Nr. 77: Räumungs- und Fluchtereignisse im Kreis Gr. Werder.

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Bericht des ehemaligen Kreisbauernführers G. Fieguth aus Tiegenhof, Kreis Gr. Werder i. Westpr.

Original, 12. September 1952.

In einem kurzen Abschnitt charakterisiert Vf. eingangs an einigen Beispielen, welch unverdrossene Haltung die Dorfbewohnerschaft allen bisherigen Kriegsverlusten gegenüber bewahrte.

Aus Litauen und dem nördlichen Ostpreußen ziehen schon wochenlang ununterbrochen Trecks durch unseren Kreis, und doch kann ich bei meinen Fahrten durch den Kreis oder beim Treffen mit den 122 Ortsbauernführern nirgends eine gedrückte Stimmung feststellen. Treu und tapfer tut jeder seine


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Pflicht und hofft, hofft, daß der Russe zum Stehen gebracht und zurückgeschlagen wird. So hoffen wir noch Weihnachten 1944, Neujahr 1945 und wollen und können es nicht glauben, daß auch unsere Flucht bevorsteht.

In dieser Zeit habe ich schon verschiedene Besprechungen mit den Bezirksbauernführern, wissen wir doch genau, daß auf uns, dem Reichsnährstand, bei evtl. Räumung die Hauptverantwortung liegt. Sämtliche Menschen der Dörfer müssen auf die Wagen der Höfe verteilt, Marschstraßen zu den Fähren der Weichsel aufgeteilt werden.

Ja, unsere alte Weichsel! In früheren Jahrhunderten und bis zum Durchstich zur Ostsee im Jahre 1895 hatte sie unseren Vorfahren oft schwere Sorge bereitet. Jetzt macht sie uns wieder Sorge. Wie sollen wir schnell das rettende westliche Ufer erreichen, wenn der Russe plötzlich an der Nogat steht!

Die alte Fährwerksbrücke bei Dirschau, am 1. September 1939 von den Polen gesprengt, liegt in der Weichsel, und die neuerbaute Brücke im Zuge Marienburg-Stargard — übrigens fast in der Spitze des Kreises — würde im Notfall größtenteils von der Wehrmacht gebraucht werden. Brauchbare große Dampffähren haben wir nur zwei, in Nickelswalde und Rotebude, während in Schöneberg und Palschau im Sommer zwei kleine Seilfähren tätig sind, im Winter aber ihren Betrieb einstellen.

Als Deichhauptmann des „Marienburger Deichverbandes” untersteht mir auch die östliche Deichstrecke der Weichsel, von der Abzweigung der Nogat bis zur Ostsee. Viele Jahre hatte ich mit Regierungsoberbaurat Senkpiel vom Wasserwirtschaftsamt Dirschau bestens zusammengearbeitet, Arbeiten des Friedens, doch jetzt wurde es ernst, der Krieg näherte sich der engsten Heimat. Wieder wußte S. Rat. An den bestehenden Fährstellen werden weitere Fähren eingestellt — von woher dieselben herbeigeholt wurden, kann ich heute nicht mehr sagen —, und in Ließau wird der Betrieb für eine Doppelfähre neu eingerichtet.

Mit diesen Vorbereitungen vergehen die ersten Wochen des Januar. Alles verläuft in gewisser Ruhe, immer hoffen wir noch auf das Wunder. Da tauchen neue Trecks aus den ostpreußischen Nachbarkreisen auf, grausige Dinge hatten viele von ihnen erlebt. Nun heißt es auch bei uns „alles fertig machen” zum evtl. Treck. Wagen werden hergerichtet und, soweit vorhanden, mit Plänen überspannt. Die Pferde werden neu beschlagen, und in den Wohnhäusern wird mit dem Packen der notwendigsten Dinge begonnen. Der ganze Kreis wird von Sorge und Unruhe erfaßt, denn nach dem Osten zum Feind ist die Nogat fest zugefroren, und im Westen, dem Fluchtweg, liegt die breite, offene Weichsel.

