarten ostpreußischen Kreise6). Im Gegensatz zur Provinz Ostpreußen waren für die östlich der Weichsel gelegenen Bezirke Westpreußens seit dem Herbst 1944 detaillierte Räumungspläne mit begrenzten, nahegelegenen Zielen aufgestellt, die Treckwege für die Bevölkerung festgelegt und Aufnahmekreise im benachbarten Gebiet westlich der Weichsel bestimmt worden7). Dennoch wurde auch hier die Ausgabe der Räumungsbefehle in den entscheidenden Tagen der zweiten Januarhälfte so lange verzögert, daß die vorbereiteten Pläne durch die Ereignisse über kurz oder lang umgestoßen wurden. Lediglich in den am weitesten östlich gelegenen Kreisen Lipno, Rypin, Strasburg und Neumark wurde der Räumungsbefehl bereits am 18. Januar gegeben und dadurch — so vor allem im Kreise Neumark8) — eine rechtzeitige und nahezu vollständige Evakuierung der deutschen Bevölkerung nach den vorgesehenen Aufnahmekreisen westlich der Weichsel ermöglicht.

Weniger reibungslos verlief die Flucht der Bevölkerung vor den von Süden nach Norden vorstoßenden sowjetischen Truppen in den nördlich angrenzenden Kreisen Rosenberg und Marienwerder, die erst am 20. Januar


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Fluchterlaubnis erhielten, und in den Kreisen Stuhm und Marienburg, wo die Räumung bis zum 23. Januar hinausgezögert wurde. Da russische Panzer bereits am 23. Januar auf ihrem Vorstoß in Richtung Elbing diese Gebiete erreichten und da überdies die Straßen und die Nogat- und Weichselübergänge bereits von ostpreußischen Flüchtlingen verstopft waren1), wurden mehrere Trecks noch östlich von Nogat und Weichsel von russischen Truppen erfaßt2). Immerhin gelangte die große Mehrheit der Bevölkerung ans den fast ausschließlich deutsch bewohnten Kreisen zwischen Nogat, Weichsel und der ostpreußischen Grenze nach dem westlichen Teil Westpreußens oder nach Pommern, wo allerdings ein beträchtlicher Teil im März von den sowjetischen Truppen eingeholt wurde3). Auch der Abtransport der städtischen Bevölkerung mit der Eisenbahn gelang zum größten Teil noch in letzter Minute4).

Die Weichselübergänge bei Marienwerder und Dirschau sowie an der Nogat bei Marienburg und die Stadt und Umgebung von Elbing standen in diesen Tagen im Brennpunkt der Fluchtbewegung5). Seit dem 15. Januar waren die von Elbing abfahrenden Eisenbahnzüge bereits durch Flüchtlinge aus Königsberg überfüllt, zahlreiche Trecks aus Ostpreußen waren durch Elbing hindurchgefahren, und viele Flüchtlinge hatten sich in der für sicher geltenden Stadt niedergelassen. Zusammen mit den über 90 000 einheimischen Elbingern bildeten sie eine große Massierung von Menschen, die plötzlich in panischer Angst die Flucht zu ergreifen begannen, als am 23. Januar die ersten russischen Panzer nach Elbing eindrangen. In den folgenden Tagen begann ein Sturm auf die wenigen noch fahrenden Züge und alle sonstigen Transportmittel. Da bis zum 30. Januar der Weg nach dem Westen und Norden mit Unterbrechungen offen blieb, ist es schließlich ca. 80 Prozent der in Elbing zusammengedrängten Menschen noch gelungen, nach Danzig und Pommern, teils sogar mit Booten in einer Fahrrinne quer durch das Haff nach Pillau zu entkommen. Mehrere Tausende blieben jedoch während der Einschließimg in der Stadt und fielen am 9. Februar bei der Einnahme Elbings in die Gewalt der sowjetischen Truppen6). Im Landkreis Elbing war der Anteil der Bewohner, die durch den überraschenden russischen Vorstoß überrollt wurden, jedoch wesentlich größer.

