Nr. 40: Flucht nach Stolp in Pommern, Zusammentreffen mit den russischen Truppen.

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Erlebnisbericht der Gisela Friederike von Hohendorff aus Kulmsee , Kreis Thorn i. Westpr.

Original, 16. April 1951, 9 Seiten. Teilabdruck.

Meine Heimat ist Westpreußen. Wir wohnten auf dem Gut bei Kulmsee, Kreis Thorn, in dem sogenannten Kulmer Land. Schmerzlich war es uns, als am 22. Januar 1945 die Abschiedsstunde schlug. Wir konnten es nicht fassen, daß unsere teure Heimat in die Hände der Russen fallen sollte. Tagelang vorher waren 10 Wagen zum Treck vorbereitet worden. Im letzten Augenblick weigerten sich unsere polnischen Arbeiter, mitzukommen. So wurden in aller Eile nur 4 Wagen beladen, und wir verließen abends um 8 Uhr unser Gehöft


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in Richtung Kulm. Da die Brücken durch die Wehrmacht überlastet waren, wurden die Trecks über die zugefrorene Weichsel geleitet. Zu diesem Zweck mußte man die ca. 10 m hohen Weichseldämme überqueren. Durch den starken Schneefall und die grimmige Kalte waren die höchstens 4 m breiten, steilen Dämme total vereist, nur unter Lebensgefahr für Menschen und Tiere zu überqueren. Ein Fehltritt der Pferde oder ein Abrutschen des Wagens nach rechts oder links hätte genügt, das ganze Gefährt zum Absturz zu bringen. Einigen ist es so gegangen, man sah unten zertrümmerte Wagen und tote Pferde liegen; noch unheimlicher war die Situation, weil sich alles in der Nacht abspielte. Wagen für Wagen wurde mit 4 Pferden denWeichseldamm heraufgezogen und an der anderen Seite abgebremst nach unten gebracht.

Als wir am nächsten Morgen weiter wollten, erkrankte uns ein Pferd, das aber durch eine Einspritzung bald wieder zu sich kam. Unser Vorratswagen, der beladen war mit Hafer, Hufeisen, Schraubstollen, Spaten, Petroleum usw. ging uns schon in der ersten Nacht verloren. Der Fahrer dieses Wagens war ein alter deutscher Mann, der den Anschluß an unsere ersten drei Wagen verloren hatte. Jetzt wurden die Pferde, die trotz warmer Decken sehr froren, endlich etwas gefüttert. Das eiskalte Wasser, das wir von weit herbeischleppen mußten, tranken die armen Tiere gierig, und ungern ließen sie sich aufzäumen, weil die eiskalten Gebisse ihnen Schmerzen im Maul verursachten. Wir selbst froren, trotzdem wir dicke Pelze anhatten, unsagbar, denn der Ostwind stürmte Tag und Nacht. Ein unheimlicher Schneeefall setzte ein, das Vorwärtskommen wurde immer wehr erschwert. Für uns gab es kein warmes Essen, wir lebten von gefrorenem Brot. Tagelang waren wir nun schon unterwegs, immer weiter ging der Treck, bis wir endlich auf dem Gut Wehr bei Schweiz für eine Nacht unterkamen. Rücksichtslos jagte die fliehende Wehrmacht an uns vorüber. Meine Mutter und ich lenkten einen Wagen allein; plötzlich streifte ein Wehrmachtswagen mit russischen Hilfstruppen der Wlassow-Armee unsere Pferde, riß ihnen die Fesseln blutig und brachte sie in einen derartig aufgeregten Zustand, daß sie kaum zu bändigen waren. Es waren edle Trakehner-Zucht-Stuten.

In Osche mußten wir wieder auf der Landstraße rasten, um die Pferde zu füttern, bald trieb uns ein Polizeikommandeur weiter mit dem Bemerken, die Russen wären 9 km hinter uns. Also zogen wir wieder los in Richtung Tuchel. Inzwischen hatte ein erneutes furchtbares Schneetreiben eingesetzt, so daß man nicht den Vorderwagen sehen konnte. Auch waren die Gräben von der Straße nicht zu unterscheiden. Rechts fuhren die Treckwagen in dichtgedrängter Kette, links mußte die Straße für die Wehrmacht freibleiben. Auf einem Waldwege war mein Vater mit seinem Wagen in eine Schneewehe geraten, ein Soldat wollte behilflich sein, lenkte die Pferde aber in den Graben, so daß der Wagen umkippte und alles durcheinander fiel. Meine kleine Schwester lag unter Koffern und Kisten vergraben und schrie um Hilfe. Es war eine furchtbare Situation, mitten in der Nacht bei Schneefall und 30 Grad Kälte im Walde in der Tucheier Heide. Von fern hörte man das Dröhnen der Kampfhandlungen, alles flutete an uns vorüber, und wir standen hilflos da! Wir luden den Wagen ab, befreiten Sybille, der nichts geschehen war, und legten Ketten an, an die wir die Pferde spannten, so gelang es uns