Mustergültig wie zuvor durch fünf Jahre Krieg war auch jetzt die gesamte Haltung des Kreises. Bestens unterstützt bei all unseren Vorbereitungen werden wir durch unsere 6—7 000 Gefangenen und Ostarbeiter. Nirgends — soweit mir bekannt — ergeben sich mit diesen Leuten irgendwelche Schwierigkeiten. Auch sie haben nur den einen Wunsch, dem Russen nicht in die Hände zu fallen.

Mit dem Landrat und dem Kreisleiter war verabredet worden, den Treckbefehl über die Kreisbauernschaft herauszugeben, denn unser Apparat der Bezirks- und Ortsbauernführer war durch Jahre bestens in Ordnung und hatte im Krieg oft gezeigt, daß er schnell und sauber arbeiten konnte.


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22. Januar. Wilde Gerüchte, oder sind es Wahrheiten, durcheilen den Kreis. Von keiner Stelle ist Genaues zu erfahren. Die verschiedenen Dienststellen in Danzig — noch geschützt durch die Weichsel, weit vom Schuß — lehnen jeden Räumungsgedanken unseres Kreises ab. ...

23. Januar. Groß ist die Verantwortung für uns alle. Trecken wir zu früh und der Russe wird gehalten, entstehen unberechenbare wirtschaftliche Schäden. Haus und Hof ohne Aufsicht, die Viehherden ohne Wartung und Pflege. Trecken wir zu spät, überrennt uns der Russe und besetzt die Fähren an der Weichsel.

Fünf Uhr nachmittags. Die ersten russischen Panzer sind in Elbing, dicht an unserer Grenze. Von Schreck und Entsetzen gejagt, kommen Hunderte aus diesem Gebiet verstört in Tiegenhof an. Zehntausende sind abgeschnitten und fallen den Russen in die Hände. Wir geben für den Kreis erhöhte Alarmbereitschaft, das heißt, die Wagen sind fertig zu packen, die Pferde aufzuschirren. So erwartet der Kreis den Befehl zum Trecken. Nur der, der in dieser Lage gestanden hat, kann ermessen, was diese Stunden bedeuten.

Gegen Mitternacht erscheinen die Russen an der Nogat, letzter Augenblick, Befehl an die Bezirksbauernführer: „Trecken”. In Minuten ist der Befehl an die Ortsbauernführer weitergegeben, und eine Stunde später sind die Straßen des Kreises voll von vieltausend Wagen. Unsere Gespanne, unsere schweren Arbeitswagen, die Jahr für Jahr das viele Getreide eingebracht, die jedes Jahr Millionen Ztr. Zuckerrüben vom Felde geschafft haben, jetzt rollen sie mit Menschenfracht, vom Kleinstkind bis zur Großmutter, bepackt mit Futter, Lebensmitteln und den notwendigsten Betten und Wäsche.

Der Aufbau der Fähren war fertig geworden und klappte bis auf wenige Störungen gut. Tag und Nacht wird ununterbrochen übergesetzt; trotzdem läßt es sich nicht verhindern, daß sich an den Fähren Massen von Wagen anstauen, daß durch das Gedränge — Kutscher sind zumeist Ostarbeiter, Gefangene, Frauen und Kinder — viele Deichseln brechen und leider auch mancher Wagen eingedrückt wird. Und wenige Kilometer hinter uns, in Marienburg, an der Nogat entlang, kracht es, tobt der Kampf.

Schon in den Morgenstunden des 24. Januar kam der Russe über die Nogat nach Lupushorst, erschoß den Molkereibesitzer Howald und seine zwei Söhne, vergewaltigte Frau H. H. war Schweizer Staatsbürger und glaubte, der Russe würde dieses achten.

