Nr. 17: Verlauf der Fluchtbewegung im Raum des Frischen Haffs in der Zeit von Ende Januar bis Anfang März 1945.

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Bericht des ehemaligen Kreisbaumeisters des Kreises S a m l a n d , Wilhelm Knoll.

Original, 28. Mai 1951.

Als am 12. Januar 1945 die deutsche Front im Weichselbogen bei Warschau durchbrochen wurde, war die Provinz Ostpreußen bereits nach 10 Tagen vom Reich abgeschnitten. Die zur Flucht aufgebrochene Zivilbevölkerung strömte aus dem Innern der Provinz in den Küstenkreis Heiligenbeil. Auf allen Wegen zogen Tausende von Fahrzeugen dem gefrorenen Haff zu, um weiter über das Eis auf die Frische Nehrung zu gelangen. Von dort aus war die Straße nach Danzig und Pillau frei.

Bei eisiger Kälte fegte Schneegestöber über das Haff. In Pelze gehüllt und tief vermummt betraten ortskundige Männer aus dem Küstengebiet das Haff, ausgerüstet mit Kompaß und Eispickel und steckten die Treckwege ab. Ihnen folgten Schlitten mit Tannenbäumen zur Markierung der Eisstraße. Hindernd war die durch die Mitte des Haffs führende Fahrrinne von 30 m Breite von Elbing nach Pillau. Die Rinnen mußten für den Abtransport von Munition und wertvollem Marinegerät per Schiff aus Elbing offen gehalten werden.1) Bäuerliche Fahrzeuge beförderten aus den nahen Schneidemühlen und Wäldern Langbäume zur Fahrrinne, die zu je 3 Stück mit Klammern zusammengehalten und in einer Breite von 4 m über das 30 m weite offene Wasser geschoben wurden und als Fahrbahn einen Bohlenbelag erhielten. Solche Eisbrücken wurden für die Treckwege von Alt-Passarge, Leysuhnen, Dt. Bahnau und Rosenberg nach der gegenüberliegenden Nehrung gelegt. Anfangs gestaltete sich der Brückenbau recht schwierig, weil wegen des laufenden Munitionstransportes die Brücken immer wieder aufgenommen werden mußten.

Nach dem 28. Januar 1945 wurde der Schiffsverkehr eingestellt, und die Brücken konnten jetzt liegen bleiben. Sie froren fest und waren nunmehr für alle Lasten der Trecks tragbar. Das Trecken begann nun auf allen abgesteckten Treckstraßen Tag und Nacht bei jedem Wetter. Der Verkehr wurde durch Gendarmerie geregelt. In Abständen von etwa 20 m zogen die Fahrzeuge auf das Eis. An allen Abfahrtsammelstellen hatten sich auch Tausende von Fußgängern mit Handwagen und Rodelschlitten eingefunden, die jetzt die Fahrzeuge bestiegen. Um hierfür Platz auf den Wagen zu schaffen, mußte viel mitgenommener Hausrat abgeladen werden. Streckenweise sah man aneinandergereihte zurückgelassene Truhen, Kisten, Nähmaschinen, Wannen, Körbe, Betten, Fahrräder usw. Alle Ortschaften am Frischen Haff waren damit stark angefüllt. Wehmütigen Auges schauten die abziehenden Eigentümer auf das zurückgelassene Gut, erkennend, daß die Rettung von Menschenleben an erster Stelle zu stehen hat. Pioniere und OT. befestigten die brüchigen Anfangsstrecken an den Haffufern und errichteten aus Barackenteilen Schutzhütten in der Mitte der etwa 15—18 km langen Eisstráße. In diesen Schutzhütten wurde auf Bohlenunterlagen ein offenes Feuer am Tage unterhalten, an denen man


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die erstarrten Glieder erwärmen konnte, sofern das Trecken zuweilen langsam vonstatten ging.

Stark gefährdet war die Fahrt bei klarem Wetter. Wehrlos waren dann die Trecks auf der schutzlosen Eisfläche den Fliegerangriffen ausgesetzt. Mit Bordwaffen wurden die Fahrzeuge unter Feuer genommen. Bomben zerschlugen die Eisdecke. Überall sah man zusammengeschossene Fahrzeuge, tote Pferde und die Leichen von Erschossenen. An Gruppen, die sich um Verwundete bemühten und die Toten auf der Eisfläche mit einer Decke betteten, zog der endlose Treck schweigsam weiter. Das Elend war zu groß, ein lautes Klagen aufkommen zu lassen. Das Schicksal der auf so tragische Weise Umgekommenen konnte sich an den Vorbeiziehenden in der nächsten Stunde wiederholen. Einen nennenswerten Schutz gegen Fliegerangriffe gab es nicht. Nur selten waren deutsche Jäger zu sehen, die die Schwärme von Feindfliegern auseinanderjagten. Viele Fahrzeuge hofften, schneller vorwärtszukommen, indem sie außerhalb der abgesteckten Treckstraßen ihren Weg über das Eis suchten. Ortsunkundig fuhren sie ahnungslos über inzwischen wieder nur dünn zugefrorene Bombeneinschlagstellen und versanken in der Tiefe oder brachen an flachen warmen Stellen ein. Im günstigsten Falle mußte der Wagen dann abgeladen werden, um ihn wieder flott zu bekommen. Viel zurückgelassenes Gut blieb auf dem Eise liegen.

