Nr. 30: Kreis Samland während der letzten Kampfhandlungen in den Monaten Januar bis April 1945.

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Erlebnisbericht des ehemaligen Landrats des Kreises Samland, v. d. Groben.

Original, September 1952, 29 Seiten. Auszugsweiser Abdruck.

Verhalten der deutschen Behörden und Schicksal der Bevölkerung im

Nach einer Charakterisierung der militärischen Lage und der Gefahr, die Ende 1944 für die ganze Provinz Ostpreußen entstanden war, schreibt der Vf.:

Etwa Ende Oktober setzte sich der sehr umsichtige Kreisbauernführer meines Kreises mit mir in Verbindung, um die Lage unseres Kreises für den


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)Ernstfall zu prüfen. Zum damaligen Zeitpunkt hatte das Samland bereits Menschen und erhebliche Mengen an Großvieh aus den ostpreußischen Grenzkreisen aufgenommen. Der Kreisbauernführer machte sich Gedanken darüber, was werden solle, wenn sich der Zustrom verstärken sollte und das Samland nicht mehr Raum- und Futtergrundlage für das Aufnahmegut bot. Auch der Gedanke einer Gefährdung selbst unserer „Festung”, so unglaubhaft er uns an sich noch schien, war schließlich in Betracht zu ziehen.

Ich griff die Anregung des Kreisbauernführers gerne auf. Uns bewegte vor allem die Frage, wie es möglich sein könne, das Vieh nach dem Westen zu transportieren. Wir rechneten damit, daß der Eisenbahnweg über Königsberg dafür nicht zur Verfügung stehen würde, ebensowenig wie nennenswerter Schiffsraum. So blieb nur der Fußmarsch über die Frische Nehrung, und diese wiederum konnte entweder über das Pillauer Tief oder über den erheblichen Haff-Wasserweg Peyse — Kaddig-Haken erreicht werden. Wir verhandelten mit den verschiedenen Dienststellen, insbesondere der Schiffahrts- und Wasserbauverwaltung über ausreichende Transportmöglichkeiten bzw. über den Bau einer Pontonbrücke über das Pillauer Tief. Der Kommandant von Pillau fand es zwar sehr richtig, daß irgendeine Vorsorge getroffen wurde, verwahrte sich aber energisch gegen den Gedanken, daß Pillau überhaupt dem Durchzug von Flüchtlingen geöffnet werden könne. Somit schien sich der Weg über Peyse in den Vordergrund zu schieben.

Das Ergebnis unserer Erwägungen nebst konkreten Vorschlägen legten wir im Dezember vor. Die Reaktion war unerwartet: Uns wurde bedeutet, daß der Reichsverteidigungskommissar sich jede Einmischung in diese Dinge verbäte und die Beschäftigung mit Räumungsplänen und dgl. als ein Zeichen mangelnden Vertrauens und mangelnder Siegeszuversicht ansähe.1) Schließlich hieß es: Kein einziger Flüchtling werde je über Pillau hinaus die Provinz verlassen — ein wahrhaft prophetisches Wort im Hinblick auf die Hunderttaüsende, die schon wenige Wochen später in Pillau die rettenden Schiffe zu erreichen versuchten. Jede Möglichkeit einer Vorsorge für die eigene Bevölkerung war für die Kreis- und auch die Militärbehörden umso erschwerter, als nicht nur mit derartigen Bedrohungen von oben her zu rechnen war, sondern als auch die Sorge für die Bevölkerung aus der Hand der Behörden in die der Parteistellen gelegt war. Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und für ihr rechtzeitiges Insicherheitbringen waren ausschließlich der Gauleitung und den Kreisleitungen vorbehalten, insbesondere durften nur sie Fluchtbefehle geben, Fluchtwege und Aufnahmegebiete vorschreiben. Obwohl sich allmählich der durch die letzten Ereignisse durchaus gerechtfertigte Eindruck vertiefte, daß dieser Last der Verantwortung keinesfalls eine vorausschauende Planung entsprach, war für die Verwaltungsstellen ihrerseits ein Eingreifen praktisch unmöglich, zumal das nur bei Zusammenfassung aller provinziellen Dienststellen einen Sinn gehabt hätte.

Es folgen persönliche Bemerkungen über das Fehlen jedes Räumungsplanes.


