Nr. 83: Der Flüchtlingstransport von der Halbinsel Hela nach dem Westen.

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Bericht des Majors i. G. a. D. Udo Ritgen aus Gr. Falkenau, Kreis Rosenberg i. Westpr.

Original, 12. November 1952, 28 Seiten. Auszugsweiser Abdruck.1)

. . . Da die Großschiffe in Geleiten nur noch die Reede von Hela ansteuerten, von dort aber der gesamte Verkehr zum Festland ausschließlich von kleinen Marinefahrzeugen durchgeführt werden mußte, entstand eine enorme Organisationsarbeit, deren Erfolg einzig und allein von der guten Zusammenarbeit aller Wehrmachtsteile abhing. Die Leitung der Seeleitstelle Hela war nun auf Grund eines Befehls vom AOK. Ostpreußen vom 28. März mir übertragen worden.

Vf. berichtet im folgenden von einer Besichtigungsfahrt nach Schiewenhorst in der Weichselmündung. Überall hinter den Gehöften stehen dicke Fahrzeugpulks der Zivil- und Flüchtlingsbevölkerung, gemischt mit Heeresfahrzeugen aller Art. Die Straße selbst ist frei. Feldgendarmerie regelt den geringen Verkehr.

An der Fähre von Schiewenhorst nach Nickelswalde gibt es einen Stopp. Flak hinter den Weichseldämmen hat den Luftschutz über diesen wichtigen Raum übernommen. In den Häusern von Schiewenhorst und Nickelswalde geht das Leben weiter. Die Menschen teilen mit den Flüchtlingen Dach und Nahrung, man hat die Sonntagskleider an und wartet auf Anordnungen und Weisungen, ja vielleicht auf den großen Umschwung, an den Unzählige noch immer felsenfest glauben. Welch kostbare Zeit wird in diesen Tagen und Wochen vertan! Warum wird die Bevölkerung nicht mit aller Energie abtransportiert? Freilich, es gibt nur die Möglichkeit über See, und der Schiffsraum ist knapp. Aber auch der vorhandene wird nicht voll ausgenutzt. Es gibt für diesen Tatbestand nur eine Erklärung: Die Bevölkerung glaubt in ihrer Masse blind an einen Umschwung der militärischen Lage und will sich daher nicht unnötig dem Risiko einer Evakuierung über See aussetzen. Die Nachrichtengebung des großdeutschen Rundfunks bestärkt sie auch täglich in ihren Vorstellungen, also bleibt man, wo man ist, und hat noch den Vorzug, unter eigenem Dach und auf eigenem Grund und Boden das Leben weiter-


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zuführen und auf das Eigentum in Haus, Hof und Feld achten zu können, das unwiderruflich verloren ist, sobald man aufbricht. „So schnell gibt die Danziger Landbevölkerung ihre Scholle nicht preis” — sagt mir am Nachmittag ein Bauer in Steegen, und Stolz und Selbstbewußtsein leuchtet aus seinen blauen Augen im wettergebräunten Gesicht.

Aber diese psychologischen Faktoren sollen uns wenige Wochen später noch böse Kopfschmerzen bereiten, als die Räumung der Weichselniederung zur zwingenden Notwendigkeit wird und Zeit und öl (der Treibstoff für die Marinelandungsboote) nur noch begrenzt zur Verfügung stehen.

Auf der Rückfahrt nach Hela steigt Vf. auf einen mit 500 Menschen besetzten Marinefährprahm, der gerade im Begriff ist, nach Hela auszulaufen. Ich lerne dann vor der Südspitze Helas, wo eine Anzahl Großschiffe liegt, die Schwierigkeiten kennen, die sich angesichts stürmischer See bei der Übernahme der Menschen ergeben.

Frauen und Kinder werden z. T. auf Ladegeschirr festgetäut und im hohen Bogen über den aufspritzenden Wellenkämmen schwebend übernommen. Angst und Schrecken stehen in den Gesichtern, und es dauert stundenlang, ehe die Menschen mit ihren kleinen und armseligen Bündeln, ihrer letzten Habe, eingeschifft sind.

