Nr. 84: Untergang der „Goya” in der Nacht vom 16. zum 17. April 1945.

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Erlebnisbericht von C. Adomeit aus Heilaberg i. Ostpr.

Original, 21. Mai 1952.

In der Nacht vom 16. bis 17. April 1945 00.15 Uhr sank in der Höhe von Stolpmünde der Passagierdampfer „Goya” mit ca. 6—7 000 Soldaten, Verwundeten und Flüchtlingen1) nach zwei Torpedovolltreffern. Das Schiff sank innerhalb von 15 Minuten, und nur 165 Menschen überlebten eine der größten Schiffskatastrophen.

Wie konnte es zu diesen gewaltigen Katastrophen kommen? „Wilhelm Gustloff” mit 5 000 Menschen an Bord2), „General Steuben” mit 3 000 und nun die „Goya” in den letzten Kriegstagen mit fast 7 000 Menschen.

Um die ganzen Zusammenhänge zu erfassen, greift der Tatsachenbericht auf die letzten Kriegsmonate zurück und vermittelt ein Bild von der damaligen Lage und den letzten schrecklichen Wochen an der Heimatfront.

Seit Januar 1945 tobten um und in Ostpreußen die harten Abwehrkämpfe gegen einen Gegner, der an Waffen, Material und Menschen vielfach überlegen war und seit Monaten diese Operation vorbereitet hatte. In der Gegend von Heilsberg wurde in aller Eile das VII. Pan/erkorps neu aufgestellt. Die Aufstellung war noch gar nicht vollendet, da erfolgte der russische Großangriff an verschiedenen Punkten, und so vollzog sich der Einsatz im Räume Zichenau, Neidenburg, Allenstein, Guttstadt, Liebstadt, Wormditt, Heilsberg, Heiligenbeil. Das VII. Panzerkorps gehörte zur 3. Armee und hatte in diesen Kämpfen viele harte Tage. Nach der Herausziehung und Neuaufstellung im Räume von Danzig erfolgte der neue Einsatz in der Tucheier Heide, Konitz, Schlochau, Rummelsburg, Schlawe, Stolp. Nach hartnäckigen Kämpfen stellten sich die


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Reste der 2. und 3. Armee im Räume Danzig-Gotenhafen zum letzten erbitterten Abwehrkampf. In diesem Höllenkessel vollendete sich das Schicksal der eingeschlossenen Armeen. Tag und Nacht pausenlose Angriffe von Bombern, Schlachtfliegern, Panzern, Infanterie- und Trommelfeuerwellen. Die Übermacht war in den letzten Tagen 8- bis l0fach, und infolge der großen Verluste an Menschen und Material und dem Durchbruch bei Zoppot wurde der Raum um Gotenhafen immer kleiner. Da entschloß sich General v. Kessel zur Aufgabe von Gotenhafen und Absetzung nach der Halbinsel Hela. In einer gutangelegten Aktion gelang es, im Vereine mit der Kriegsmarine fast sämtliche Restteile der zerschlagenen Divisionen nach Hela zu überführen.

Die Halbinsel Hela war bereits seit Wochen die Zufluchtsstätte von Zehntausenden von Flüchtlingen aus Ostpreußen, Westpreußen, Danzig, Pommern usw.Tausende von Leicht- und Schwerverwundeten warteten auf ihrenAbtransport. In den Wäldern, Häusern, Bunkern, Kellern lagen die Menschen, um dem drohenden Schicksal zu entgehen. Die Halbinsel wurde nun zum Ziel ständiger Angriffe russischer Bomberverbände, besonders der Kriegshafen von Hela mit dem regen Schiffsverkehr.

Nach der Einnahme von Gotenhafen setzte der Russe auf Artillerie, und so lag Tag und Nacht Störfeuer auf Hela! Langsam wurden die Menschen mürbe gemacht, und 10 000 beseelte nur eine Hoffnung, heraus aus diesem Inferno; möglichst bald einen kleinen Platz auf irgendeinem Dampfer oder Transporter zu erhalten, um nach Dänemark oder Schleswig-Holstein zu gelangen. Der Leidensweg dieser getriebenen Menschen geht seit mehreren Monaten durch Wind und Wetter, Hunger, Schneestürme und Kälte. Wo ist die Habe, Pferd und Wagen? Irgendwo stehengelassen, zerbrochen, zerschossen, zerschellt. Von Schlachtfliegern, Panzern vernichtet und verbrannt.