Etwa gleichzeitig mit dem Aufbruch der Bevölkerung aus den alten deutschen Gebieten längs der ostpreußischen Grenze setzte der Abzug der deutschen Einwohner der teils deutsch, teils polnisch bewohnten Gebiete um Graudenz, Kulm, Schweiz, Thorn und Bromberg ein7). Bis Ende


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Januar 1945 waren auch hier alle Gebiete östlich der Weichsel und südlich der Linie Graudenz—Zempelburg von russischen Angriffen erfaßt worden. Ab 22./23. Januar begann die Flucht der Deutschen aus Thorn, Bromberg und Graudenz und Umgebung, teils mit der Bahn, teils mit dem Treck1), und innerhalb kürzester Frist war im ganzen Südabschnitt Westpreußens der Abzug der deutschen Bevölkerung nach Westen im Gange.

Da die Weichselbrücken den Wehrmachtkolonnen vorbehalten waren, mußten die Trecks über das Eis des Stromes ziehen2). Je weiter die Flüchtlingszüge nach Westen kamen, desto ärger wurden die Verstopfungen der Wege und Straßen. Im Kreis Wirsitz, an der pommerschen Grenze, war das durch die Flüchtlinge erzeugte Chaos so groß geworden3), daß für Teile der dort ansässigen Bevölkerung alle Fluchtversuche vergeblich blieben4). Ganz allgemein muß angenommen werden, daß aus den südlichen Kreisen Westpreußens nur ein geringerer Teil der deutschen Bevölkerung herausgelangte als aus den einheitlich deutsch besiedelten Gebieten an der ostpreußischen Grenze5).

Im Anschluß an die Ereignisse in Westpreußen und die gleichzeitigen Operationen im Warthegebiet und Ostbrandenburg6) begann Ende Januar 1945 der erste Einfall sowjetischer Truppen in die südlichen Gebiete Ostpommerns. Im Zusammenhang mit dem russischen Vorstoß über Schneidemühl nach Küstrin, dessen offensichtliches Ziel es war, auch die Odermündung bei Stettin zu erreichen, drang die Rote Armee in den letzten Januartagen nördlich der Netze in den Netzekreis und die Kreise Flatow, Dt. Krone, Friedeberg und Arnswalde vor. Die Bevölkerung dieser ostwärts der Pommernstellung gelegenen Kreise hatte etwa ab 20. Januar die Aufforderung bekommen, sich auf den Treck vorzubereiten; aber als schließlich am 26. Januar die ersten russischen Panzer erschienen, herrschte eine völlige Verwirrung. Räumungsbefehle wurden ausgegeben und widerrufen7). Teile der Bevölkerung machten sich trotz Schneesturms und härtester Kälte auf den Weg-Teile blieben zurück und wurden von den sowjetischen Truppen noch in ihren Wohnorten angetroffen8), andere gerieten schon kurz nach dem Abmarsch unter vorrückende russische Einheiten9). Außer der Stadt Schneidemühl, die schon seit dem 20. Januar bis auf wenige Tausende von der Bevölkerung geräumt war, konnte sich von den Bewohnern des Netzekreises sowie der Kreise Flatow, Dt. Krone und Friedeberg nur etwa ein Viertel bis ein Drittel der


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Bevölkerung über die Oder retten1). Günstiger lagen die Verhältnisse in den Kreisen Arnswalde, Pyritz und Greifenhagen, die erst in den ersten Februartagen von russischen Truppen erreicht wurden. Über die Hälfte der Bevölkerung konnte aus diesen nahe der Oder gelegenen Kreisen entkommen.

Im Gebiet dieser Kreise kam der russische Vormarsch in Richtung Odermündung schließlich zum Stehen. Er griff zwar noch auf die südlichen Ausläufer der Kreise Stargard, Dramburg, Neustettin und Schlochau über, konnte aber an der unteren Oder keinen Raum mehr gewinnen, da kampffähige deutsche Truppen die Oderübergänge verteidigten, Anfang Februar in Gegenangriffen sogar Geländegewinne erzielen und einen Teil der bereits unter russischer Gewalt stehenden deutschen Bevölkerung befreien konnten2). Für Pommern und Westpreußen trat nunmehr eine vierwöchige relative Ruhe ein. Die Front, die sich während des Monats Februar nur wenig veränderte, verlief ungefähr entlang der Linie Graudenz—Zempelburg—Märkisch Friedland—Stargard—Pyritz bis zum nördlichen Zipfel des Kreises Königsberg/Nm.