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Die russische Winteroffensive lastete schon Wochen vor ihrem Beginn wie ein drohendes Gewitter über der Provinz, und es war beinahe wie eine Erlösung, als sie dann am 12. Januar begann. Eine Schilderung der militärischen Ereignisse gehört nicht hierher. Schneller als befürchtet war nicht nur der große Außenring der Provinz dem russischen Einfall preisgegeben, sondern auch das Herz, Königsberg, mit den umgebenden Landesteilen, bedroht. Von Königsberg aus gesehen war der 21. Januar, der Tag, an dem Spitzen des südlichen Stoßkeiles der Russen über Maldeuten auf Elbing losmarschierten, ein besonderes Menetekel, weil von diesem Augenblick an die Rückzugslinie über Elbing bedroht war. Tatsächlich sind dann auch am 22. die letzten Züge Richtung Berlin durchgekommen. Die Konzentration aller zivilen Verteidigungsmaßnahmen auf den Bau der Befestigungen und die Aufstellung von Volkssturmeinheiten hatte sich bitter gerächt und die Ereignisse im wesentlichen überhaupt nicht ändern können.

Das Samland war nördlich des Pregels durch ein System von Verteidigungsanlagen etwas besser gesichert als südlich des Pregels. Hier stieß daher der Feind schneller durch und eroberte mit Spitzen schon in der Mitte der Woche, also am 23. oder 24., die Ortschaft Groß Lindenau, in der lebhafte Kämpfe stattfanden. Nördlich des Pregels wurde zunächst noch die Deime-Stellung bei Labiau gehalten und ging erst in diesen Tagen nach schweren Kämpfen verloren. Eine weitere Stellung befand sich etwa auf der Grenze zwischen den Kreisen Labiau und Samland. Sie ist praktisch wohl nicht ernstlich verteidigt worden, weil es bereits an einsatzfähigen Truppen fehlte. So dämmerte selbst beim Reichsverteidigungskommissar am Freitag, dem 26., die Vorstellung, daß Königsberg akut bedroht sein könnte. Allerdings versprach man sich noch viel von der letzten gut ausgebauten Stellung auf der Linie Königsberg— Cranz, deren erfolgreiche Verteidigung die Umzingelung der Landeshauptstadt auch von Norden und Westen verhüten würde.

An dem genannten Freitagvormittag hatte der Kreisleiter des Kreises Samland seine Kreisamtsleiter und Ortsgruppenleiter nach Königsberg befohlen. Ich habe dieser Sitzung wenigstens teilweise beigewohnt. Obwohl, wie schon gesagt, die russischen Truppen im Süden schon auf Kreisgebiet standen und auch im Norden bereits Kämpfe gemeldet wurden, gab der Kreisleiter befehlsgemäß bekannt, daß kein Grund zur Besorgnis bestehe, mit einer Wendung der Dinge in Kürze zu rechnen sei und daher jeder Amtsträger, auch die Bürgermeister, mit ihren Familien auf ihren Plätzen auszuharren hätten. Von einer planmäßigen Rückführung der Bevölkerung war erst recht nicht die Rede. Es sei dafür zu sorgen, daß im Falle der Besetzung durch den Feind die Bevölkerungsteile noch rechtzeitig zurückgebracht würden.

Es war bezeichnend, daß sich gegen diese mit der Wirklichkeit in krassestem Widerspruch stehenden Darlegungen nur von einer einzigen Seite Einwendungen erhoben. Die übrigen Anwesenden dachten sich entweder ihr Teil, ohne sich der Gefahr einer defaitistischen Abstempelung auszusetzen oder ließen sich wieder einmal von dem zur Schau getragenen Optimismus anstecken.

Vf. schildert dann die Überführung seiner Dienststelle nach Fischhausen und berichtet über das weitere Vordringen der Russen im östlichen Teil des Kreises Samland.


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Es mag etwa gegen 10 Uhr abends am 28. Januar, einem bitterkaltem Wintertage, gewesen sein, als der Oberpräsident und Gauleiter Koch allen Königsberger Behördenleitern die Weisung durchgeben ließ, daß er am Vormittag des kommenden Tages eine Dienstbesprechung in Fischhausen abzuhalten gedenke. Es handelte sich also um einen verdeckten Fluchtbefehl. Die Königsberger Bevölkerung wurde nicht alarmiert. Trotzdem hatte sich die Lage, die sich ja auch durch die Richtung des Gefechtslärmes abzeichnete, bei Teilen der Bevölkerung herumgesprochen, und so waren in dieser unheimlichen Winternacht, in der vor Mitternacht größeres Schneetreiben einsetzte, Scharen von Menschen zu Fuß und mit seltsamsten Gefährten, mit Schlitten und Schleifen unterwegs und bildeten auf der Pillauer Landstraße einen unabsehbaren düsteren Strom. Hunderte und aber Hunderte von Kraftfahrzeugen, in denen sich Wehrmachtsstäbe, zivile Würdenträger und sonstige bevorzugte Sterbliche befanden, wurden immer wieder durch den Gegenstrom militärischer Fahrzeuge bis herauf zu den schwersten Panzern blockiert. Zusammen mit dem Adjutanten des Generals der Kriegsgefangenen, Major Frhr. von Schrotter, den ich zufällig traf, habe ich stundenlang versucht, festgefahrene Verkehrsknäuel aufzulösen und den Strom wieder in Gang zu bringen, was umso schwieriger war, als ich in meinem eigenen kleinen Fahrzeug keinen Fahrer mehr hatte.