Am 25. Januar war der Russe in Blumstein und Kaminke, etwas später in Lindenau, war in den Dörfern unseres Kreises und verschleppte die aus irgendeinem Grunde zurückgebliebenen Bewohner.

Vier Tage und drei Nächte wird übergesetzt, glücklicherweise nimmt auch die Brücke eine Menge Wagen auf; dann ist der Kreis geräumt. Geräumt auch von den vieltausend Wagen ostpreußischer Flüchtlinge, die in unseren Kreis hineingedrückt waren. . . .

Im vorgesehenen Aufnahmegebiet der Danziger Höhe, zum Teil auch in der Danziger Niederung wurde Quartier bezogen. Hier sollte abgewartet werden, denn die Straßen um Danzig waren voll von Wagen aus anderen Kreisen, die auf den vereisten Straßen, mit ihren stumpfen Pferden1), kaum weiter kamen. Auch wurde uns gesagt, daß Danzig und ein großes Gebiet der


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Danziger Höhe bis zum Westufer der Weichsel auf jeden Fall gehalten werden soll. Nur zu gerne wollten auch dieses wieder viele von uns glauben.

Doch die Russen stießen bei Stettin bis zur Oder durch, sie rückten westlich der Weichsel vor und kesselten Danzig von allen Seiten ein. Unsere Trecks wurden auseinandergeschlagen, und alles drängte zur Stadt. Danzig war nun buchstäblich vom Keller bis zum Dach mit Menschen vollgestopft. Von drei Seiten wurde die unglückliche Stadt durch schwere Artillerie beschossen, große Bombengeschwader griffen pausenlos aus der Luft an, und in wenigen Tagen war das Schicksal dieser stolzen, schönen Stadt besiegelt.

Zu der ungeheuren Zahl von Menschen, die unter den Trümmern verschüttet, auf den Straßen zerschmettert wurd'en, gehörten auch viele Bewohner unseres Kreises. Nie wird man die Zahl feststellen können. Groß war die Zahl derjenigen, die um Danzig und in den Vororten vom Russen überrannt und verschleppt wurden. Leider sind von diesen Unglücklichen bis heute viele nicht zurückgekehrt, und auch ihre Namen sind nie genau festzustellen. Mit einem Drama von ungeheurem Ausmaß fand hier in diesen letzten Tagen des März unser Treck ein schreckliches Ende. Doch das Drama des Einzelschicksals ging weiter. Auch von denen, die mit dem Schiff zu entrinnen suchten, fanden viele, oft ganze Familien, den Tod in den Wellen.

Groß war leider auch die Zahl der Männer unseres Kreises, die zur Waffe, zum Gift griffen und für ihre Familien und für sich den Freitod suchten. Bei Beginn der Flucht konnte oder wollte wohl manche Familie ihren Hof, ihre alte Heimat nicht verlassen. Auf der Flucht verloren Familien die Nerven, und wie groß die Zahl der Familien ist, die bei der Besetzung und Verschleppung durch die Russen dem Drama ein Ende machten, wird nie festgestellt werden.

Ich will nur einige Familien erwähnen. Der Ortsbauernführer W. B., Groß Montau, brachte den Treck seines Dorfes sowie seines Hofes in tadelloser Ordnung auf den Weg, dann erschoß er seine Frau, seine Tochter, sein Enkelkind und sich. Der Bauer J. W., Schönsee, fuhr mit den Wagen seines Hofes die kurze Strecke bis zur Weichsel, dort drehte er den alten Landauer, in dem er selber, auf dem Kutscherbock sitzend, seine Familie fuhr, herum, fuhr auf seinen Hof zurück, erschoß dort seine Frau, seine drei Töchter im Alter von 17-21 Jahren und sich. Der Bauer M. P., Fürstenau, fuhr bis auf das westliche Ufer der Weichsel, dort am Straßenrand, im Schneesturm der Nacht, erschoß er seine Frau und sich. Der Be/irksbauernführer v. R., Rosenort, brachte seine Trecks in bester Ordnung bis zur Danziger Niederung, doch weiter wollte er seine Heimat nicht verlassen und wählte mit seiner Frau den Freitod durch Gift. Wer will den Stab über diese Familien brechen? Wer will das Drama versuchen zu schildern? Ich glaube, keiner, der diese Zeit miterlebt hat.