Ein ganz schwieriges Problem ist die Unterbringung und sanitäre Versorgung der von Tag zu Tag ansteigenden Zivilbevölkerung der Halbinsel. Die Gefahr, daß eine Seuche oder Epidemie ausbricht, liegt auf der Hand. Die wenigen Häuser des alten Fischerdorfes sind längst überfüllt und, seitdem der Russe mit Langrohrgeschützen aus dem Raum Gotenhafen herüberschießt, auch nicht mehr gefragt. Auch die sich ständig steigernden Fliegerangriffe mit 50 und mehr Maschinen machten die Südspitze Helas für die Unterbringung all der Tausenden von Menschen ungeeignet. So entstehen in den Dünen und im Walde zwischen dem Ort Hela und Heisternest riesige Lagerplätze, in denen man sich mehr oder weniger „häuslich” einrichtet und auf die primitivste Art den Tag abwartet, wo ein Großgeleit ankommt und zur Einschiffung aufgerufen wird. Am Abend steigen Tausende von kleinen Rauchsäulen aus dem Walde empor, und immer wieder glühen - trotz unzähliger Warnungen -die offenen Lagerfeuer auf, um hastig ausgeworfen zu werden, wenn das Motorenbrummen nächtlicher russischer Störflieger sich nähert.

Die zweite Aprilwoche bringt der Halbinsel starke feindliche Luftangriffe. So wird am 5. April, trotz stärkster eigener Flakabwehr sowohl von den Schiffen wie von den Inseln aus, das Versorgungsschiff „Franken” getroffen und versenkt. Ein ganz schwerer feindlicher Luftangriff bei strahlend blauem Himmel erfolgt am 11. April. An diesem Tage werden die voll besetzten Schiffe „Posen” und „Moltkenfels” vernichtend getroffen. „Posen” geht unter, „Moltkenfels” brennt aus. Hunderte finden den Tod. Sonntag, den 15., greift der Feind wiederum in mehreren Wellen Hafen und Reede von Hela an. ...

. . . Trotz dieser starken Angriffe gelingt es am 15. und 16. April, beträchtliche Einschiffungen vorzunehmen. Hier einige Zahlen (Originalmeldungen sind vorhanden):


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Doch noch einmal zurück zu den Tagen um den 20. April. Mit Ungeduld warten wir auf weitere Großschiffe, um die aus dem Danziger Raum ständig herausströmenden Menschen weiter transportieren zu können. „Zehntausende von Menschen warten auf den Abtransport”, so verzeichnet es mein kleines Tagebuch. Am Abend drängen sich die Menschen, Soldaten, Frauen, Kinder und Männer, um die Rundfunkempfänger und hören die Rede Goebbels' anläßlich des Führergeburtstages. Die Leute sind begeistert, mit neuen Hoffnungen kriecht jeder in sein Erdloch im Walde und wärmt sich am qualmenden Feuer die kalten Glieder. — Es ist unvorstellbar!

Am Sonnabend, dem 21. April, stehen in der Frühe 9 Großschiffe auf Heia-Reede. Die Einschiffung und Beladung trotz leichten Artillerie-Feuers auf Heia-Hafen und Heia-Reede wird mit aller Energie vorwärtsgetrieben. Am Abend sind 28 000 Personen, Soldaten, Verwundete, Kranke, sowie eine über 10 000 Köpfe betragende Zahl von Flüchtlingen an Bord. Die Schiffe laufen noch in der Nacht unter starkem Marinegeleit nach Westen ab. . . .

Auf Hela ist die ganze Situation den Tausenden nicht richtig gegenwärtig. Sie sind froh, daß noch Verpflegungsvorräte vorhanden sind, und schauen voll Hoffnung auf den immer stärker werdenden eigenen Flakschutz, dem es gelingt, die russische Luftwaffe bei ihren Angriffen erheblich zu stören.

Mit Hochdruck werden die Verschiffungen weitergetrieben. Am 25. April verlassen 5 000, am 26. April 8 000 Menschen die Insel. Kaum sind am 26. die drei großen Schiffe ausgelaufen, als ab 14 Uhr schwere Luftangriffe den Kriegshafen treffen.

In mehreren Wellen fliegen die Russen die Südspitze Helas von allen Seiten an, zersplittern die Abwehr und richten im Hafen schwere Schäden an. Ca. 200 Tote sind am Abend als Opfer zu beklagen, ein Dampfer und vier MFP1) haben schwere Treffer erhalten.