Die Zahl der noch aus Königsberg herausgelangten Menschen muß beträchtlich gewesen sein, da der Russe erst am nächsten Vormittag die Pillauer Landstraße erreichte und die Umschließung Königsbergs bis zum Pregel erst in den Nachmittagsstunden abgeschlossen war. Es waren das die gleichen Stunden, in denen die in Metgethen in die Hände der Russen fallende Bevölkerung unter barbarischen Grausamkeiten zu leiden hatte, die gleichen, in denen die letzten Züge auf der Fischhauser Bahn bei Seepothen vom Russen überrascht wurden.

In Fischhausen sah der gleiche Vormittag ein unbeschreibliches Gedränge. Wegen totaler Überfüllung wurde versucht, den Zustrom weiterer Flüchtlingsmassen abzudämmen, was naturgemäß nur unvollkommen gelang. Nicht nur von Königsberg her, sondern auch von anderen Teilen des westlichen Samlandes strömten Flüchtlingszüge zusammen und stauten sich in unvorstellbarer Weise. Alles wurde auf die Fischhäuser Wiek geleitet und mußte meist nach Zurücklassung von Pferd und Wagen die Strecke nach Pillau über das Eis zurücklegen. Der weitere Zustrom ließ dann plötzlich von selber nach, weil russische Truppenteile die meisten größeren Straßen erreicht hatten und einen weiteren Fluchtverkehr verhinderten.

Im folgenden wird ein genauer Überblick über die militärische Lage gegeben, die sich so entwickelt hatte, daß am 2. Februar nur noch die Festung Königsberg, Fischhausen mit Pillau sowie Neukuhren und der Flugplatz von Großdirschkeim in deutscher Hand waren. Ferner erwähnt Vf. Einzelheiten der Auswirkung dieser Lage auf die Zivilverwaltung.

Aus der damaligen Schau ließ sich nur undeutlich übersehen, wer sich bei der allgemeinen Katastrophe hatte retten können. Ich habe mir damals aus den verschiedensten Nachrichten das Bild gemacht, daß es einem verhältnismäßig großen Teil der ortsansässigen Bevölkerung, zu der ja auch Flüchtlinge aus den östlichen Kreisteilen gehörten, gelungen war, vor den Russen nach


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Westen auszuweichen. Unbeschreibliche Mengen von Trecks waren auf kleinstem Raum im Dreieck der beiden Küsten zusammengeschoben oder sickerten durch die undichten russischen Verbände noch durch. Natürlich waren in allen Ortschaften Alte und Kranke und Personen zurückgeblieben, die ihr Pflichtgefühl zurückhielt oder die sich aus sonstigen Gründen entschlossen hatten, zu bleiben. Größere Bevölkerungsteile sind jedenfalls in der Ortschaft Granz in russische Hände gefallen. Hier hatten sich innerhalb des Brückenkopfes Gollnick nach den damaligen Aussagen etwa 4 000 Menschen zusammengefunden. Ihr Abtransport Richtung Neukuhren unter dem Schutz des Corps ist nach den damaligen mir zuverlässig erscheinenden Nachrichten zum Teil deswegen unterblieben, weil die letzte Befehlsausgabe der Kreisleitung optimistische Vorstellungen erweckt hatte. Es wird allerdings zuzugeben sein, daß der Fluchtweg an einem schmalen Küstenstreifen entlang, der wohl schon unter russischer Feindeinwirkung lag, nicht für jeden gangbar erschienen sein mag. Mit den zahlreichen Einwohnern und Gästen des Ortes ist auch der Bürgermeister in russische Hand gefallen.