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nach vieler Mühe endlich, den Wagen wieder aufzurichten. Zum Glück war nichts zerbrochen, nur der Plan, mit dem der Wagen überspannt war, hing in Fetzen herunter, so daß Schnee und Sturm freien Zutritt hatten. Wir brachten das Gepäck nun wieder auf den Wagen, und weiter ging die Reise.

Oft wurden wir gezwungen, die Pferde umzuspannen und gegenseitig vorzulegen, um über Geländeschwierigkeiten hinwegzukommen. Die vom Schnee nassen Schuhe waren steif gefroren, wechseln konnten wir sie nicht, die Hände konnten kaum mehr als die Leinen halten, wir hatten bisher nur eine warme Mahlzeit genossen. Wo wir auch hinkamen, waren die Unterkünfte alle überfüllt, die Pferde mußten auch immer unter freiem Himmel rasten. Nirgends fanden wir Hilfe, von Kameradschaft und Volksgemeinschaft merkten wir nichts, jeder dachte nur an das eigene Fortkommen. In keiner Ortschaft wurde für Kinder und Säuglinge Milch oder Suppe bereitgehalten, darum starben auch so viel kleine Kinder und alte Leute, die man einfach in den Chausseegraben legen mußte, weil die Erde steinhart gefroren war und jeder vorwärts hastete.

Kurz vor Tuchel wurde die Straße für Zivilfahrzeuge gesperrt und die Trecks durch die Heide geleitet. Nun wurden die Schwierigkeiten für die Pferde noch größer, die Wege waren tief verschneit und unausgefahren. Die Landschaft war zauberhaft schön, doch niemand hatte ein Auge dafür. Trotz der durch neuen Schneefall geschaffenen Hindernisse ging der Treck unaufhaltsam weiter, die Pferde gaben ihre letzten Kräfte her. Inzwischen war es spät Nachmittags geworden, früh brach die Dunkelheit herein. Da die Nacht hindurch getreckt werden sollte, wurden die Pferde noch einmal gefüttert und getränkt, das alles bei eisiger Kälte und starkem Nordost-Wind. Neben dem Wagen meines Vaters stand ein Wagen, auf dem eine Frau saß und furchtbar weinte. Als wir sie nach ihrem Kummer fragten, hob sie die Decke hoch, unter der ihr toter Mann lag, es war keine Möglichkeit vorhanden, ihn zu begraben.

Wir fuhren nun in der inzwischen hereingebrochenen Nacht weiter, während es wieder stark schneite. Der Weg führte jetzt bergauf, große Schneewehen mußten passiert werden. In einer solchen Wehe blieben meine Mutter und ich mit dem Wagen stecken, die Pferde konnten uns nicht mehr herausziehen, so daß wir den Anschluß an die ersten beiden Wagen verloren, die immer weiter fuhren, weil mein Vater annahm, wir wären hinter ihm. Ich lief noch eine Strecke hinterher, konnte aber meinen Vater infolge des hohen Schnees nicht mehr erreichen. Wir versuchten nochmals, unsere Pferde anzuspornen, aber sie versagten, weil sie zu erschöpft waren. In unserer Nähe rastete ein Litauer-Treck, diese Leute verweigerten uns jede Hilfe, um die wir sie baten. So blieben wir mutterseelenallein in der Tucheier Heide mitten in der Nacht; in der Umgebung sahen wir die Blinkfeuer der in den Wäldern verborgenen Partisanen aufleuchten1), es war schaurig und herzbeklemmend.