Der 27. April ist trübe und verhangen, das ist ein großes Glück. Sieben Großschiffe sind da, sodaß 24 000 Menschen nach Kiel und Kopenhagen abfahren können. Der Gegner, der nun auch von Großendorf vorrückt, um auf


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dem Landwege die Basis Hela auszuschalten, wird dort glatt und ohne Schwierigkeiten abgewiesen. In den frühen Morgenstunden des 28. April gegen 3 Uhr fahren russische Schnellboote einen Angriff auf den auf Hela-Reede liegenden Dampfer „Emilie Sauber”. Das Schiff wird mittschiffs getroffen, geht auf Grund und ist verloren.

Am Montag, dem 30. April, ist kein Schiff auf Reede. Wir funken sofort nach dem Westen: „An Land (auf Hela) etwa 3 000 Verwundete, 25 000 Flüchtlinge, 24 000 Soldaten, großer Schiffsraummangel. AOK. Ostpreußen i. A. R.” (Original vorhanden.)

So warten bis hinauf nach Heisternest noch ca. 52 000 Menschen auf den Abtransport, die Halbinsel läuft fast über. Die von mir um 12.30 Uhr abgesetzte Funkmeldung an Wehrmacht-Führungsstab lautet ganz knapp „Hela an: Fehlanzeige”. (Sie bezieht sich auf den ausgebliebenen Schiffsraum, im Original vorhanden).

In dieser schicksalhaften und historischen Nacht1) holen wir von Kahlberg die letzten deutschen Soldaten von der Nehrung herunter. Die MFPs. bringen von dort l 212 Soldaten und 325 Verwundete zurück. Von Schievenhorst werden 8 440 Soldaten, 555 Verwundete, 150 Mann Sanitätspersonal, l 660 Flüchtlinge und 35 Zöllner herübergeholt. Die ganze Nacht sind wir auf den Beinen und in Tätigkeit.

Am Morgen des 2. Mai stehen die Dampfer „Weserstrom” und „Sachsenwald” auf Reede. Sie laufen in der Nacht zum 3. Mai mit 5 150 Verwundeten, 3 000 Flüchtlingen und 400 Mann Sanitätspersonal nach Kopenhagen, zuzammen 8 550 Menschen. Schon am Nachmittag dieses Tages gingen die Torpedoboote T 108 und T 36 mit je 150 Flüchtlingen in See, Kurs Westen. Am 3. Mai 1945 melden wir zusammen mit der 9. Sicherungsdivision an den

Wehrmacht-Führungsstab u. a.: „----------Im Monat April wurden nach dem

Westen abtransportiert 387 076 Menschen. Von Pillau, Kahlberg, Schiewenhorst und Oxhöfter Kämpe nach Hela mit MFP. und Sicherungsfahrzeugen 264 687 Menschen-------„ (Originale vorhanden)

Die Zahlen, so nüchtern sie sein mögen, sprechen für sich. Kaum ein Mensch ahnt, welche Anstrengungen nötig waren, um diese Transportleistungen unter den obwaltenden Umständen herauszuholen.

Die folgenden Tage bis zum Abend des 8. Mai 1945 stehen den vorangegangenen nicht nach. Dabei ist nicht zu vergessen, daß der Abtransport nach dem Westen nur die eine Hälfte der Sorgen der Führung darstellt. Die Zuführung von Munition, Verpflegung, Bekleidung,Treibstoff usw. in die Kampfräume ist eine Aufgabe, die ebenfalls größte Energie allen Beteiligten abverlangt, denn jede Tonne der Versorgungsgüter, die die Schiffe bis zur letzten Stunde aus dem Westen mitbringen, muß entweder in dem unzulänglichen kleinen Hafen Helas gelöscht werden, um auf die MFPs. verladen oder aber zunächst auf der Insel untergebracht zu werden. . . .


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Als ich an einem der letzten Apriltage nachmittags durch den Wald zur Bunkeranlage Krakau fahre, stoße ich auf einen Pulk Menschen, die, wie alle andern auch, auf dem feuchten Waldboden lagern. In Abständen stehen Polizeileute herum. Es handelt sich um das ehemalige KZ.-Lager Stutthof, 750 Köpfe stark, das in der Nacht zum 30. April nach Hela herübergeholt wurde. Ich spreche mit den Leuten. Sie alle haben nur zwei Wünsche vorzubringen: Verpflegung und Abtransport nach dem Westen! — Noch am Abend werden ihnen Nahrungsmittel zugeführt, ihre Verschiffung erfolgt am 29. April 1945 auf dem Schiff „Ruth” und dem Schlepper „Pregel”, der außerdem noch 30 Flüchtlinge mitnimmt. Hierbei waren zeitweise psychologische Widerstände in Anbetracht der Tausende von Zivilisten, die auch sehnsüchtig auf den Abtransport warteten, zu überwinden. Aber der Gedanke, daß im Falle eines plötzlichen Kampfendes eine Gruppe höchst unzuverlässiger Elemente auf der Insel zurückgeblieben wäre, führte dann doch zu der Entscheidung eines alsbaldigen Abschubs. In jedem Fall sollte die Zukunft dieser Menschen eine weitaus leichtere sein als die der ca. 80—90 Tausend Deutschen, die nach dem 8. Mai 1945 in russische Gefangenschaft gingen.