Wie noch weiter unten zu schildern sein wird, gelang es etwa nach dem 5. Februar, eine neue Front vor Neukuhren in einem leicht eingedrückten Bogen bis auf Peyse zu aufzubauen. Die weiter westwärts vorgedrungenen russischen Spitzen fielen dabei in deutsche Hand. In den vorübergehend besetzt gewesenen Ortschaften bot sich ein unterschiedliches Bild. Häufig war nicht allzuviel passiert, vermutlich vor allem deswegen, weil es sich um rein militärische Kräfte gehandelt hatte, die sich mit oberflächlicher Plünderung, der Wegnahme von Uhren und Wertgegenständen und dgl. begnügt hatten. Amtliche Personen allerdings waren fast stets verschleppt oder erschossen worden.

Schlimmer sah es z. B. in Germau aus, wo die überraschte Zivilbevölkerung sehr zu leiden gehabt hatte. Besonders unangenehm war es, daß auch Sorgenau vorübergehend in russische Hand fiel. Hier hatte einige Tage vorher ein größerer Transport von Juden sein Ende gefunden. Es handelte sich um einen ursprünglich aus mehreren Tausend Juden bestehenden Transport, der aus dem Baltikum kam mit Marschrichtung Elbing, dann aber ins Samland abgedreht wurde, weil der „Weg ins Reich” bereits verlegt war. Auf dem Wege von Königsberg bis Sorgenau sind dann zahlreiche Mitglieder des noch immer nach Hunderten zählenden Zuges durch Entkräftung, Hunger und Mißhandlung umgekommen und unbeerdigt im hohen Schnee liegen geblieben, während der Rest von den -irgendwelchen ausländischen Hilfsvölkern angehörenden -Wachmännern in Sorgenau in die See getrieben bzw. erschossen wurde. EinTeil der Unglücklichen soll verwundet entkommen sein. In dem allgemeinen Durcheinander war es nicht möglich, diese Wahnsinnstat, die die Bevölkerung mit Recht als unmenschliche Grausamkeit und angesichts des drohenden russischen Einfalls als Gefährdung ihrer selbst ansah, zu verhindern, zumal eigene polizeiliche Kräfte nicht mehr greifbar waren und das Wachkommando höhere Befehle hatte. Obwohl die russischen Vorhuten auf lebendige oder tote Zeugnisse dieses grauenhaften Geschehens gestoßen sein müssen, waren Vergel-. tungsmaßnahmen nicht unmittelbar festzustellen.

Bevor es zum Aufbau der schon erwähnten Front Neukuhren/Peyse kam, hatte es in und um Neukuhren sehr heftige Kämpfe gegeben, die ihren Höhepunkt am 3. Februar erreichten. Ich bin persönlich Zeuge dieser Kämpfe ge-


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wesen, da ich mich am gleichen Tage von Pillau aus auf einem kleinen Boot über See nach Neukuhren begeben hatte. Der Russe drückte sehr stark auf das zum Teil brennende Neukuhren, so daß der Stab des Corps Gollnick nach Rausdien verlagern mußte. Als es aber bis zum Abend des 3. nicht gelungen war, in das stark brennende Neukuhren einzudringen, flauten die Kämpfe ab, und es gelang den Divisionen, den Anschluß an die vor Blumenau aufgebaute Front westlich des Galtgarbens1) herzustellen. Bei der Säuberung des westlichen Samlandes wurden Reste der russischen Truppen südlich des Kleinen Hausens2) eingeschlossen und vernichtet.

Noch während die Kämpfe um Neukuhren im Gange waren, ging der Abtransport der gerade hier stark zusammengedrängten Flüchtlinge — es handelte sich um etwa 2000 Menschen aus dem ostwärts gelegenen Kreisteil — mit kleineren Fahrzeugen der Kriegsmarine vor sich. Nach einer Vereinbarung mit dem Kampfkommandanten von Neukuhren wurden Verwundete und Flüchtlinge je zur Hälfte abgefertigt.

