d. Die Flucht der schlesischen Bevölkerung.

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Die Tatsache, daß ca. 40 Prozent aller jenseits der Oder-Neiße seßhaft gewesenen Deutschen aus Schlesien stammten, verleiht dem Vertreibungsschicksal der Schlesier im Hinblick auf den Gesamtvorgang der Vertreibung ein besonderes Gewicht.

Zu Anfang des Jahres 1945 lebten in Schlesien (i. d. Grenzen von 1937) rund 4,7 Millionen Menschen deutscher Staatsangehörigkeit. Unter ihnen war auch eine kleine Bevòlkerungsgruppe, besonders in Oberschlesien, deren Angehörige sich entweder als Polen fühlten, polnisch sprachen oder polnischer Herkunft waren und deshalb den Einfall der Roten Armee weniger befürchteten und in der Folgezeit tatsächlich von Russen und Polen anders behandelt wurden als die Masse der deutschen Bevölkerung. Dieser Bevölkerungsgruppe im westlichen Teil Oberschlesiens kamen in Ostoberschlesien, das seit 1921 zum polnischen Staat gehört hatte, die Personen deutscher Volkszugehörigkeit und Sprache etwa gleich1). Sie wurden von der Vertreibung in gleicher Weise betroffen wie die deutsche Bevölkerung der ostdeutschen Reichsgebiete und müssen deshalb auch bei der Betrachtung des Fluchtverlaufs in Schlesien miteinbegriffen werden.

Für die Flucht der schlesischen Bevölkerung war es von besonderer Bedeutung, daß sie im allgemeinen unter günstigeren Bedingungen stattfand als die Flucht anderer Teile der ostdeutschen Bevölkerung. Anders als die westpolnischen Gebiete, als Ostpreußen, Ostpommern und Ostbrandenburg konnte Schlesien nicht im Handstreich überrollt werden, und außerdem blieb für die schlesische Bevölkerung bis zuletzt die Möglichkeit zur Flucht auf dem relativ unbehinderten Weg in das schlesisch-böhmische Gebirge oder hinüber nach Böhmen und Mähren offen. — Die Überrollung von Trecks, die Einschließung in Kessel und die Versperrung der Fluchtwege, die in so vielen Fällen das Fluchtschicksal der deutschen Bevölkerung aus Ostpreußen, Pommern, Brandenburg und den polnischen Gebieten besiegelte, ist auch in Schlesien oft genug vorgekommen, hat aber dort nicht in gleicher Weise den Verlauf der Fluchtbewegung bestimmt.

Die Evakuierung bzw. Flucht der schlesischen Bevölkerung verlief in einzelnen aufeinanderfolgenden Wellen, die, vom Vordringen der Russen bestimmt, jeweils verschiedene Landesteile ergriffen.

Die erste große Fluchtwelle brach in den Tagen vorn 19.—25. Januar los. Sie berührte das ganze Gebiet östlich der Oder vom Industriegebiet im


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äußersten Südosten bis in den Kreis Grünberg an der schlesischbrandenburgischen Grenze. In diesem sich längs des rechten Oderufers hinziehenden Teil Schlesiens lebten rund 1 ½ Millionen Deutsche: die knappe Hälfte davon in den vorwiegend ländlichen Kreisen Niederschlesiens und im Reg.-Bez. Oppeln und die übrigen in dem flächenmäßig kleinen, aber vorwiegend städtischen Industriebezirk um Kattowitz, Beuthen, Gleiwitz und Hindenburg. In das ausgedehnte ländliche Gebiet rechts der Oder und in das städtischindustrielle Revier an der Südostecke Schlesiens, stießen die russischen Truppen gleichzeitig in den Tagen vom 19—25. Januar vor.