.. . Nacht für Nacht holen die schneidigen Kommandanten der MFPs. mit ihren Besatzungen Tausende1) von Schiewenhorst und Nickelswalde ab. Dabei lassen sie sich von den großen Scheinwerfern, mit denen die Russen von Gotenhafen über die See leuchteten, nicht irre machen. Schwieriger ist es schon, die Flüchtlinge, die sich überall in dem Weichseldamm Erdhöhlen und Unterstände gebuddelt hatten, schnell und rechtzeitig an die Anlegestellen zu bekommen. Immer wieder laufen auch in diesen Tagen Meldungen darüber ein, daß sich die Menschen im Raum Schiewenhorst-Nickelswalde alle zu viel Zeit lassen und erst nach Zureden und unter Anwendung „sanfter Gewalt” die MFPs. besteigen. Das klingt unglaublich, läßt sich aber an Hand einer schriftlichen Meldung der 13. Flottille vom 29. April 1945 dokumentarisch nachweisen.

So heißt es z. B. in einer mir am 29. April 1945 abends vorgelegten Meldung u. a.: „Nach Meldung 13. Flottille sind die aus der Weichselniederung einlaufenden Prähme erstmalig voll ausgenutzt worden” — (im Original vorhanden). Die Zahl der in dieser Nacht durch 24 MFPs. abtransportierten Menschen beträgt: 6 755 Soldaten, l 030 Verwundete, l 315 Flüchtlinge. Ob die bei der Einschiffung und Verladung in Schiewenhorst und Nickelswalde zeitweise auftretenden Schwierigkeiten auf das Versagen militärischer oder ziviler Dienststellen zurückzuführen ist, läßt sich heute mit Bestimmtheit nicht mehr sagen. Fest steht nur, daß auch die Zivilbevölkerung sich oftmals sträubte, die Fahrt nach Hela herüber anzutreten, weil sie einfach nicht den Absprung finden konnte und auf dem Standpunkt stand: morgen ist auch noch ein Tag!

Der 5. Mai bringt den Menschen auf Hela neuen Auftrieb und der verantwortlichen Führung insofern Erleichterung, als mehrere Großschiffe, unter ihnen die Dampfer „Hansa”, „Linz”, „Nautic”, „Isar”, „Ceuta” und „Pompeji” sowie eine Reihe von Zerstörern und Torpedobooten, unter ihnen „Galster”, „Riedel”, „Lody”, Z 23, Z 25, T 28, 17, 19 und T 35 auf Hela-Reede stehen. Die Einschiffung erfolgt bei hereinbrechender Dunkelheit


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und wird trotz Artillerie-Feuers aus Gotenhafen zügig durchgeführt. Die Masse der Schiffe kann am 6. Mai früh 8 Uhr nach Westen in See gehen. Rund 43 000 Menschen haben Hela verlassen. In der gleichen Nacht, in der die Großverladung erfolgt, bringen MFPs. aus Schiewenhorst und Nickelswalde 12180 Soldaten, 910 Verwundete und 270 Flüchtlinge zurück.

In der Nacht 6 Uhr schweigen die Waffen. Fünf Jahre, acht Monate und acht Tage grollte ihr Donner über die ganze Welt. Der Kampf ist aus. Als die Sonne am 9. Mai 1945 strahlend über der ruhigen blauen See aufgeht, steuern unzählige Schiffe aller Typen gen Westen. Tausende sind an Bord und schauen nach dem kaum noch erkennbaren schmalen Landstrich Helas herüber. Langsam versinkt die langgestreckte Halbinsel hinter der Horizontlinie. Ca. 60 000 Zivilisten, Soldaten aus allen Gauen des Reichs, ost- und westpreußische Landsleute, an der Spitze der Oberbefehlshaber der Truppen mit seinem Stab, General der Panzertruppe v. Saucken, bleiben . . . zurück.