Nach der Stabilisierung der Front auf der bereits bezeichneten Linie ergab sich für die zivilen Aufgaben folgendes Bild: Die ursprüngliche Wohnbevölkerung der in unserer Hand verbliebenen Ortschaften war mehr oder weniger fort, insbesondere die Menschen aus den größeren Ortschaften, aber auch in den kleinen ländlichen Ortschaften waren meist nur wenige Einwohner zurückgeblieben. An ihrer Stelle waren neue Flüchtlinge eingekehrt, die meisten mit Pferd und Wagen. Große Wagenkolonnen, unter denen sich auch die Trecks größerer Güter befanden, schoben sich namentlich von Georgenswalde über Groß Kuhren bis Germau auf den Straßen zusammen, während die in größerer Frontnähe gelegenen Ortschaften weniger belegt waren. Es erwies sich zunächst als notwendig, in den meisten Ortschaften geeignete Persönlichkeiten zu finden, die die Geschäfte des Bürgermeisters und des Bauernführers wahrnehmen konnten. Zur besseren Zusammenfassung wurde einigen vertrauenswürdig erscheinenden Männern ein größerer Bezirk unterstellt und sie mit den Befugnissen eines „Amtskommissars” betraut. Die dringendsten Aufgaben bestanden zunächst darin, eine gewisse Ordnung wieder herzustellen, die Vorräte an Lebensmitteln und Futter zu sichern, das noch vorhandene Vieh in Herden zusammenzufassen, für das Melken und den Abtransport der Milch zu sorgen, Molkereien wieder einzurichten und dgl. mehr. Im weiteren ergab sich die Notwendigkeit, die vorhandene Flüchtlingsbevölkerung oberflächlich zu registrieren und ein sehr behelfsmäßiges Rationierungssystem einzuführen. Alle diese Aufgaben wurden von mir unter Unterstützung des Kreisbauernführers Lehmann in Sankt Lorenz in Angriff genommen und konnten in verhältnismäßig kurzer Zeit nur mit den genannten Hilfskräften durchgeführt werden.

Ich bin tagelang mit einem mir von der Wehrmacht zur Verfügung gestellten Kübelwagen von Ortschaft zu Ortschaft gefahren und habe persönlich die Dinge in Gang gebracht. Es war erstaunlich, wie schnell meist ganz fremde Leute sich in den Ortschaften zurechtfanden, wie rasch mit dem Ausdrusch von Getreide begonnen werden konnte und wie schnell die Versorgung


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mit Butter und mit Milch, wenigstens für die Kinder, in Fluß kam. Größte Sorge bereitete uns die Beschaffung des Futters für die Treckpferde. Die Wehrmacht drängte darauf, die Pferde abzuschieben oder zu töten, weil sie über einen gewissen Rest an Futter für ihre eigenen Zwecke verfügen wollte. Andererseits waren die Besitzer der Treckpferde nur schwer zu bewegen, sich von ihnen zu trennen, weil sie die Hoffnung aufrecht erhielten, entweder nach Hause zurückfahren oder mit ihren Wagen die letzte Habe über die Frische Nehrung retten zu können. Bis zum gewissen Grade wurde diese Hoffnung auch durch Verlautbarungen von Pillau aus aufrechterhalten, so daß ich mich in der schwierigen Lage befand, zwischen den Wünschen der Wehrmacht und den dringenden Bitten der Flüchtlinge einen Mittelweg finden zu müssen. Im ganzen wurde aber doch im Laufe der nächsten Wochen der Bestand an Pferden laufend vermindert, wobei es nur einem geringen Teil gelang, auf die Frische Nehrung zu kommen.

Der Übergang über das Tief war mit großen Schwierigkeiten verbunden, auch war die Nehrung bis auf weiteres durch die Aufnahme der Flüchtlinge von Heiligenbeil aus völlig verstopft. Es kam hinzu, daß der Abtransport der Flüchtlinge über See von Pillau aus ziemlich zügig vonstatten ging und sich doch die meisten entschlossen, Pferd und Wagen im Stich zu lassen, um sich über See zu retten. Nur ein kleinerer Teil hielt hartnäckig an der Hoffnung fest, daß das Kriegsglück sich wenden müsse und die Rückkehr in die Heimat wieder freistehen werde. Man kann sagen, daß etwa bis zum 20. Februar im großen und ganzen nur noch solche Männer zurückblieben, die zur Bewirtschaftung der landwirtschaftlichen Betriebe notwendig waren oder die ein sonstiges Amt zu versehen hatten, von Alten, Schwachen und Kranken, die transportunwillig oder -unfähig waren, abgesehen.

Nach einigen Bemerkungen über die Bereitstellung deutscher Truppen im Brückenkopf Neukuhren für einen geplanten Durchbruch nach Königsberg fährt der Bericht fort:

Es folgte am 18. und 19. Februar die Durchbruchsschlacht auf Königsberg, die von der Festung aus durch die 5. Panzerdivision erfolgreich unterstützt wurde und zu einem beachtlichen Teilerfolg führte. Der Weg nach Königsberg wurde auf einer breiten Strecke zwischen dem Haff und Seerappen geöffnet, während die Eroberung des Galtgarbens leider nicht gelang. Dieser Eckpfeiler blieb also leider in russischer Hand. Über dieáe militärische Aktion liegen bereits mehrere Veröffentlichungen vor1), so daß ich mir hier weiteres ersparen kann.