Innerhalb des Raumes nördlich dieser Linie, der zusätzlich zu den Flüchtlingen aus Ostpreußen und dem Warthegau große Teile der Bevölkerung aus Westpreußen und aus südpommerschen Gebieten aufzunehmen hatte, konzentrierte sich die Fluchtbewegung während der folgenden Wochen auf die Stadt und Umgebung von Danzig. Dorthin zog im Monat Februar der Hauptstrom der ostpreußischen Flüchtlinge, die über das Frische Haff gekommen waren. Ungeheure Mengen von Menschen und Fuhrwerken drängten sich auf der schmalen Nehrungstraße zusammen, und schreckliche Szenen der Verzweiflung und Not spielten sich hier ab3). Trotz umfangreicher Hilfsmaßnahmen der NSV.-Stellen, des Roten Kreuzes und anderer Organisationen in Kahlberg und Stutthof konnte dem Andrang der Verpflegung und Unterkunft Suchenden sowie der unterwegs Verletzten und Erkrankten nicht annähernd in hinreichendem Maße begegnet werden4). Da die Straßen überfüllt waren, wurden viele Flüchtlinge von Kahlberg und Stutthof in Kähnen und Schiffen nach Danzig gebracht5), andere warteten in Barackenlagern in Stutthof auf den Weitertransport. Auch in Danzig mußte ein Teil der Flüchtlingsmassen zunächst in Auffanglagern untergebracht werden, da die abfahrenden Schiffe am Hafen ebenso überfüllt waren wie die noch über Stettin nach dem westlichen Reichsgebiet verkehrenden Eisenbahnzüge6).

Viele Flüchtlinge aus Ost- und Westpreußen haben sich durch die relativ friedlichen Verhältnisse, die in Danzig und Pommern während des Februar 1945 herrschten, verleiten lassen, in diesen Gebieten zu bleiben. Noch mehr gilt dies für die einheimische Bevölkerung, von der nur sehr ge-


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ringe Teile die noch bestehenden Verbindungen nach dem Westen benutzten, um mit der Bahn, zu Schiff oder im Treck in die Gebiete westlich der Oder zu gelangen. Erschwerend wirkte in dieser Beziehung, daß für ganz Pommern und das nördliche Westpreußen die Flucht der Bevölkerung von den Parteibehörden ausdrücklich verboten und teilweise sogar den aus dem Osten kommenden Trecks die Weiterfahrt in Pommern untersagt wurde1). Infolgedessen hatte Anfang März, als der russische Großangriff auf Ostpommern und Danzig begann, die Bevölkerung dieser Gebiete keineswegs abgenommen, sondern war durch den Zuzug von Flüchtlingen noch um einige Hunderttausende vermehrt worden. Noch mindestens 2 ½ Millionen Deutsche, davon über 25 Prozent Flüchtlinge2), befanden sich im nörlichen Teil Westpreußens, im Raum um Danzig und in Ostpommern, und nur ein geringer Teil von ihnen vermochte nach Beginn des russischen Angriffs in den ersten Märztagen nach Westen über die Oder zu gelangen.

In den letzten Februartagen begannen die sowjetischen Armeen — unterstützt von der 1. polnischen Armee — gleichzeitig in Westpreußen und in Ostpommern ihre entscheidenden Angriffe zur Gewinnung der Ostseeküste und zur Besetzung des Landes zwischen dem Unterlauf der Weichsel und dem Unterlauf der Oder. Von Süden nach Norden wurde innerhalb von knapp 14 Tagen ganz Ostpommern in Besitz genommen. Die zwei Hauptstöße der sowjetischen Truppen im Raum Ostpommerns führten einerseits aus dem Raum Friedeberg—Arnswalde nach der Odermündung bei Stettin und weiter nordwärts zur Ostseeküste bei Cammin und andererseits aus dem Raum Schneidemühl—Dt. Krone über Neustettin, Bublitz nach der Ostseeküste östlich Köslin. Beide Ziele wurden in kürzester Zeit erreicht, und damit entstand eine für die flüchtende Bevölkerung Pommerns fast aussichtslose Lage. Schon am 1. März standen russische Truppen östlich Köslin an der Ostseeküste, wodurch Ostpommern in zwei Teile gespalten und für alle östlich der Linie Neustettin—Köslin liegenden Kreise die Landverbindung nach Westen abgeschnitten war.