Im ostoberschlesischen Industriegebiet waren lediglich Frauen mit kleinen Kindern zur Evakuierung aufgerufen und mit der Eisenbahn abtransportiert worden, als die Front näher kam. Für alle anderen, besonders die in der Industrie und Verwaltung Beschäftigten, bestand das strikte Gebot der oberschlesischen Gauleitung, daß niemand seinen Wohnort verlassen dürfe, damit die Produktion in vollem Umfange aufrecht erhalten werden könne1). Dennoch machten sich in den Tagen um den 20. Januar, als die sowjetischen Truppen immer näher an Kattowitz, Beuthen, Gleiwitz und Hindenburg heranrückten, noch zahlreiche Deutsche auf und suchten vor allem mit der Eisenbahn, teilweise auch mit Lastkraftwagen nach Westen zu gelangen. Nachdem erste russische Einheiten am 22. Januar zwischen Brieg und Ohlau die Oder überschritten hatten, war der Zugverkehr aus dem Industriegebiet über Breslau nach Westen auf allen Hauptstrecken gesperrt, und so blieb nur noch die Möglichkeit, über die südliche Strecke Ratibor— Neiße zu fliehen. Auch hier reichten die Züge aber schon bald nicht aus, um die nach Westen strebenden Menschen befördern zu können. Entlang der ganzen Südstrecke waren die Bahnhöfe von Ratibor bis Schweidnitz und Liegnitz von Menschen aus Oberschlesien überfüllt, und manche Entfernung mußte zu Fuß zurückgelegt werden2). Viele der Flüchtlinge aus dem Industriegebiet begaben sich in die Grenzgebirge oder nach dem Sudetenland, andere setzten die Fahrt bis nach Sachsen, Thüringen und in das westliche Reichsgebiet fort, um dort bei Verwandten oder Bekannten Unterkunft zu finden.

Obwohl unzählige Einwohner das ostoberschlesische Industriegebiet inzwischen verlassen hatten, befanden sich mehrere Hunderttausende von Deutschen, der größte Teil der Polen und der polnisch sprechenden Oberschlesier nach dort, als sowjetische Truppen in den letzten Januartagen die Städte Kattowitz, Gleiwitz, Beuthen, Hindenburg und damit den Hauptteil der oberschlesischen Zechen und Industrieanlagen in Besitz nahmen. Besonders die in der Industrie tätigen Menschen hatten sich meist dem Befehl zum Dableiben nicht entziehen können, und viele von ihnen förderten unter der Erde noch Kohlen, als oberhalb schon um die Zechenanlagen gekämpft wurde 3). Insgesamt mögen es eine halbe Million Deutsche


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gewesen sein, die freiwillig zurückblieben oder zurückbleiben mußten1). Vielen von denen, die Polnisch sprechen oder wenigstens verstehen konnten und mit den gleichfalls im oberschlesischen Industriegebiet arbeitenden Polen eng zusammengelebt hatten, mag die Zuversicht auf die im Alltag erprobte Verständigungsmöglichkeit den eigenen Entschluß zum Bleiben gestärkt haben. Aber der Einmarsch der Russen, der in Oberschlesien ein besonders schweres Schicksal über die deutsche Bevölkerung brachte, hat alle darauf gegründeten Hoffnungen zunichte gemacht2).

Anders als im oberschlesischen Industrierevier hat von der Bevölkerung in den östlich der Oder gelegenen Landkreisen Ober- und Niederschlesiens nur ein sehr geringer Teil den Einzug der Roten Armee in seiner Heimat erlebt. Durchziehende Trecks aus dem Warthegebiet3) hatten schon seit Tagen die Kunde von dem bedrohlichen Ansturm der Roten Armee gebracht. Aber erst am 19., 20. und 21. Januar wurde — meist auf Drängen der Militärbefehlshaber — mit der Evakuierung begonnen, und mitunter drangen schon 24 Stunden nach dem Räumungsbefehl die ersten russischen Truppen ein. Dennoch blieben von den rund 700 000 Einwohnern der zwischen Oppeln und Glogau östlich der Oder gelegenen Kreise höchstens 100000 in ihren Wohnorten zurück4).

Nachdem die Räumungsbefehle ergangen waren, stürmte die Masse der Bevölkerung, mit Ausnahme der älteren Leute, von denen viele freiwillig zurückblieben5), die Eisenbahnzüge, Omnibusse und Kraftfahrzeuge, die zum Abtransport zur Verfügung standen. Da diese nicht ausreichten, mußten große Teile der städtischen Bevölkerung mit nur wenig Gepäck auf die verfügbaren Fuhrwerke verteilt6) und zusammen mit den Trecks der Landgemeinden in Marsch gesetzt werden.

