Nr. 32: Die letzten Monate, Wochen und Tage in Pillau (Januar—April 1945).

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Erlebnisbericht des A. S. aus Pi11au, Kreis Samland i. Ostpr.

Original, ohne Datum, 4 Seiten. Teilabdruck.

Es war Mitte Januar 1945, als auch bei uns in Pillau die Unruhe aufstieg und jede Sicherheit ins Wanken brachte. Bis dahin war unser Städtchen auf der vorgeschobenen Landzunge des Saralandes, fernab vom Durchgangsverkehr, ja, eigentlich vom Kriegsgeschehen überhaupt, wie ein fernes Eiland — unwirklich dahinträumend! Die Kriegsmarine in unseren Mauern hielt trotz der erhöhten und angespannten Arbeit den alten Rahmen, sie war gepflegt und zuversichtlich, völlig unverbraucht und ungeheuer optimistisch. Der Schwere Kreuzer „Lützow” war kurz vor Weihnachten eingelaufen, es war ein fröhliches Hin und Her, Besuchemachen und Planen — wer sah denn das Gespenst, das hinter uns allen stand? Wohl hatten im Herbst 1944 Flüchtlingstransporter Esten und Letten, verzweifelte Menschen mit kargem Gepäck, bei uns abgesetzt zur Weiterbeförderung. Zum ersten Male hieß es für die Rote-Kreuz-Helferinnen: Flüchtlingsbetreuung! Und zum ersten Male spürten wir, wieviel Not und Leid dahintersteckte. Dann wurden auch die Verwundetentransporte von der Front häufiger, und ihr unendlich jammervoller Anblick schnitt ins Herz, aber an die Prophezeiung der Verwundeten: „Die Russen sind nicht aufzuhalten, sie werden auch noch hierher kommen”, glaubte im Grunde keiner von uns. Es mußte ja etwas kommen, es mußte ja eine Wendung eintreten, die Front mußte ja wieder gehalten werden!

Und nun auf einmal lag Angst in der Luft, eine Bedrängnis, die man nicht mehr bezwingen und wegleugnen konnte. Dieser oder jener sprach von Flucht, noch hielt man's für feige und voreilig, wollte selbst noch Beispiel geben, um die Angstpsychose nicht ausbrechen zu lassen. Aber die Spannung und Unruhe wuchs von Tag zu Tag, selbst die Marineoffiziere machten ernste, verschlossene Gesichter, mahnten zur Ruhe und Besonnenheit und rieten doch, das Nötigste bereitzuhalten. Die Frauen, deren Männer dienstlich gebunden waren, wehrten sich am längsten gegen ein Weggehen und damit gegen das Aufgeben der Familiengemeinschaft. Dann aber ging alles sehr schnell: Immer häufiger und größer wurden die Verwundetentransporte, die „Steuben”, die „Berlin”, die „Gustloff” faßten kaum das, was ununterbrochen in Lazarettzügen heranrollte, und schon drängten sich Flüchtlinge an die Lazarettschiffe heran und flehten um Mitnahme. Tag und Nacht waren die Helferinnen auf den Beinen — sie lief an, die Arbeit, die bis zum Umsinken geleistet werden mußte, und jeder fühlte, daß die große, schwere Not, die schon hinter allem stand, noch viel Schwereres und Schlimmeres fordern würde. Und der Winter war grausam hart mit der unerbittlichen Kälte von 20—25 Grad! Dazu fegte ein eisiger Sturm über das Frische Haff. Alles war fest gefroren, und doch standen die Menschen, die nun in immer größeren Massen herandrängten, Tag und Nacht am Hafen, um die einlaufenden Schiffe als erste zu bestürmen.

Im Radio kamen unentwegt aufpeitschende Meldungen vom Gauleiter Koch durch: „Königsberger, bleibt in Euren Häusern, — kämpft mit der Waffe! usw.”, die nur wie ein Hohn wirkten. Keiner glaubte nun mehr an


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einen guten Ausgang. Was herauskonnte, floh, erstürmte die Eisenbahnwagen, bis dann die Züge nach tagelangem Hin- und Herfahren plötzlich wieder zurückkamen mit der Schreckenskunde: „Eisenbahnstrecke Elbing von den Russen beschossen und besetzt!” Und nun ergriff eine ungeheure Panik und Verzweiflung die Menschen, die wie in einer Mausefalle saßen und nur noch die einzige Möglichkeit hatten, an das Ausfalltor Pillau heranzukommen und sich dahin zu Fuß oder mit dem Treck auf den Weg zu machen, um hier einen Platz auf einem Schiff zu finden. . . .