Aber auch für die westliche Hälfte Ostpommerns waren die Fluchtmöglichkeiten sehr zusammengeschrumpft, da die russischen Truppen schon am 3. März die Odermündung bei Stettin erreicht hatten und die wichtigsten Straßen- und Bahnverbindungen, die aus Ostpommern herausführten, versperrt waren. Größer als in anderen ostdeutschen Provinzen war deshalb in Ostpommern die Zahl derjenigen, denen die Flucht nicht mehr gelang, zumal auch in Pommern Räumungsverbote der Partei von einem rechtzeitigen Aufbruch abhielten oder ihn verhinderten3). Teils ohne, teils mit Räumungs-


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erlaubnis suchten dennoch Hunderttausende aus Pommern den Russen zu entkommen. In der westlichen Hälfte Ostpommerns erreichte die Fluchtwelle, die in den Kreisen Neustettin und Köslin schon in den letzten Februartagen begann, ihren Höhepunkt in den Tagen vom 3.—7. März. Ein Teil der Bevölkerung aus den Kreisen Köslin, Beigard, Dramburg flüchtete zunächst mit dem Treck oder der Eisenbahn in Richtung Kolberg1), um von dort aus entweder mit dem Schiff oder an der Ostseeküste entlang über Dievenow nach dem Westen zu kommen2).

Auch in den anderen Kreisen zielte die allgemeine Fluchtrichtung nach Norden und Nordosten3). Doch in den meisten Fällen waren die russischen Truppen schneller als die durch Verkehrsstauungen gehemmten Fuhrwerke der Zivilbevölkerung. Zahllose Trecks und mehrere mit Flüchtlingen belegte Eisenbahnzüge wurden auf den von Süden nach Norden und Nordosten führenden Straßen und Bahnstrecken bei Belgard und vor Kolberg überrollt4). Als schließlich am 3. März der Vorstoß sowjetischer Truppen an die Küste bei Kolberg erfolgte, war abermals für eine große Zahl von Trecks der Weg nach Westen abgesperrt. Manche von ihnen retteten sich nach Kolberg und konnten später während der Belagerung der Stadt über See abtransportiert werden5). Immer mehr verengte sich die noch vom Feinde freie nordwestliche Ecke Ostpommerns zwischen Stettiner Haff und Ostseeküste. Am 3. März waren russische Truppen bereits in die Kreise Cammin, Regenwalde und Greifenberg eingebrochen, hatten am 4. März Treptow genommen und auf den Straßen Labes—Schivelbein und Kolberg—Treptow zahllose Flüchtlinge überrascht6). Im Schütze deutscher Truppen, die sich ebenfalls in aller Eile von Ost nach West bewegten, gelang es bei der allgemeinen Verwirrung der Lage noch einigen wenigen, die bereits von russischen Vorhuten eingeholt worden waren, die Flucht fortzusetzen7). Für die meisten aber war es viel zu spät, um noch dem Feinde zu entrinnen8).

Am 7. März waren russisch-polnische Einheiten beiderseits Kolberg bis an die Ostseeküste vorgestoßen, und damit begann die Belagerung der Stadt9). Trotz eiligen Abzuges großer Teile der Bevölkerung in westlicher Fichtung an der Küste entlang über Treptow10) befanden sich z. Zt. der Einschließung noch ca. 80 000 Menschen in Kolberg, von denen über die Hälfte Flüchtlinge aus den Kreisen Köslin und Beigard waren. Dank der zähen Verteidigung gelang es aber bis zur Einnahme der Stadt (18. März) 70 000 Menschen über See abzutransportieren11). Nur einige Tausende blieben zurück12).


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Ehe Kolberg fiel, war auch der letzte Durchschlupf nach Westen an der Ostseeküste bei Dievenow geschlossen worden. Bis zum 10. März hatte dort noch ein schmaler Streifen unmittelbar am Ostseestrand gehalten werden können, durch den noch Tausenden von Menschen der Übergang auf die Insel Wollin oder der Abtransport zu Schiff nach Swinemünde ermöglicht wurde1).

Indessen hatte sich im östlichsten Zipfel Pommerns eine Fluchtbewegung in entgegengesetzter Richtung vollzogen. Für die Bevölkerung der Kreise Rummelsburg, Bütow, Schlawe, Stolp und Lauenburg bestand, seitdem die Russen am 1. März die Ostsee bei Köslin erreicht hatten, keine Möglichkeit mehr, auf dem Landweg nach Westen zu gelangen. Und auch alle Flüchtlinge, die von Ostpreußen, Westpreußen oder Danzig her sich in diesem Gebiet auf dem Wege nach Westen befanden, mußten kehrtmachen und nach Osten auszuweichen versuchen. Denn den einzigen Ausweg konnten jetzt nur die pommerschen Häfen Stolpmünde und Leba und vor allem die Häfen von Gdingen und Danzig bieten2).