Niemals wird sich feststellen lassen, wieviel Menschen in diesem Treiben gestorben, gefallen, verschollen und verschleppt wurden.

So wird die Halbinsel Hela langsam von den Bombern und dem Artilleriefeuer zum Trümmerfeld gemacht. Laufend gehen Geleitzüge nach dem Westen, um vor allem die Verwundeten, die seit Tagen in ihren Notverbänden liegen, wegzubringen. Dazu Frauen, Kinder, alte und kranke Personen.

In diesen Tagen erreicht uns der Befehl vom OKH.: Herausziehung des gesamten VII. Panzerkorps nach dem Räume Mecklenburg-Vorpommern. Neuaufstellung, Entsatz von Berlin.

So nahm des Schicksal seinen Lauf. Zurück in den Kriegshafen von Hela. Unter ständigen Angriffen wurden die Transporter bei Tag und Nacht laufend beladen, und so ist die Masse des VII. Panzerkorps bald verladen. Die Schiffe sind oft zum Bersten voll, und man macht sich Gedanken und hat bereits aus Berichten von dem tragischen Schicksal der „Gustloff” und der „Steuben” gehört.

So gehören wir zum Restkommando, und es erfolgte unsere Einschiffung auf dem größten Transporter, der „Goya”. Ein schöner, warmer, klarer Apriltag! Nach Übernahme unseres Gepäcks und Geräts befinden wir uns an Bord, und sind nun bei dem Wetter eine schöne Zielscheibe für die angreifenden Bomberverbände. So erleben wir drei Angriffe, doch ist es für die Russen nicht einfach, durch den dichten Sperriegel ihren Bombensegen anzubringen. So wird die „Goya” von einer einzigen Bombe gestreift, dafür ist das Wasser umso


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mehr aufgewühlt und eine Fähre getroffen. In den Abendstunden ist die Beladung, besser Überladung, beendet, und mein Blick streift noch einmal die Steilküste von Gotenhafen, die gut zu erkennen ist. Weiter geht der Blick über Soldaten aller Formationen, Leicht- und Schwerverwundete, Frauen, Mütter und Kinder. Die Gesichter zeigen alle die Spuren der letzten Wochen und Monate.

Um ca. 20 Uhr setzt sich der Geleitzug in Richtung NW in Bewegung. Als zusätzlichen Begleitschutz erhalten wir nur zwei K.-Boote der Kriegsmarine1). Um ca. 21 Uhr treffe ich noch verschiedene Kameraden meiner Einheit, und sind wir erstmals froh, der drohenden Gefangennahme eines siegesberauschten Gegners entgangen zu sein.

Längst ist es dunkel geworden, und wir haben eine sternklare Nacht. Langsam wird es kühl, und man merkt eine leichte Brise. Überall stehen und liegen in Mäntel und Decken gehüllt Soldaten, Frauen und Kinder, von der Müdigkeit übermannt.

Um ca. 22—23 Uhr mache ich einen Rundgang und werde wie von einer inneren Unruhe getrieben. In den Gängen, Kabinen, Laderäumen, überall sitzen, liegen Soldaten und Flüchtlinge. Die letzte Habe, ein Rucksack, ein Koffer, eine Tasche liegt daneben, und man kann sich kaum bewegen. Im Unterdeck liegen die Schwerverwundeten, und trotz aller Schmerzen liegt über allen eine gewisse Ruhe.

Langsam steige ich wieder ans Oberdeck und schaue in die Nacht hinein. Vom schweren Flakstand wird plötzlich das Feuer eröffnet. Lange hallt es über die dunkle See. In der Ferne wurde der Schatten eines Fahrzeuges gesichtet; da es keine Erkennungssignale gab, wurde das Feuer eröffnet, überall herrscht Aufregung. Sind es feindliche Schnellboote oder Zerstörer? Jetzt ist unser Geleitzug sicher erkannt und an die russischen U-Boote gemeldet worden.

Langsam kommt die Müdigkeit, und so entschließe ich mich, im Schutze einiger Decken auf unseren Gerätekisten zu schlafen, da man sonst nicht einen Platz mehr vorfindet. Nicht ahnend, dadurch dem Schicksal entronnen zu sein.