Ostpreußen auf der Flucht! Übers Haff hinüber zur Frischen Nehrung, . . . [viele] brachen in der offen gehaltenen Fahrrinne ein, versanken mit Roß und Wagen, mit Mann und Maus, mit aller Habe, oder sie erfroren in den eisigen Winternächten. Und vielen wurde die Nehrungsstraße, die sie über Eis oder von Pillau aus erreichten, auch noch zum Verhängnis, teils aus der Luft von russischen Tieffliegern, teils durch Erschöpfung, teils durch Kältestarre. . . .

Auf den weiten Landstraßen wanderten sie zu Tausenden mit Schubkarren und Handwagen, mit Kinderwagen, weinende, todmüde und frierende Kinder an den Händen, schwere Gepäckstücke umgehängt, bis sie nicht mehr weiterkonnten und Stück für Stück auf der Straße zurücklassen mußten. Für alle gab es nur ein Ziel: Pillau! Hier war die Rettung vor den nachstürmenden Russen, hier war noch ein Weg ins Freie. — Und wie kamen hier die Menschen an nach ihrer tagelangen Flucht, hungrig, fast erfroren, gehetzt und gepeinigt von einer rasenden Angst, viele nahezu wahnsinnig, andere stumpf und gleichgültig vor Entsetzen und Kummer, kaum das Nötigste bei sich, nicht immer alle Familienangehörigen beisammen, die alten Eltern zurückgelassen, die Kinder unterwegs erfroren und an den Straßenrändern im Schnee begraben. Spürten es die Mütter noch, oder war jedes tote Kind eine Last weniger? So stand diese verzweifelte Menschenmenge wie eine dichte Mauer am Pillauer Bollwerk, nur von dem einen Gedanken besessen, ein Schiff zu finden, das sie mitnahm „ins Reich”! Dann, so hofften sie, hätte alle Not ein Ende. — Aber nicht jeden Tag gingen Schiffe, und kein Schiff konnte diese Menschenmassen fassen, die es stürmten. Da drangen sie in die Häuser und in die Wohnungen wie eine Walze, die alles niederriß, was ihnen im Wege stand. Alle hatten tiefstes Grauen in den von der Kälte entzündeten Augen, jeder hatte bis zuletzt geglaubt und gehofft, sich an die Scholle gekrampft, erst im allerletzten Augenblick das Allernötigste ergriffen, und so waren sie dann davongezogen in ein Ungewisses Schicksal hinein.

Wir Pillauer erlebten mit schreierstarrtem Herzen das ungeheure Leid, das nun zu uns heranbrandete und uns mit einschloß. Wir heizten die Zimmer, was die Öfen hielten, standen unentwegt am Herd, um dauernd Kaffee zu brühen und die fast Erfrorenen auch innerlich zu erwärmen. Wir teilten das letzte Stück Brot mit ihnen und vergaßen selbst unseren Hunger dabei, denn die Bäckereien wurden gestürmt und konnten für die vielen Tausende den Bedarf nicht annähernd decken. Tag und Nacht wurde der Badeofen angehalten, damit die Menschen nach ihrer langen, eisigen Wanderung sich säubern und wieder menschlich machen konnten. Die Kinder wurden gewaschen und die Windeln und die Babywäsche dazu. Hunderte hatten wir in diesen Tagen in unserer großen Wohnung bei uns und in den Büroräumen eingeschachtelt,


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die zum ersten Mal nach der Flucht aus ihrem Heimatort wieder Atem holten und erschöpft dalagen, um neue Kraft zu sammeln. .. . Nie werde ich vergessen, als spät abends einmal noch ein Schub Königsberger zu uns zum Nachtquartier hereinkam, wie ein älterer Herr an seinen Stöcken zu mir in die Küche kam, um sich heißen Kaffee einschenken zu lassen. Er starrte mich an wie einen Geist, als er mich so ruhig hantieren und für alle sorgen sah. „Oh„, sagte er, „ich wollte mich noch heute abend um einen Schiffsplatz bemühen. Aber wenn ich Ihre Ruhe sehe, ich glaube, dann kann ich doch noch eine Nacht hier bleiben und mal endlich schlafen. Wenn Sie noch so ruhig sind, kann es doch noch nicht so schlimm sein!” Er blieb nicht nur eine, er blieb zwei Nächte, wir schieden als Freunde und sind uns heute noch verbunden. So ging es, daß wir von manchem schwer Abschied nahmen, um den wir sorgten, wie er seinen Weg fortsetzen könnte. Und diese Angst um ihr Leben und ihre letzte Habe, die sie alle hatten!