Zu den befreiten Ortschaften gehörte in meinem Kreise Großheidekrug, das ich alsbald persönlich besichtigt habe. Im Gegensatz zu Metgethen haben wir irgendwelche größeren Schandtaten nicht feststellen können. Die noch ortsanwesende Bevölkerung war verschleppt worden, ohne daß über ihr Schicksal Näheres bekannt war. Einigen war es gelungen, sich zu verstecken und so unentdeckt zu bleiben; ihre Vernehmung förderte aber nichts zu Tage, worauf auf besondere Untaten hätte geschlossen werden können. Eine andere Frauensperson hatten die Russen zurückgelassen, aber auch ihr war nach ihren eigenen Aussagen nicht allzuviel passiert.


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Durch die Öffnung von Königsberg wurde die Lage für den Rest des Sanilandes schlagartig anders. Der Gauleiter Koch, der bekanntlich sein Hauptquartier in Neutief aufgeschlagen hatte, wünschte, daß möglichst viele Leute aus Königsberg in das Samland verbracht würden. Nach den damaligen offiziellen Angaben befanden sich in Königsberg noch etwa 150 000 bis 160 000 Menschen, die nicht direkt mit der Verteidigung beschäftigt waren. Von dieser Bevölkerung wurden im Laufe der nächsten Wochen rund 100 000 in das Samland überführt, wobei sich folgende Verteilung ergab (alles in runden Zahlen):

20000 Raum Peyse

20000 Fischhausen und Umgebung

20000 Raum Palmnicken

20000 Raum Groß Kuhren

20000 Rauschen und Neukuhren.

Ein Teil dieser Menschen war nur ungern aus Königsberg herausgegangen, weil sie sich, wenn auch behelfsmäßig, ganz gut eingerichtet hatten und zum Teil auch über gewisse Essensvorräte verfügten. Die sehr gedrängte Unterbringung im Samland und der Mangel an ausreichender Ernährung bestärkte sie in der Vorstellung, daß sie besser in Königsberg geblieben wären. Ein nicht unwesentlicher Teil ist dann wohl auch „schwarz” zurückgesickert. Ich selber habe mich dem Oberpräsidenten gegenüber gegen eine zu starke Belegung des Sanalandes, zumindest in dem von mir als besonders gefährdet angesehenen Raum Neukuhren, ausgesprochen. Trotzdem wird man den Entschluß nicht völlig verurteilen können, da immerhin die Gefahr, daß Königsberg wieder eingeschlossen werden könnte, vielleicht größer war als ein überraschender Angriff auf das westliche Samland. Am 20. Februar konnte man nach der damaligen Lage immerhin mit einem zügigen weiteren Abtransport über See rechnen. Tatsächlich ist dann diese Rechnung nicht aufgegangen, weil etwa von diesem Zeitpunkt ab der gesamte Schiffsraum für das inzwischen stärkstens gefährdete Danzig bereitgestellt wurde. Von den genannten 100 000 Menschen sind daher tatsächlich nur noch wenige abtransportiert worden, was — entgegen der etwa bei Thorwald vertretenen Meinung1) — nicht auf dem mangelnden Willen der Bevölkerung, sondern ausschließlich auf dem nichtvorhandenen Schiffsraum beruhte.

Wie viele von diesen Hunderttausend sich dann schließlich bei der letzten Flucht vom 13. April ab, auf die ich noch zu sprechen komme, haben retten können, wird wohl immer ungeklärt bleiben. Sicher ist, daß ein großer Teil in russischer Hand geblieben ist.

Diese Bevölkerungsverlagerung aus Königsberg wurde meiner Erinnerung nach in den ersten März-Tagen eingeleitet und wird etwa Mitte März abgeschlossen worden sein.