Kurz vor Mitternacht. Die „Goya” rauscht durch die Nacht. Die Zeiger klettern auf 11.50 Uhr. Plötzlich kurz hintereinander zwei dumpfe Einschläge. Das Schiff erbebt. Zwei gewaltige Wassersäulen steigen empor und klatschen aufs Deck hernieder.

Was ist geschehen? Sind es feindliche Schnellboote, sind wir auf Minen gelaufen oder torpediert worden? Diese Gedanken durchrasen mein Gehirn. Vor allem haben von den fast 7 000 Menschen nur 1500 Schwimmwesten an.

Das Licht ist erloschen. Man vernimmt einzelne Rufe, Kommandos. Dann eine Totenstille. Plötzlich höre ich ein gewaltiges Rauschen. Das Wasser stürzt in die gewaltigen Löcher, die die Torpedotreffer gerissen hatten. Es hört sich unheimlich an. Auf dem Oberdeck laufen die Menschen hin und her. Alles schreit und fragt, was nun geschehen soll. Unten an den Treppen des ersten Decks müssen sich Szenen abspielen, die wohl fürchterlich gewesen sind, denn dort entspinnt sich ein Kampf auf Leben und Tod. Hunderte von Menschen versuchen, die Treppe zu stürmen, denn der Tod sitzt allen im Nacken. Das


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Ende durch Ertrinken nach all den Gefahren der ganzen Kriegsjahre. Menschen im wahnsinnigen Schrecken kämpfen dort um ihr Leben, drängen und schreien. Halb angezogen, mit wirren Augen wird jeder Kranke und Schwache unerbittlich niedergetreten.

In dieser Panik, in diesem Chaos hört man nur das Schreien von Menschen. Vom Tode gejagt, es gibt keinen Ausweg mehr, versuchen Einzelne, den Weg nach oben zu finden, und selbst von diesen Menschen forderte der nasse Tod seine Opfer. Unter den 3—400 Menschen auf dem Deck ist eine Panik ausgebrochen. Die meisten haben keine Schwimmwesten, die Rettungsboote können in diesen kurzen Minuten nicht klar gemacht werden. So ist ein großer Teil ohne jede Rettungsmöglichkeit und sieht den Tod vor seinen Augen, manche versuchen, die Rettungsringe noch anzulegen, und in der Aufregung klappt es viel weniger.

Langsam neigt sich das Schiff. Flakmunition, Kisten, Gepäckstücke, alles schiebt sich über die Planken und klatscht ins Wasser. Überall halten sich verzweifelte Menschen an der Reling fest. Unheimlich dieses Gurgeln und Getöse der Wassermassen. Hunderte sind bereits von den Torpodotreffern getötet, vom Druck zerfetzt und zerrissen, Tausende sterben den qualvollen Tod durch Ertrinken der hereinbrechenden Wassermassen.

Die „Goya” neigt sich von Minute zu Minute. Plötzlich ein Beben, ein Zittern geht durch das ganze Schiff, ein Aufbäumen des gewaltigen Schiffsrumpfes, es ist in zwei Hälften zerbrochen, und nun geht alles unheimlich schnell. Es neigt sich ganz, und plötzlich sind wir im Wasser. Wir werden von einer gewaltigen Druckwelle des in die Tiefe gehenden Schiffes weggedrückt, und das ist unsere Rettung.

Dunkle Nacht, das Wasser ist eisig, und darin treiben ca. 3—400 Menschen, Kisten, Planken usw. Entsetzliche, markerschütternde Hilferufe gellen durch die Nacht. Mütter rufen nach ihren Kindern, Männer nach ihren Frauen, alles rudert und versucht sich irgendwo zu klammern. Es beginnt ein schrecklicher Kampf auf Leben und Tod, der Kampf ums Dasein, und Wasser hat keine Balken, und der Ertrinkende greift nach dem Strohhalm. Wahre Wirklichkeit. Einer zieht den anderen in die Tiefe. Hier und dort flammt ein gelbes Licht auf, und dadurch wird die ganze Situation noch gräßlicher und gespenstischer. Es sind die Farblichter einzelner Schlauchboote, die sich selbst im Wasser entzünden. Um diese Schlauchboote und Flöße beginnt ein Kampf, und alle im Wasser Treibenden versuchen sich festzuhalten oder herauf zu gelangen. Die Hilferufe werden gellender, und gurgelnd [versinkt] so mancher vor unseren Augen. Einzelne Schüsse peitschen durch die Nacht. Viele sehen keinen Ausweg und, den nassen Tod vor den Augen, greifen sie zur Waffe.