Für die einzelnen Kreise östlich der Oder wurden Aufnahmekreise auf der anderen Oderseite bestimmt. Da man daran glaubte, daß die Oder den russischen Truppen für längere Zeit Halt bieten würde, wurde die evakuierte Bevölkerung zunächst in relativ nahe gelegene Kreise längs des linken Oderufers untergebracht, in die Gegend von Liegnitz, Goldberg, Schweidnitz oder in andere Kreise auf dem linken Oderufer7). Als die militärische Führung die Evakuierung einer 20-km-Zone hinter der Oderfront durchsetzte und später die Kampfhandlungen auch auf diese Gebiete übergriffen, er-


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folgte dann der Weitertransport entweder nach Sachsen1) oder über das Gebirge nach dem Sudetenland und ins Innere Böhmens2).

Innerhalb von 4—5 Tagen wurden die Kreise Glogau-Land, Fraustadt, Guhrau, Wohlau, Militsch, Trebnitz, Groß Wartenberg, Oels, Namslau, Kreuzberg, Rosenberg sowie die östliche Hälfte der Kreise Oppeln und Brieg von dem überwiegenden Teil der Bevölkerung geräumt und dadurch die verfügbaren Transportmittel und die Straßen aufs äußerste beansprucht. Um die Flüchtlingsnot zu lindern, die durch die winterliche Kälte noch verschärft wurde, wurden hier und dort in den Durchmarsch-Gebieten provisorische Verpflegungsstationen3) errichtet, doch der Andrang ging bald schon über deren Kräfte.

Mit der Räumung des rechten Oderufers hatte die erste große Fluchtwelle noch kein Ende gefunden. Denn die russischen Truppen, die in den letzten Januartagen auf die Oder vorstießen, bedrohten nicht nur zahlreiche ländliche Kreise Nieder- und Oberschlesiens, sondern vor allem auch Breslau. die Hauptstadt Schlesiens, mit ihren über 500 000 Einwohnern4). Als am 20/21. Januar die ersten russischen Truppen in die Kreise Groß-Wartenberg, Oels und Trebnitz eingedrungen waren und in Breslau bereits der Geschützdonner zu hören war, wurden alle Frauen, Kinder, Kranke und Alte dringend aufgefordert, die Stadt zu verlassen, und alle verfügbaren Organisationen zur Räumung der Stadt aufgeboten5). Da die Züge und Kraftfahrzeuge zum Abtransport nicht ausreichten, mußten über 100 000 Menschen, meist Frauen, die Stadt zu Fuß verlassen6). Viele Kilometer zogen sie mit nur wenigem Handgepäck während härtester Kälte auf den Landstraßen nach Südwesten und Westen, und manche, die durch die Kälte, die harten Strapazen und die Überfüllung aller Transportmittel mutlos geworden waren, kehrten heimlich wieder nach Breslau zurück. Als die russischen Truppen Mitte Februar den Ring um das zur Festung erklärte Breslau geschlossen hatten, waren noch ca. 200 000 Zivilpersonen in der Stadt7), die in der folgenden langen Belagerungszeit durch Luftangriffe und Kampfhandlungen Schweres zu erleiden hatten8) und von denen schätzungsweise 40 000 umgekommen waren, als die Stadt am 6/7. Mai kapitulierte9).


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Noch waren auf den Straßen und Bahnlinien, die aus dem Industriegebiet, aus Breslau und aus den Kreisen östlich der Oder nach Süden und Westen führten, mit Flüchtlingen überfüllte Züge und endlose Trecks nach dem Sudetenland und nach Sachsen unterwegs, als am 8. Februar auch westlich der Oder weite schlesische Gebiete in das Kampfgeschehen einbezogen und neue Fluchtbewegungen ausgelöst wurden.