Die folgenden Seiten geben einen Überblick über die im März und Anfang April im westlichen Samland erfolgten Maßnahmen zur Normalisierung des Lebens und der Versorgung der Bevölkerung. Ferner schildert Vf. die militärische Lage, die nach dem Fall von Königsberg am 7. April 1945 für das westliche Samland entstanden war und die einen baldigen Angriff der Russen auf die Samlandfront erwarten ließ:


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Am 13. April nachmittags um 15 Uhr griff der Russe vor Neukuhren an. Schon einige Stunden später war die Front im Weichen. Ab die Nachricht uns gegen Abend in Fischhausen erreichte, sah bereits alles sehr bedenklich aus. Der Kreisleiter Matthes ließ telefonisch nach Rauschen den Befehl durchgeben, die Flüchtlingsbevölkerung solle nach Möglichkeit versuchen, sich noch während der Nacht zu Fuß durch die Wälder nach Westen zu retten. Obwohl mir die Sorge für das Schicksal der Zivilbevölkerung und die Möglichkeit eines Eingreifens abgenommen waren, entschloß ich mich, am 14. in aller Frühe nach Rauschen zu fahren. Es war eine denkwürdige Fahrt durch die flüchtende und total aufgelöste deutsche Division unter dauerndem Bordwaffenbeschuß hindurch in das in beinahe feiertäglicher Ruhe im schönsten Sonnenschein liegende Rauschen hinein, wo ich die Flüchtlings-„Betreuer„ nicht mehr vorfand, wohl aber den treuen Bürgermeister Norgal, der sich ebenso wie der größte Teil der Menschen entschlossen hatte, nun das Schlimmste und Letzte an Ort und Stelle zu erwarten. Wenn man bedenkt, daß die meisten dieser Menschen schon zwei- oder dreimal geflüchtet waren, daß fast immer alte und kranke Familienangehörige mit dazugehörten, die man nicht ohne weiteres im Stich lassen wollte, kann man verstehen, daß sich eine apathische Lähmung ausbreitete. Während es z. B. gegen Mittag noch gelang, einen Zug mit Insassen des Krankenhauses Rauschen über Warnicken herauszubringen, saßen viele Leute vor den Türen ihrer Häuser und warteten der Dinge, die nun kommen würden. Hier war nichts mehr zu retten, und nach bewegtem Abschied mit dem Bürgermeister und anderen treuen Bekannten verließ ich den Ort, als vom Bahnhof her einzelne Gewehrschüsse das Nahen der Russen anzeigten, mit dem Eindruck, daß doch wohl der weitaus größte Teil der Flüchtlinge noch im Ort war.

Es ist mir völlig klar gewesen, daß nach dem totalen Zusammenbruch unserer Abwehr das Überfluten des in unserer Hand befindlichen Landes eine Sache von Stunden sein konnte. Auf eigene Verantwortung hin veranlaßte ich die Bürgermeister und Amtskommissare in Groß Kuhren und Palmnicken zur sofortigen Alarmierung der Bevölkerung und der Ingangbringung des Abmarsches, soweit überhaupt noch möglich. Während aus Palmnicken, das bereits in den Abendstunden unter Beschuß lag, noch erhebliche Teile der Bevölkerung herausgekommen sind, dürfte von den in und um Groß Kuhren einquartierten Flüchtlingen nur noch ein kleiner Prozentsatz herausgekommen sein. Auch hier werden sich Zahlen wahrscheinlich nie ermitteln lassen, da das Durcheinander schon um die Mittagszeit ein unbeschreibliches war. Die Straßen waren von waffenlosen Soldaten jeder Richtung überschwemmt, zwischen denen die Gespanne der Flüchtenden in den verschiedensten Richtungen ziellos hin- und herfuhren, alles unter Artilleriebeschuß und dauernden Fliegerangriffen. Niemand wußte, welche Straßen er noch benutzen konnte und wohin er sich wenden sollte.

Die militärische Katastrophe vollzog sich nun weiter rasch. Während sich zunächst noch der südliche Teil der Front weiter gehalten hatte und das Armeekorps eine Abriegelung westost auf der Linie zwischen Meer und Germau erwog, wurden diese Pläne schon über den Haufen geworfen, da sich der Teil der vorwärts stehenden Truppen von der Umzingelung bedroht fühlte und so auch in die allgemeine Auflösung hineingezogen wurde. Im Raum


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Peyse spielte sich die bis heute wohl nicht geklärte Tragödie der 5. Panzerarmee ab, die nach Ausfall ihres Kommandeurs offenbar einen einheitlichen Widerstand eingestellt hatte, während Teile den Gedanken des Durchbruchs nach vorne auszuführen versucht haben sollen. Im Laufe des 15. schob sich jedenfalls der Russe konzentrisch von allen Seiten auf Fischhausen heran, so daß bereits am 16. mit einem Angriff auf diese vorletzte Bastion Ostpreußens zu rechnen war. — In Fischhausen war wiederum eine andere Szenerie eingetreten: auch hier das Bild des Chaos der zurückflutenden Truppenteile und Flüchtlinge, die aber von vorne keinen Nachschub mehr erhielten, da der Russe bereits zu nahe heran war. An der See jedoch war ein schmaler Fluchtweg von Palmnicken her freigeblieben und ermöglichte einen endlosen Treck am Strand entlang.