Wir haben Glück gehabt und können ein leeres Rettungsfloß erreichen. Höchste Zeit! Die Kraft läßt nach, die Kälte kriecht herauf; das Wasser ist im April noch schön eisig, und man wird langsam steif und apathisch. Weit und breit kein Land. Keine Aussicht auf Rettung? Langsam versinkt jede Hoffnung. Wir haben jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren. Krampfhaft halten wir uns fest. Die Beine sind bereits fast steif, und wir zittern wie Espenlaub. So treiben wir bereits über eine Stunde im Wasser. In der Zeit haben sich unauslöschliche Szenen abgespielt. Die Überlebenden schreien mit


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letzten Kräften um Hilfe, manche weinen, manche beten. Langsam treiben wir auseinander. Der Wellengang ist sehr schwach, und das ist unser Glück. Die Rufe werden weiter und verhaltener. Langsam verlieren wir die Hoffnung auf Rettung. Neben uns treibt eine Königsbergerin im Rettungsring. Allmählich verlassen sie die Kräfte. Sie schreit entsetzlich nach ihrer Mutter und ihrer Schwester, die in den Fluten verschwunden sind. Mit letzter Aufbietung aller Kräfte fassen wir sie an und versuchen, sie zu halten.

Die Rettungsaussichten werden immer geringer, und jeder Einzelne hat seine eigenen Gedanken.

Was war das?-----------Plötzlich in der Ferne ein schwacher Lichtschein.

Die Hilferufe werden stärker, und wir schreien mit letzter Kraft, um uns bemerkbar zu machen. Wir rudern mit den Armen aus letzten Kräften. Langsam geht es nur vorwärts. Doch uns beseelt eine neue Hoffnung, ein Rettungsschimmer ist da, egal, ob Freund oder Feind. Wir wollen leben!

Aus weiter Ferne vernimmt man den Ruf: „Schiffbrüchige anschwimmen.” Also eigene Schiffe. — Wir sind gerettet! Die Vermutung lag nahe, daß das feindliche U-Boot aufgetaucht war und uns vielleicht noch ein schlechteres Schicksal beschieden sein konnte.

Das Schiff war ein unseren Geleitzug begleitendes K.-Boot der Kriegsmarine. Dasselbe hatte kehrtgemacht, um, trotzdem noch U-Bootgefahr bestand, mit kleinen Scheinwerfern die letzten Überlebenden aufzufischen.

So werden wir nach zwei Stunden aus dem Wasser gezogen. Halbsteif schleifen wir uns über Deck. Die blauen Jungs stellen uns ihre Drillichanzüge, Decken, Mäntel, Pullover usw. zur Verfügung, und sofort erhalten wir einen Bohnenkaffee, daß uns das Herz nur so bullert.

Langsam kehren die Lebensgeister wieder, und allmählich fängt man an zu denken und kann gar nicht glauben, daß man gerettet ist und glaubt zu träumen. Von meiner ganzen Einheit sind noch drei Mann übrig geblieben.

Am Morgen findet eine Feierstunde mit Totenehrung für die Opfer einer der größten, tragischsten Schiffskatastrophen aller Zeiten statt. Wir haben einige Tote an Bord, die in den Rettungsringen bereits erstarrt waren. In der Nacht sind durch Funk von Hela Schnellboote angefordert, um evtl. Treibende noch zu retten. Vergebens.

Am Morgen ist die See ruhig und spiegelglatt. Das Meer hat seine Opfer und schweigt. Unser K.-Boot gleitet flink durch die Ostsee in Richtung Swinemünde. Das ganze Drama zieht noch einmal wie ein Filmband an meinen Augen vorbei. 6—7 000 Menschen waren an Bord. 165 wurden nur gerettet. Eine traurige Zahl, und in 20 Minuten hat eine Kleinstadt aufgehört zu existieren.

Wer wird den ganzen Angehörigen eine Nachricht übermitteln? Niemand! Vermißt, für ewig verschollen! —


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