Nr. 43: Vergebliche Fluchtversuche und Zusammentreffen mit den Russen.

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Erlebnisbericht der Pfarrerstochter Ingeborg Wilke aus Lindenwald, Kreis Wirsitz i. Westpr.

Original, 9. September 1949.

Am Freitag, den 19. Januar 1945, wurde anläßlich eines Amtswalterappells in Lindenwald gesagt, daß jeder, der das Dorf vorzeitig verläßt, als Deserteur gilt. Sonntagmorgen läutete bei uns das Telefon, und eine Bekannte teilte uns mit, daß der Kreis Bromberg den Befehl zum Räumen erhalten hätte. Auf wiederholte Anfragen beim Ortsgruppenleiter und den Amtsleitern bekam man aber immer wieder den Bescheid, daß dies die Wehrkraft zersetzende Gerüchte wären und daß ein Räumungsbefehl unbedingt abzuwarten sei. Umso erstaunter waren wir aber, als kurz nach Mittag der weibliche Arbeitsdienst Lindenwald verließ. In den späten Nachmittagsstunden wurde dann bekanntgegeben, daß Frauen mit kleinen Kindern die Ortsgruppe verlassen könnten, allerdings bestand die strenge Anordnung, daß alle Pferde dazubleiben hätten. Nachts um 11 Uhr kam dann der Räumungsbefehl. Alle Männer hatten dazubleiben und sich dem Volkssturm zur Verfügung zu stellen. In der Nacht wurde in allen Häusern fieberhaft gepackt, und beim Morgengrauen verließ der Treck Lindenwald. Das Gut hatte für diejenigen, die keine eigenen Fuhrwerke besaßen, Wagen und Pferde zur Verfügung gestellt. Außer Lindenwald hatten sich die Dörfer Falkenthal, Buchheim, Groß- und Kleintonin und Bischofsthal dem Treck angeschlossen. Wiesenthal und Grünfelde hatten sich selbständig auf die Flucht begeben. Wir kamen aber nicht weit, in Vandsburg war die Chaussee gesperrt, da angeblich 4000 gefangene Russen aus der Festung Thorn ins Reich transportiert werden mußten. Bis die Dämmerung hereinbrach, standen wir bei —20° auf der Landstraße, dann fuhr ein Wagen nach dem andern wieder nach Hause zurück.


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Indessen kam der Lärm der Geschütze immer näher, heiße Kämpfe um Bromberg waren im Gange. Es wurde sofort versucht, Verbindung mit Wirsitz und anderen Orten des Kreises aufzunehmen. Leider blieb es bei dem Versuche, da alle Orte bereits geräumt waren. Nun waren wir auf uns selber angewiesen. Jeden Tag kamen die Männer auf dem Gut zusammen, um zu beratschlagen. Donnerstag früh flutete das deutsche Militär auf seinem Rückzug in das Dorf herein. Sie waren sehr erstaunt, die Bevölkerung noch anzutreffen, da die Russen bereits in Bachwitz, 6 km ab, waren. Jetzt ging es Hals über Kopf los. Mittags um 12 Uhr verließen wir das zweite Mal Lindenwald. Nun waren auch die Männer mit dabei. Diesmal wählten wir einen andern Weg. Es ging über Rogalin, Jastremken, Zempelburg bis Neu-Battrow und Linde. Nachts um 12 Uhr kamen wir dort an und verteilten uns auf die einzelnen Bauernhöfe. Am nächsten Tage gegen Abend sollte es weitergehen, da aber ein heftiger Schneesturm eingesetzt hatte, war an ein Fortkommen nicht zu denken. Die Lindenwalder quartierten sich in Battrow in der Schulklasse ein, die andern in den umliegenden Bauernhäusern und in Linde. Während in Lindenwald der Geschützdonner stündlich näher kam, herrschte hier vollkommene Ruhe. Wir fühlten uns sicher und geborgen. Daher kam es auch, daß der Gutverwalter Strohmeier nicht auf die Bitten der Frauen, weiterzufahren, einging. Außerdem war fortwährend im Radio bekanntgegeben worden, daß Himmler an der alten Grenze hinter Schneidemühl mit 4 SS-Divisionen bereitstünde. Da wir uns nun schon auf reichsdeutschem Gebiet befanden, hofften wir, daß alles gut vorübergehen würde.

Am Sonntag versammelte sich die Gemeinde im Schulhaus zum Gottesdienst. Auch die einheimischen Dorfbewohner, soweit sie nicht geflohen waren, nahmen daran teil. Das Radio meldete immer noch Kämpfe um Bromberg. Umso erstaunter waren wir, als am Montag die Russen plötzlich da waren. Sie waren bei Zempelburg durchgebrochen. Gleich in der ersten Nacht wurden die Wagen geplündert und die Pferde ausgespannt und mitgenommen. Mancher verlor dabei schon sein ganzes Hab und Gut. Da die Schule direkt an der Straße lag und die vielen Menschen einen Anziehungspunkt für die Russen bildeten, zogen die meisten aus und suchten sich Quartier in den leerstehenden Bauernhöfen. Herr Strohmeier wurde gleich in den ersten Tagen erschossen, da in dem Haus, in dem er mit seinen Pferden Unterschlupf gefunden hatte, angeblich Waffen gefunden wurden. Aus dem gleichen Grunde wurde auch der Bäcker Lemke und der Schmied Wrase erschossen. — Am 30. Januar setzten die Deutschen zur Gegenoffensive an. Wir befanden uns nun zwischen den Fronten, die an mancher Stelle nur l km auseinander waren. Ringsumher brannten die Gehöfte, man konnte deutlich Abschuß und Einschlag der Geschütze verfolgen. Jeden Abend glaubte man, daß am nächsten Morgen die deutschen Truppen bestimmt da sein würden. Als sich die Russen nach 4-tägigem Kampf zurückziehen mußten, nahmen sie uns Flüchtlinge mit zurück. Sie schickten uns wieder in unsere Dörfer, wo wir nach mühevollem Wandern mit Alten, Kranken und kleinen Kindern nach Tagen wieder ankamen. Wir hatten immer gehofft, daß uns die Deutschen, die bis Zempelburg hinter uns herzogen, eines Tages einholen würden.

Es folgen noch einige Bemerkungen über das weitere Schicksal der Vfn.


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