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Am nächsten Morgen zog uns ein Bauer für eine ansehnliche Summe auf die Haupttreckstraße. Wir fuhren hier zwar noch ein Stückchen weiter, aber bald versagten die Pferde ganz, wir waren gezwungen, die völlig ausgepumpten Tiere bei einem Bauern stehen zu lassen. Ein Wehrmachtsauto schleppte unsern Wagen in kurzer Zeit nach Czersk (Heiderode), wo wir hofften, meinen Vater wiederzufinden. Vergebens, er war schon weitergefahren, weil er uns nun voraus glaubte. Wir ließen nun den Wagen in Czersk stehen und übergaben alle unsere Sachen, darunter sehr viel Lebensmittel, einer polnischen Familie Papierowski. Soviel wir irgend tragen konnten, packten wir an wertvollen Sachen zusammen und versuchten, mit der Bahn weiterzukommen. Auf unserer Irrfahrt hielten wir uns kurz in Berent, Karthaus und Lauenburg auf; wir fuhren auf Lokomotiven und offenen Güterwagen. Als wir Bütow erreichten, mußten wir hier längeren Aufenthalt nehmen, da ich infolge einer Nervenlähmung in beiden Beinen keinen Schritt gehen konnte und mich in ärztliche Behandlung begeben mußte.

Nach etwa 14 Tagen erhielten wir von Verwandten aus Stolp die Nachricht, daß mein Vater mit seinem Treck in Stolp eingetroffen wäre. Da sich mein Zustand etwas gebessert hatte, reisten wir ab und trafen endlich bei meinem Onkel Eberhard v. Hohendorff in Stolp mit meinem Vater zusammen, der erschöpft war und gefährliche Frostschäden an Händen und Füßen hatte. Meine Schwester Sybille war gesund und munter. Die beiden Wagen und restlichen 4 Pferde waren auf dem Gut Wahnwitz bei Stolp untergestellt worden. Nach einigen Ruhetagen wollten wir weiter flüchten, da erkrankten meine Schwester und ich an Masern, und zwar ich selbst so schwer, daß man für mein Leben fürchtete. Wir waren also gezwungen, in Stolp zu bleiben, und erlebten hier den Russeneinfall.

Am 7. März wurde Stolp geräumt, und am nächsten Morgen waren die ersten Russen da, die uns im Luftschutzkeller überraschten. Sie nahmen uns erstmal alle Goldsachen fort, die wir leider vorher nicht abgelegt hatten, im ganzen 2 Trauringe, 3 Wappenringe, 2 goldene Damenuhren, l goldene Herrenkapseluhr mit goldener Kette. Durch die Sprengungen der Stolpe-Brücken durch unser deutsches Militär waren die Häuser in der Nähe der Brücken stark beschädigt, darunter auch das Haus meiner Verwandten. Tür- und Fensterrahmen waren herausgerissen, so daß die Russen freien Zugang hatten. Eine verschlossene Tür wäre auch sowieso kein Hinderungsgrund gewesen, denn der Gewehrkolben hat ganze Arbeit gemacht. Unsere Verwandten, die aus dem Baltikum stammen und auch nicht geflüchtet waren, sprachen russisch und lettisch, was uns einen gewissen Schutz gewährte. Wir saßen wie im Gefängnis, niemand durfte es wagen, auf die Straße zu gehen, denn Männer und Frauen verhaftete man von der Straße weg.

Täglich suchten uns mehrere Trupps russischer Soldaten heim, die mitnahmen, was ihnen gefiel. So fielen ihnen nach und nach Kleider, Anzüge, Pelze, Stiefel usw. zum Opfer. Besonders begehrt waren Uhren, und da unsere Armbanduhren schon gestohlen waren, nahmen sie alle erreichbaren Wecker, im ganzen 8, die wir uns dann immer wieder aus zerstörten Wohnungen geholt hatten, da wir nicht ohne Uhr sein konnten.

Die Stadt Stolp, die bis auf die Brücken völlig unzerstört in die Hände der Russen fiel, wurde von ihnen nun planmäßig angesteckt. Dazu schoß man jeden


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Nachmittag zwischen 3 und 4 Uhr Brandbomben in die Häuser der Innenstadt, und das vierzehn Tage lang. Hatte sich das Feuer etwas beruhigt, fachte man es mit neuen Brandbomben an, und so bestand in kurzer Zeit das Geschäftsviertel nur noch aus Ruinen. Das Flammenmeer, das uns stündlich bedrohte, war grauenhaft anzusehen. Feurige Funken flogen wie Regen durch die Luft, so daß sich der Brandherd immer mehr vergrößerte. Unser Haus retteten wir, weil wir alle Tage und bei Nacht unaufhörlich herumgingen und kleine Brände dadurch löschen konnten. Auf den Straßen bot sich ein grauenhaftes Bild. Völlig ausgeplünderte Trecks mit abgetriebenen Pferden und Kühen trieben sich umher, auf den Plätzen stand herrenloses Vieh.

Weiter berichtet Vfn. über Erlebnisse unter russischer und polnischer Herrschaft in Pommern.