Da die sowjetischen Truppen gleichzeitig mit dem Angriff auf Pommern auch in Westpreußen nach Norden vorstießen und in die Kreise Konitz, Pr. Stargard und Berent eindrangen, wurde in den ersten Märztagen eine Massenflucht von Süden, Südwesten und Westen in den Raum um Danzig ausgelöst. Völlig rat- und hilflos irrte die mit ihren Fahrzeugen treckende bäuerliche Bevölkerung umher. In der Mehrzahl konnte sie sich nicht entschließen, die Trecks zu verlassen und sich von ihren letzten Habseligkeiten zu trennen, um noch über See zu entkommen. So wurden besonders in der Gegend von Stolp unzählige ostpreußische, westpreußische und pommersche Trecks von den sowjetischen Truppen überrollt3).

Da die Russen bereits am 5. März nach Bütow eindrangen, am 8. März Stolp und die Hafenstadt Stolpmünde besetzten und schon am 9. und 10. März auch Leba und Lauenburg erreichten und die Räumungserlaubnis für die Bevölkerung meist erst 24 Stunden vorher gegeben wurde4), begann in diesen Tagen eine wilde überstürzte Flucht, mit Zügen, Kraftwagen und zu Fuß nach dem Gebiet von Danzig. Bald waren alle Straßen verstopft und in den ostpommerschen Kreisen Stolp und Lauenburg sowie in den westpreußischen Kreisen Neustadt und Karthaus entstand eine heillose Verwirrung5) .

Einem sehr großen Teil der Bevölkerung des Landes sowie der Städte gelang es jedoch nicht mehr zu entkommen. Selbst dort, wo die Zeit noch ausgereicht hätte, hinderten entweder völlige Ermattung nach wochenlanger Flucht oder die Furcht vor dem gefahrvollen Seewege viele, die letzte Chance zu ergreifen. Die Versenkung mehrerer Flüchtlingsschiffe, vor allem der „Wilhelm Gustloff”, die von Danzig kommend am 30. Januar vor Stolpmünde von russischen U-Booten versenkt worden war und über 5 000 Flüchtlinge in der Ostsee begrub6), schreckte manche Flüchtlinge von der Besteigung


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der Schiffe ab1). In den Städten Stolp, Bütow, Lauenburg und in den Landgemeinden blieben viele Tausende zurück und erlebten bald die Schrecken des russischen Einmarsches2). Von den kleinen pommerschen Häfen von Stolpmünde und Leba fuhren vor der Besetzung durch die Russen nur noch wenige Schiffe ab, und zahlreiche Flüchtlinge warteten vergeblich auf einen Abtransport nach dem Westen, bis die Russen von Land her diese Häfen in Besitz nahmen3). Mit Ausnahme von Kolberg, das bis zum 18. März verteidigt wurde, war am 10. März ganz Ostpommern von der Roten Armee besetzt.

Der Ring um Danzig wurde inzwischen immer enger. In Gdingen und Danzig waren die Kais überfüllt von Menschen, die die Gefahr eines Seetransportes der Auslieferung an die Russen vorzogen und sehnlichst auf die Ankunft von Schiffen warteten.

Aller verfügbare Schiffsraum wurde nach den Häfen von Danzig, Gdingen und Hela beordert, selbst in Pillau wurde der Abtransport von Flüchtlingen vorübergehend eingestellt4), um vor der drohenden Einnahme Danzigs und Gdingens möglichst viele der Hunderttausende aus Ostpreußen, Westpreußen und Pommern abzutransportieren, die sich in dem Küstengebiet der Danziger Bucht, vor allem in Danzig selbst zusammengedrängt hatten5). Täglich legten Transportschiffe in den Häfen von Danzig und Gdingen an und brachten Flüchtlinge nach dem Westen, doch immer noch strömten neue Menschen hinzu6). So zogen, nachdem Mitte März die deutsche Bevölkerung von Gdingen fast restlos auf Schiffe verladen worden war, in den folgenden Tagen Flüchtlinge aus Westpreußen, Ostpreußen und Pommern in großer Zahl in die leergewordenen Wohnungen ein7).