An jedem Abend fuhren Sanitätswagen die Treckstraßen ab und lasen die Gefallenen auf. Im nächstgelegenen Haffdorf wurden die Toten dann in unabsehbaren Reihen gebettet. Schmucklose Kreuze setzte man auf die Hügel, die heute längst verweht sein dürften. Sehr schwierig gestaltete sich das Trecken auf dem Eise Ende Februar bei beginnendem Tauwetter und nordöstlichen Stürmen. Dann drückte die Ostsee ihre Wasserwogen durch das Pillauer Tief auf die Eisfläche des Haffes. Bis zu den Achsen fuhren die Fahrzeuge im Wasser, der Gefahr ausgesetzt, in dem mürbe gewordenen Eise einzubrechen und zu ertrinken.

Schaurig war die Fahrt über das Eis bei Nacht, wenn der Himmel am südlichen Horizont violett und rot von der kämpfenden und brennenden Front gefärbt war. In tiefem Schweigen ging der Zug durch matt schimmernde Eislandschaft, die dann und wann gespensterhaft von in weiter Ferne abgelassenen Leuchtschirmen der Nachtflieger erhellt wurde. Oft standen die kilometerlangen Trecks bei bitterer Kälte und Schneegestöber stundenlang auf einer Stelle, weil auf der einzigen Nehrungstráße wichtige Truppen- und Munitionstransporte vorbeigelassen werden mußten. Hier, nahe der Nehrung, in Reihen zu vieren, wurden die Fahrzeuge besonderes Ziel der Fliegerangriffe.

Ende Februar 1945 waren die letzten Trecks aus dem Heiligenbeiler Kessel hinübergeschleust. Es war, als hätte der Himmel mit der furchtbaren Not der Flüchtlinge Erbarmen. Das Eis hielt, bis auch die letzten Fahrzeuge die rettende Haffnehrung erreicht hatten. An einem Morgen nach vorangegangenen lauen Frühlingsstürmen war das Eis verschwunden und mit ihm alles Elend, das darauf lag. In der ersten Zeit nahmen die Trecks auf der Nehrung ihren Weg hauptsächlich nach Danzig, um über Pommern in das Reich zu gelangen. Auf der Nehrung war aber nur ein langsames Vorwärtskommen, weil der Fährbetrieb bei Nickelswalde den schnellen Abtransport hinderte. Große


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Menschenmassen und Fahrzeuge stauten sich im Nehrungswald, insbesondere in Kahlberg. Bei eisiger Kälte mußte im Freien kampiert werden. Es gab kaum Nachtquartiere und kein Trinkwasser. Groß war die Zahl der Wegmüden und infolgedesen erfrorenen Personen.

Als keine Aussicht mehr bestand, auf dem Landwege durch Pommern zu entkommen, zogen die Trecks nach Neutief, um mit Schiff die Weiterfahrt anzutreten. Die Fahrzeuge mußten hier zurückgelassen werden. Zum letzten Male wurde der treue Gefährte des Menschen, das Pferd, gefüttert. Schweren Herzens wurde von ihm Abschied genommen. Mit Hunderten zusammengedrängt sah man die zurückgelassenen Pferde frierend und hungernd stehen, der Verelendung anheimfallend, denn niemand konnte sie betreuen. Bald kamen viele von ihnen in die eingerichteten Schlächtereien. Auch von den bis hierher noch mitgeführten Gütern wurde eine Trennung notwendig, da das Schiff nur mit Handgepäck betreten werden durfte. Berge von Betten, Kisten, Stapel von Sielen, Hausrat aller Art lagen auch hier herum. Einzelne brachten ihre wertvollsten Sachen, wie Kleider, Geschirr usw., in den nahen Nehrungswald, legten alles in eichene Truhen und vergruben diese in der leisen Hoffnung, bei glücklichem Ausgang der letzten Schlacht in Ostpreußen zurückkehren und dann die Schätze wieder bergen zu können. Tausende konnten sich vom ostpreußischen Heimatboden überhaupt nicht trennen oder kamen auch mit den Schiffen vielfach nicht mit. Diese beförderten in der Hauptsache Verwundete, ferner Frauen, Kinder und Greise. Die Zurückgebliebenen suchten in den Trümmern von Neutief und Pillau Unterkunft und waren dauernd den Angriffen von Fliegern und Artilleriefeuer ausgesetzt. Viele fanden so den Tod oder fielen später in die Hand der Feinde, was meistens gleichbedeutend war.

Als Ende März der Kessel um die Haffküste immer enger wurde, gingen bald die Haffdörfer in Flammen auf, und tagelang hingen die Rauwolken über der brennenden Stadt Heiligenbeil. Auch für die Kampftruppen sowie die restlichen Dienststellen aus dem Brückenkopf Heiligenbeil erwies das Haff sich als der rettende Weg. Marine-Prähme schafften Verwundete im aufgetauten Wasser unter ständigem Artilleriefeuer von Rosenberg nach Pillau. Sich opfernd deckte die Infanterie, vornehmlich junge Regimenter aus allen Gauen unseres Vaterlandes, diesen Rückzug. Als es still wurde im Lande, vertrauten sich letzte Kämpfer auf allen möglichen Fahrzeugen dem rettenden Haff an. Sie ruderten auf Flößen und zusammengehaltenen Benzinfässern. Viele konnten von der Marine aufgefischt und in Sicherheit gebracht werden. . .