Nach einer kurzen Kampfpause an der Oderfront während der ersten Februartage gingen die sowjetischen Armeen am 8. Februar beiderseits Breslau mit starken Kräften zum Angriff über, erreichten trotz erbitterter deutscher Gegenwehr in einer Zangenbewegung aus den Brückenköpfen bei Brieg und Steinau die Einschließung der Hauptstadt, stießen über den Bober nach Westen vor und besetzten nach heftigen Kämpfen bis Ende des Monats einen breiten Streifen westlich der Oder zwischen den Einmündungen der Glatzer und der Lausitzer Neiße.

Im Verlauf dieser Kämpfe war es den russischen Truppen im Süden und Westen von Breslau gelungen, bis nach Grottkau, Strebten, Striegau und Jauer vorzustoßen. Die Bevölkerung aus den Bezirken längs der Oder war z. T. schon vorher evakuiert worden1). Sofern sie noch zurückgeblieben war, geriet sie mancherorts in die heftigen Kämpfe hinein. Besonders im Kreise Neumarkt, der schon von den Kämpfen um den Steinauer Brückenkopf erfaßt worden war, sowie in den Kreisen Ohlau, Brieg, Grottkau und Strehlen kam es zu erbitterten Gefechten, und manche Orte wechselten mehrmals ihren Besitzer. Dennoch gelang einem großen Teil der Bevölkerung dieser Gegenden noch in letzter Minute die Flucht. Aus dem Landkreis Breslau konnte der überwiegende Teil der Bevölkerung rechtzeitig im Treck ins Glatzer Bergland fliehen2). Im Kreis Neumarkt waren es nur 10—15 Prozent der Einwohner, die meist freiwillig zurückblieben3), der Hauptteil war mit der Eisenbahn, mit Autobussen oder Trecks nach dem Gebirge oder nach Böhmen gebracht worden4); viele fuhren selbständig nach Sachsen oder Thüringen.

Die Einwohner der Städte Strehlen, Schweidnitz, Striegau und Jauer wurden ebenfalls von dieser Fluchtwelle erfaßt und schlossen sich dem Flüchtlingsstrom nach Süden ins Glatzer Bergland oder hinüber nach Böhmen an. Die Räumungserlaubnis wurde hier jedoch durch die Parteibehörden teilweise so sehr verzögert, daß viele Tausende aus den Städten und Dörfern nicht mehr rechtzeitig aufbrechen konnten. Am schlimmsten wurde die Bevölkerung der Stadt Striegau betroffen, wo 15 000 Menschen (d. i. die Hälfte der Einwohner) noch in der Stadt waren, als diese am 13. Februar von den Russen besetzt wurde5).

Bis Anfang Mai blieb im Raum südwestlich von Breslau die Front vor den Ausläufern des Gebirges auf der Linie Strehlen—Zobten—Striegau stehen. Striegau konnte Mitte März sogar von deutschen Truppen zurückerobert werden, wobei allerdings von den zurückgebliebenen Einwohnern nur noch die Getöteten aufgefunden wurden; die anderen waren in rückwärtige


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russiscn-besetzte Gebiete vertrieben1). Mehr noch als im Frontabschnitt südlich Breslau hatten die sowjetischen Truppen im westlichen Niederschlesien, im Reg.-Bez. Liegnitz, während des Angriffs Mitte Februar Boden gewonnen. Trotz verzweifelter deutscher Gegenangriffe am Bober waren russische Einheiten vom 8.—25. Februar bis an die Lausitzer Neiße gestoßen und hatten selbst im Kreis Görlitz eine überstürzte Evakuierung und Flucht der Bevölkerung ausgelöst2). Görlitz und Umgebung fielen zwar erst Anfang Mai in russische Hand, aber die weiter nördlich und östlich gelegenen Gebiete zwischen Oder und Lausitzer Neiße mit den Städten Liegnitz, Goldberg, Löwenberg, Bunzlau, Sprottau einschließlich des südbrandenburgischen Kreises Sorau waren im Februar sämtlich von den Russen besetzt worden3). Nur Glogau, das nach nahezu vollständiger Evakuierung der Zivilbevölkerung am 12. Februar eingeschlossen wurde, hielt sich noch bis Ende März. Auch in der Stadt Grünberg konnte die Mehrzahl der Einwohner rechtzeitig mit Eisenbahnzügen und Treckkolonnen aufbrechen. Von ca. 35 000 Einwohnern blieben etwa 4000 in der Stadt zurück4). In Liegnitz dagegen, nach Görlitz der größten Stadt in diesem Gebiet5), waren es immerhin ca. 20 000 Menschen, d. i. etwa ein Viertel der Bevölkerung, die sich noch in der Stadt aufhielten, als diese am 10. Februar von sowjetischen Truppen genommen wurde6).