Am 22. März gelang den sowjetischen Truppen zwischen Danzig und Gdingen der Durchbruch an die Küste. Damit begann der Endkampf um diese beiden „Festungen”.

Am 25. März wurden von Oxhöft, nördlich von Gdingen, als die Russen bereits in der Nähe waren, noch einmal ca. 35 000 Soldaten und Flüchtlinge in Booten und Pontons nach Hela übergeführt. Nur wenige Tausende blieben zurück8).

Nachdem am 25. März die Hafenanlagen von Danzig und Gdingen gesprengt, der Schiffsverkehr eingestellt worden war, mußten viele Tausende in Danzig zurückbleiben, das am 27. März von den Russen besetzt wurde. Knapp eine halbe Million Menschen hatte sich in den Märzwochen in Danzig befunden9), und höchstens die Hälfte von ihnen war in den letzten Tagen noch zu Schiff nach dem westlichen Reichsgebiet oder mit Fähren nach Hela gebracht worden. Ca. 200 000 Einheimische und Flüchtlinge, die in Danzig


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und den Städten Zoppot und Gdingen Unterschlupf gesucht hatten, erlebten dort schreckensvolle Szenen beim Eindringen der sowjetischen Truppen, nachdem sie bereits Wochen schwerer Luftangriffe hinter sich hatten1).

Nach dem Fall der Festung Danzig-Gotenhafen blieben bis zur Kapitulation des Reiches noch Hela und ein schmaler Küstenstreifen an der Weichselniederung bei Schiewenhorst als letzte Ausgangspunkte für den Seetransport von Flüchtlingen. Begünstigt durch ihre natürliche Lage, konnten sich die beiden Plätze bis Kriegsende halten. Zehntausende von Flüchtlingen und Soldaten befanden sich in dem kleinen Raum an der Weichselniederung um Schiewenhorst und Nickelswalde, und sie wurden fast sämtlich im Laufe der Monate April/Mai mit Kähnen und Fähren nach Hela übergesetzt2). Der in die Danziger Bucht hineinragende Zipfel der schmalen Nehrung mit dem Dorf und Hafen Hela wurde das Zentrum der letzten Seetransporte in den Monaten April/Mai 1945.

Von Oxhöft im Westen, von der Weichselmündung (Schiewenhorst— Nickelswalde) und Kahlberg im Süden und von Pillau im Osten trafen Marinefahrzeuge, Boote und Frachtschiffe ein und brachten Soldaten und Flüchtlinge in unablässiger Folge. Zu den über 100 000 Menschen, die bereits im März nach Hela gelangt waren, kamen im April noch 265 000 hinzu3). Ständige russische Luftangriffe riefen nicht nur hohe Verluste unter den in Hela unvorstellbar dicht zusammengedrängten Soldaten und Zivilisten hervor, sondern erschwerten auch den Abtransport auf das äußerste4). Es war eine beachtliche Leistung, daß es dennoch gelang, die überwiegende Zahl dieser Menschen über See nach Schleswig-Holstein oder Dänemark zu schaffen. Im Monat April allein waren es 387 000 Menschen, die Hela auf dem Seewege verließen5). Die letzten Schiffe mit über 40 000 Soldaten und Flüchtlingen gingen am 6. Mai von Hela ab. 60 000 Menschen blieben zurück, die Mehrzahl von ihnen Angehörige der Wehrmacht6).

Insgesamt waren aus der Danziger Bucht und von den ostpommerschen Häfen von Ende Januar bis Ende April rund 900 000 Flüchtlinge nach Westen verschifft worden7). Demgegenüber ist die Zahl derer, die in den ersten Märztagen noch auf dem Landweg aus Pommern herausgelangten, weitaus niedriger. Sie wird kaum mehr als 200 000—300 000 betragen haben.

Ein weitaus größerer Teil der einheimischen deutschen Bevölkerung als in Ostpreußen mußte in Ostpommern, im Raum um Danzig und in West-


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preußen trotz unermüdlichen Einsatzes der Kriegsmarine zurückbleiben. Etwa 1,5 bis 2 Millionen Deutsche, von denen viele Tausende aus Ostpreußen stammten, gerieten hier unter russische Herrschaft.