Fischhausen selbst war am Abend des 15. von ziviler Bevölkerung bereits verhältnismäßig entblößt, so daß auch wir uns entschlossen, uns abzusetzen. Mit dem Kreisleiter Funck — Matthes befand sich bereits seit einiger Zeit in Pillau — wurde das Verlassen der Stadt auf Sonnenaufgang verabredet. Zurück blieb zunächst noch der Bürgermeister und der Ortsgruppenleiter Schultz als Vertreter der Kreisleitung. Da sich eine Benutzung des Kaftwagens wegen der völlig verstopften Straßen als gänzlich unmöglich erwies, haben wir im Laufe des Vormittags zu Fuß den Rückmarsch angetreten und sind wohlbehalten in Pillau angelangt. Fischhausen ist am Nachmittag nach vorheriger völliger Zerstörung in russische Hand gefallen. Die beiden zurückgelassenen Männer sind unter unwahrscheinlichen Umständen herausgekommen, und ich habe sie auf der Höhe von Lochstädt mit dem Blick auf das brennende Fischhausen in einem Kübelwagen aufgelesen, mit dem ich von Pillau zu diesem Zwecke vorgefahren war.

In Pillau befanden sich noch Reste der Zivilverwaltung, u. a. der Vertreter des Oberpräsidenten, der mir am gleichen Tage die Sorge für die noch vorhandenen Männer der Verwaltung und gewissermaßen seine Vertretung übertrug. Meiner Erinnerung nach sind aber bereits am nächsten oder übernächsten Tage auch diese Männer verschifft worden, und auch ein großer Teil der in Pillau zusammengestauten Flüchtlingsbevölkerung konnte per Schiff verladen bzw. auf die Nehrung übergesetzt werden. Hier bestand mein letzter, mir von [Gauleiter] Koch übermittelter Auftrag darin, mich um Flüchtlingsteile zu kümmern, die hier auf ihren Abtransport warteten. Ohne jede Hilfsmittel, ohne Kräfte und Wagen war es fast unmöglich, einen Überblick zu bekommen.

Durch nicht unerhebliche Fußmärsche, bei denen ein kleines Fluchtgepäck mitgetragen wurde, konnte ich mich davon überzeugen, daß es sich hier auf der Nehrung nur noch um geringe Reste von Flüchtlingen handelte, die sich lagermäßig zusammengeschlossen hatten und mit Wehrmachtsfahrzeugen zügig nach Süden abtransportiert wurden. An der See waren mehrfach Schiffsrampen errichtet, doch kamen die hier erwarteten Fahrzeuge nur selten oder gar nicht, da man auf dem Standpunkt stand, daß der Seeweg bis hier oben zuviel Zeit in Anspruch nahm. Das war auch sicher nicht unberechtigt, zumal der Landweg bis zur Weichselmündung offen war. Auf meinem weiteren Fußmarsch über die Nehrung nach Abtransport der Flüchtlinge in einem mir zugeteilten Nehrungsabschnitt boten sich verhältnismäßig friedliche Bilder an


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diesen schönen warmen Frühlingstagen. In der Weichselniederung verkehrten Eisenbahnen, die keineswegs besonders überfüllt waren, und die hier lebende Bevölkerung saß zum Teil noch auf den eigenen Höfen und ging ihrer Arbeit nach.

Die allerletzten Kämpfe in meinem alten Kreise habe ich so nicht mehr miterlebt. Bekanntlich hat der Russe dann nach der Einnahme von Pillau einen Vorstoß über das Haff auf die Frische Nehrung unternommen, wobei es noch zu erbitterten und zum Teil für uns erfolgreichen Kämpfen der deutschen Nachhuten gekommen sein soll. Auch hier werden noch Soldaten und Zivilisten in russische Hand gefallen sein, doch dürfte es sich nur um einen bescheidenen Abglanz dessen handeln, was in den schrecklichen Tagen zwischen dem 13. und 20. April im westlichen Samland an Entsetzen und Grauen, an Tod und Vernichtung oder dem Anbrechen eines neuen, noch schlimmeren Schicksals über Zehntausende deutscher Menschen gekommen ist.