Die Schnelligkeit, mit der die Rote Armee im Bereich des Regierungsbezirkes Liegnitz den Landstrich zwischen Oder und Neiße überwand, erschwerte die Flucht der Bevölkerung sehr. Nachteilig wirkte ferner, daß in diesem Gebiet Zehntausende von Flüchtlingen aus den östlich der Oder gelegenen Kreisen Fraustadt, Guhrau, Wohlau, Militsch u. a. unterbracht oder auf dem Durchzug nach Sachsen waren7). Da Niederschlesien zudem keine so ausgesprochen ländlichagrarische Struktur wie etwa Pommern und Ostpreußen hatte, fehlte es selbst in den Dörfern an Fuhrwerken zur Zusammenstellung von Trecks. Dazu kam wie überall die Uberbeanspruchung der Eisenbahn und der motorisierten Transportmittel8). So erklärt es sich, daß hier viele Tausende zurückblieben und manche Trecks noch unterwegs überrollt wurden. Es kann angenommen werden, daß im Westabschnitt des Reg.-Bez. Liegnitz durchschnittlich ein Viertel der Be-


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völkerung nicht mehr rechtzeitig fliehen konnte oder freiwillig zurückblieb und das schwere Schicksal des Einzuges der sowjetischen Truppen erlebte1).

Von denen, die sich nach Sachsen aufgemacht hatten, gerieten ungezählte Tausende, die in den Tagen um den 10. Februar ihre Heimatorte verlassen hatten, am 13./14. Februar in die schweren Bombenangriffe auf Dresden und nahmen dort ein gräßliches Ende2).

Während der Monate März/April blieb in Niederschlesien die Frontlage relativ stabil. Dennoch fand aus den noch unbesetzten Kreisen längs der schlesisch-böhmischen Grenze in dieser Zeit ein fortgesetzter Abzug von Flüchtlingen nach Böhmen statt, und seitens der deutschen Behörden wurde mitunter sehr energisch zur Räumung der mit Menschen und Flüchtlingsgut überfüllten Gebirgsorte in den Kreisen Hirschberg, Landeshut und Glatz aufgefordert3). Der Flüchtlingsstrom nach dem Sudetenland zog sich vor allem auf den von Feindeinwirkungen ungestörten Straßen und Bahnstrecken entlang, die von Hirschberg, Landeshut nnd Glatz über das Gebirge führen. Manche Flüchtlinge zogen einzeln oder in geschlossenen Trecks bis nach Bayern weiter4).

Anders war im Monat März die Situation in Oberschlesien. Hier war nach Aufgabe des Industriegebietes die Front südlich von Oppeln bis nach Ratibor entlang der Oder gehalten worden. Am 15. März jedoch begannen die Russen einen konzentrischen Angriff aus dem Raum südlich von Breslau her auf das westliche Oberschlesien. In langwierigen und schweren Kämpfen mit den sich hartnäckig verteidigenden deutschen Einheiten wurden bis Ende März die noch unbesetzten Teile der Kreise Grottkau und Cosel sowie die Kreise Falkenberg, Neustadt und der größte Teil des Kreises Neiße von russischen Truppen in Besitz genommen5).