Und dann kam die furchtbare Nacht, die alle, die sie erlebten, niemals vergessen werden. Wir hatten uns spät zu einer kurzen Ruhe hingelegt. Da wurden wir durch ein gewaltiges Donnergetöse, dem eine erdbebenartige Erschütterung folgte, aus dem Schlaf hochgerissen. Wir sahen mit aufgerissenen Augen, wie sich die Wände neigten und wieder zurückpendelten. Zugleich ein Krachen und Schlagen, als ginge das Haus um uns in Trümmer. Was war geschehen? Die Russen? Die Stalinorgel? Bombentreffer? Das waren die ersten Gedanken, nichts anderes war zu vermuten. Als wir vorsichtig die Tür öffneten, standen wir in Scherben, überall sah es verheerend aus, alle Fenster herausgeschlagen, die Türen lose in den Angeln, die Tür des Hausflurs lag auf dem Hof, die Gardinen hingen zerfetzt, die eisige Kälte drang überall ein. Das ganze Haus war auf den Beinen. War das schon der Untergang? Alle standen zitternd und mit schlotternden Knieen und wußten nicht ein noch aus. Dann kam die erste Nachricht aus der Kommandantur: „Munitionslager im Fort Stiehle in die Luft geflogen.” Alles mitgerissen, was in der Nähe war, Häuser und Menschen, Baracken mit den Arbeitern. Menschen hingen zerfetzt in den Bäumen, andere irrten wie wahnsinnig umher. War's ein Unglück, ein Versehen, Sabotage? Nie wird sich das wohl genau aufklären lassen.

Aber diese Nacht des 26. Januar 1945 war der Anfang vom Untergang Pillaus. Nun hatten auch wir nichts mehr, was wir den Flüchtlingen an Wärme und Unterkommen bieten konnten. Durch alle Räume fegte der eisige Wind, und Türen und Fenster waren nicht zu ersetzen. Einige Tage kämpften wir noch mit dem schweren Entschluß der Flucht in ein Ungewisses Schicksal. Unsere Hoffnung auf irgendein Wunder, das das Schlimmste verhüten sollte, war geschwunden. Am letzten Sonntag im Januar waren 8 000 Flüchtlinge gemeldet, es kamen jedoch mit der Bahn und mit Schiffen aus Königsberg 28 000 an! Dennoch gelang es, alle in den Kasernen zu verpflegen und sie dort, in den Schulen, Kirchen und Sälen unterzubringen. Die Kriegsmarine stellte Lebensmittel in reichstem Maße zur Verfügung. Im Hafen drängte alles zu den Schiffen. Fürchterliche Szenen spielten sich ab. Der Mensch wurde zum Tier. Frauen warfen ihre Kinder ins Wasser1), um nur mitzukommen oder sie in dem Gedränge nicht totquetschen zu lassen. Der allgemeine Wirrwarr wurde nun dadurch gleichzeitig noch erhöht, daß völlig desorgani-


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sierte Truppen in die Stadt und in die Häuser strömten, plünderten, sich mit den Flüchtlingen vereinigten und ebenfalls auf die Schiffe drängten. Um durch die Absperrungen zum Hafen zu kommen, nahmen Soldaten den Müttern Kinder weg und behaupteten, sie wollten ihre Familie an Bord bringen! Andere hatten sich Frauenkleidung angezogen und versuchten, auf diese Weise mit den Schiffen wegzukommen.

Am Montag, dem 5. Februar, erfolgte der erste Bombenangriff auf Pillau. Nachmittags 14.30 Uhr kamen die russischen Flieger in mehreren Wellen an, und in kurzer Zeit war das Werk getan. Was durch die Explosionskatastrophe noch verschont geblieben war, bekam jetzt den Rest. Viele Häuser wurden getroffen und sanken zusammen. Mehrere hundert Opfer an Toten und Verwundeten waren zu beklagen. Da der alte Friedhof im Laufe der letzten Wochen völlig belegt war, wurde ein neuer angelegt. Er erstreckte sich von der Nordermole hinter den Dünen mit der Zeit bis Ende April bis an die Strandhalle von Zöllner. Bis dahin wurden dort rund 8 000 Soldaten und Zivilisten begraben. Der ganze Friedhof war vom Heeresgräberoffizier unter natürlicher Ausnutzung des Kiefernbestandes als Heldenhain sehr geschmackvoll angelegt und ausgestaltet worden. In der Mitte auf einem Andachtsplatz ragte ein hohes Holzkreuz.