Mit einem kleinen Kreis von Mitarbeitern, Stabsleiter Dr. Christensen, Kreisgefolgschaftswart Schnase von der Kreisbauernschaft und Deichoberbaurat Weiss vom Marienburger Deichverband, war ich im Kreise zurückgeblieben.

Am 24. und 25. Januar waren dem Russen verschiedene Einbrüche in unseren Kreis gelungen. Am 26. Januar griff er auf breiter Front an und drang mit seiner Spitze bis Tannsee vor. In blutigem Nahkampf wurde er jedoch überall zurückgeworfen und eine Front an der Nogat entlang gebildet. ...


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Jeden Morgen kamen jetzt viele Bauern unseres Kreises mit ihren Gespannen über die Fähren zurück und holten Futter und Lebensmittel zur Danziger Höhe. Seit Monaten waren uns von der Bahn kaum Waggons gestellt worden, so daß nicht nur Scheunen und Speicher der Höfe, sondern auch die Läger des Getreidehandels bis oben voll waren. Allein in der Zuckerfabrik Neuteich lagerten ca. 100 000 Ztr. gesackter Zucker.

In den ersten Tagen des Februar erfuhr ich, daß mein letzter Sohn auch in der Marienburg steckte. Ich habe ihn dort so manche Nacht aufgesucht. Von den zerschossenen Wehrgängen sahen wir herunter auf die zerstörte Stadt, in der der Russe hauste, erlebten das Sterben unserer schönen, stolzen Marienburg.

Der Russe hatte die Stadt, einschließlich der Trümmer der Niederen Lauben, bis zur Burg besetzt. Unsere Infanterie hielt die zerschossene Burg und die Trümmer der Hohen Lauben.

In der Nacht vom 9.-10. März wurden die Marienburg und der halbe Kreis Großes Werder bis zur Linie Pordenau-Neuteich, unter schwerem Druck der Russen, geräumt. Bald darauf mußte unser Kreis bis zur Elbinger Weichsel aufgegeben werden. Nur ein schmaler Streifen an der Ostsee, von der Weichsel bis zur Nehrung, wurde gehalten. Dieses war nur möglich, weil wir bei Rotebude (Neumünsterberg) den Weichseldeich durchstochen hatten und das hereinbrausende Wasser den Russen Halt gebot. Auch bei diesen Rückzugskämpfen tat unsere vordere Front, unter großen Opfern, ihre harte Pflicht. Auf den Friedhöfen unserer alten Werderhöfe liegen diese Helden begraben.

In diesem letzten kleinen Kessel an der Ostsee wurden damals, Mitte März, noch eine größere Zahl Bewohner unseres Kreises zusammengedrückt. Sie waren im Januar zurückgeblieben oder auch im Laufe des Februar zurückgekommen, weil sie sich bis dahin in diesem Teil des Kreises durch das vorgelagerte Haff geschützt glaubten. Auch viele tausend Ostpreußen waren über die Frische Nehrung hierher geflüchtet. Bis zum 20. April waren diese Menschen alle, soweit sie sich nicht wegen der ungeheuer großen Schiffsverluste weigerten, aufs Wasser zu gehen, auf Prähme in Richtung Hela verladen worden. Die Zurückgebliebenen sind später dem Russen in die Hände gefallen.

Für Deichamt und Kreisbauernschaft gab es jetzt in unserem alten Heimatkreis, im Mündungsgebiet der Weichsel, keine Aufgaben mehr. So gingen wir am Abend des 26. April mit unbekanntem Ziel in See.