Da die Front an der Oder in diesem Gebiet lange stehengeblieben war, Hatte sich die Bevölkerung allmählich an ihre Nähe gewöhnt und war deshalb in der Mehrzahl bis unmittelbar vor Eintreffen der Russen in ihren Heimatorten geblieben6). Selbst von den zum großen Teil schon früher in das rückwärtige Gebiet evakuierten Bewohnern der Ortschaften längs der Oder hatten manche bereits wieder den Rückweg angetreten, als dann plötzlich das Wiederaufleben der Kampfhandlungen durch den russischen Angriff von Norden her seit Mitte März einen allgemeinen Aufbruch der westoberschlesisehen Bevölkerung auslöste, so daß alle Straßen nach dem Gebirge bald verstopft waren und eine organisierte Weiterleitung der Flüchtlingstrecks nahezu unmöglich wurde7). So sind manche Trecks unterwegs von russischen Verbänden eingeholt worden8), während es anderen noch gelang zu ent-


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kommen1). In der Stadt Neiße allerdings, die erst am 24. März von russischen Truppen besetzt werden konnte, war der allergrößte Teil der Bevölkerung rechtzeitig geflohen. Von ca. 40 000 Einwohnern blieben nur etwas über 2 000 zurück2).

Insgesamt mögen es 300 000 bis 400 000 Menschen gewesen sein, die über Troppau, Jägerndorf und Ziegenhals aus dem westlich der Oder gelegenen Teil Oberschlesiens nach Böhmen und Mähren flohen, während Zehntausende nicht mehr fortkamen oder von der Roten Armee auf der Flucht eingeholt wurden.

Der letzte Abschnitt der Flucht der schlesischen Bevölkerung fiel in die Zeit unmittelbar vor der Kapitulation (8./9. Mai). In diesen Tagen nahm die Rote Armee von den ausgedehnten Gebieten Niederschlesiens Besitz, die entlang der schlesisch-böhmischen Grenze Hegen. In diesen gebirgigen Gegenden der Grafschaft Glatz, des Riesen- und Isergebirges hatten viele Zehntausende von Flüchtlingen aus Schlesien Zuflucht gesucht, soweit sie nicht weiter auf die böhmische Seite und ins Innere des damaligen Protektorats Böhmen und Mähren gewiesen worden waren. Die Bevölkerung der Gebirgsorte hatte den unaufhörlichen Durchzug von Flüchtlingen erlebt und so wochenlang die Not der Flucht vor Augen gehabt3). Als deshalb in den ersten Maitagen, zu einer Zeit, in der der Zusammenbruch und das Ende des Krieges für jedermann offenbar waren, auch für diese Orte der Räumungsbefehl gegeben wurde, befolgte ihn die Bevölkerung nur noch sehr widerstrebend, und große Teile blieben zurück4). In manchen Gegenden, wie z. B. im Kreis Landeshut, ist der Räumungsbefehl gar nicht mehr bis an die einzelnen Gemeinden gelangt5), andere, wie der Kreis Glatz, wurden vom Einmarsch der russischen Truppen überhaupt erst nach dem Waffenstillstand betroffen6). Lediglich aus der Stadt Hirschberg ist noch ein großer Teil der Bevölkerung über das Gebirge geflohen.

Der Masse der hier Zurückgebliebenen blieb nach der Kapitulation jene Fülle an Greueln erspart, die die Bevölkerung anderer schlesischer Gegenden in den Wochen und Monaten vorher beim Einzug russischer Truppen hatte über sich ergehen lassen müssen, dennoch kam es auch in den Gebirgsorten an der schlesisch-böhmischen Grenze noch in den Maitagen zn Gewalttaten und Übergriffen7).


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Schlimmer allerdings erging es den vielen Hunderttausenden, die nach Böhmen und Mähren geflohen waren und dort bei Kriegsende neben dem Einmarsch der Russen die tschechische Erhebung erlebten. Zwar richtete sich die Wut der Tschechen in erster Linie gegen die Sudetendeutschen, aber auch die deutschen Flüchtlinge aus Schlesien, die sich im Mai und Juni im Gebiet der Tschechoslowakei befanden, hatten bei den Vergeltungsmaßnahmen gegen die Deutschen mitunter eine geradezu sadistische Behandlung zu erleiden, die in mancher Hinsicht schlimmer war als die brutalen Gewalttaten der sowjetischen Truppen, vor denen sie geflohen waren1).

Eine zahlenmäßige Erfassung der Fluchtbewegung der schlesischen Bevölkerung, die naturgemäß nur in groben Umrissen möglich ist, ergibt etwa das folgende Bild2):


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