Dienstag, den 6. März, folgte der zweite Bombenangriff. Auch dieser war von schwerer Wirkung. Auch diesmal waren wieder ungezählte Flüchtlinge unter den Opfern. Mit dem Vordringen der Russen auf der gegenüberliegenden Haffseite und im Samland nahm dann auch die Artillerietätigkeit allmählich immer mehr zu. Pillau wurde von Rosenberg, Balga, Patersort, Fischhausen und Widitten aus beschossen. Jede Nacht kreisten sich regelmäßig ablösende Flieger in niedrigem Abstand über der Stadt, genannt „Nachteule” oder „U. v. D.”1), und warfen Einzelbomben auf den geringsten Lichtschein. So wurden im Laufe der letzten Wochen getroffen und z. T. völlig zerstört: im Zitadellenhof die Kommandantur, das schöne, alte Zeughaus, die Festungskirche, die Wohnhäuser des inneren Ringes; die Kasernen am Bahnhof haben tagelang gebrannt, der Seedienstbahnhof, die Oberschule, das Amtsgericht, das Marinelazarett, in der Plantage die Offiziershäuser und die Siedlungshäuser (nur wenige sind erhalten geblieben), ferner das Marineverpflegungsamt und die Munitionsanstalt, von den Zerstörungen in der Stadt ganz zu schweigen.

Die Reste der 4. Armee, die im Räume von Heiligenbeil — Balga kämpften, wurden über Haff mit kleinen Fahrzeugen nach Pillau gebracht. Zugleich nahm die Zahl der Verwundeten aus der Samlandfront erheblich zu. Die höchste Zahl an Verwundeten, die Pillau, Lochstädt und Neuhäuser an einigen Tagen barg, betrug 32 000! Dennoch war es möglich, in verhältnismäßig kurzer Zeit diese auf Lazarettschiffen und anderen Hilfsfahrzeugen bis auf 3 000 abzubefördern. Militärisch wurde die Kriegsmarine in der Befehlsgewalt immer mehr durch das Heer ausgeschaltet. Ein Generalkommando folgte dem andern, manchmal wechselte es schon nach 5 Tagen. Die Truppen und besonders die reichlich großen Stäbe plünderten die Wohnungen in der Stadt allmählich völlig aus. Im Laufe der Zeit waren dann sämtliche Einwohner und Flüchtlinge aus der Stadt mit Schiffen aller Art abbefördert worden. Ein


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großer Teil mußte auf Anordnung des stellvertretenden Reichsverteidigungskommissars leider den Fußmarsch über die Frische Nehrung antreten1). Es war gerade die Zeit grimmiger Kälte, übelsten Winterwetters, Glatteis, während Tiefflieger von oben die Nehrungsstraße ständig beschossen. Für viele wurde dieser Marsch zum Todesweg.

Als die Front nun immer näher rückte, und es sich zeigte, daß Pillau nicht zu halten war, setzte sich der Rest des Stabes der Kriegsmarine nach Neutief ab. Ich erhielt den Befehl, mit dem Rest meiner Kompanie, 80 Mann, in der Nacht vom Hinterhafen aus abzufahren. Wir warteten von Stunde zu Stunde, aber es kam kein Schiff. So wurde es 3.00 Uhr. Das Artilleriefeuer auf die Stadt und das Bahngelände in unserem Rücken nahm immer mehr zu, und die Russen waren von Kamstigall her in das Gelände des Hinterhafens eingedrungen. Ein Teil der Häuser auf dem Russendamm brannte lichterloh. Von dorther und vom Hinterhafen aus wurden wir bereits mit MGs. beschossen. Das Artilleriefeuer auf Bahnanlagen und Holzwiese nahm weiter zu. Da immer noch kein Schiff trotz wiederholter Zusage kam, entschloß ich mich, mit meiner Kompanie mich zum Vorhafen durchzuschlagen in der Hoffnung, daß wenigstens dort noch ein Schiff lag. Einzeln oder in kleinen Trupps, nach jedem Einschlag weiterspringend, gelangten wir wie durch ein Wunder ohne Verluste über die Holzwiese und Hindenburgbrücke an dem gerade in hellen Flammen stehenden Hause des Konsuls Jansen vorbei über den Schutt der Häuser in der Königsbergerstraße (Sparkasse, Strahlendorf) und am Markt (Wendes Haus) durch die Lizentstraße, deren jedes Haus Bombentreffer bekommen hatte und dann durch die Lotsenstraße über die Trümmer des „Goldenen Ankers„zur Ecke am Vorhafen. Hier konnten wir gerade noch im letzten Augenblick den letzten Marine-Fährpram und damit das letzte Fahrzeug, das aus Pillau ablegte, besteigen. Wenige Minuten darauf, um 4.30 Uhr am Morgen des 25. April, legten wir ab.

Vf. schließt seinen Bericht mit einigen Reflexionen über das Verlassen der Heimat.