Nr. 4: Erlebnisse eines Bessarabien-Deutschen: Umsiedlung, Ansiedlung im Bezirk Posen, erneute Evakuierung im Januar 1945 und Treck nach Südwestdeutschland.

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Erlebnisbericht des Landwirts Gottlob Enßlen, vormals Landgut Maltscha bei Tschitschma (Cişmele), Plasa Chilia-Nouă (Kilia), Judeţ Ismail in Bessarabien.

Original, 30. Dezember 1956, 3 Seiten, mschr.

Mein Urgroßvater wanderte 1806 aus dem Schwarzwalde aus, verhielt zehn Jahre in Polen und zog dann 1816 auf den Ruf des Zaren Alexander I. nach Bessarabien. Mein Vater fing ganz bescheiden als Stellmacher an, hinterließ dann aber seinen Kindern einen Besitz von 500 Desjatinen1, nahezu 550 Hektar. Ausbreitungsmöglichkeiten waren vorhanden. Auch ich besaß nach dem Ersten Weltkriege schon über 500 Hektar schuldenfreien Landes. Wir Deutschen galten unter dem Zarismus als loyale Bürger und gute Steuerzahler. Schon vor dem Ersten Weltkriege begann die „Deutschenhetze”, und in dem Kriege wurden wir zu „Staatsfeinden” gestempelt. Zar Nikolaus II. erließ ohne das Parlament 1915 das Liquidationsgesetz, laut dem alle Deutschen aus der Grenzzone in Breite von 150 km nach Sibirien verpflanzt werden sollten und ihr Besitz unentgeltlich abgenommen. Die Aussiedlung hing wie das „Damoklesschwert” über uns. Die Deutschen aus Wolhynien und Podolien waren bereits von ihren Höfen vertrieben und nach dem Osten Rußlands deportiert. Unser Akkermaner Landschaftspräsident, Herr Jaroschewitsch, verzögerte dank guter Beziehungen zum bessarabischen Gouverneur immer wieder unsere Vertreibung. Da wurde Nikolaus II. im Februar 1917 gestürzt und das Liquidationsgesetz aufgehoben. Im Februar 1918 okkupierte Rumänien unsere Provinz und rettete uns vor dem Bolschewismus. Infolge der rumänischen Agrarreform enteignete man den Deutschen Bessarabiens 40 000 Hektar. Auch ich verlor 300 Hektar für ein „Butterbrot”. Trotzdem prosperierten wir in den 22 Jahren unter rumänischer Herrschaft.

Wir glaubten nicht schon wieder an einen Krieg, aber der Zweite Weltkrieg brach aus. Als die Deutschen im Westen so erfolgvoll vorsehritten und im Juni 1940 Paris nahmen, dachten wir, der Krieg sei gewonnen. Doch ganz wie aus heiterem Himmel traf uns ein fürchterlicher Schock: Sowjetrußland forderte in einem Ultimatum Rumänien auf, Bessarabien im Verlaufe von vier Tagen zu räumen. Viele unserer Volksgruppe wären nach Alt-Rumänien geflohen, aber man hoffte auf unsere Umsiedlung, denn Hitler hatte bereits die Balten und Wolhynier ins Reich geholt. Wir riskierten es also und blieben. Groß belästigt hat uns der Russe nicht, wiewohl es nicht ohne Schikane abging: Wir sollten mehr liefern als wir geerntet hatten, das Land zur Einsaat vorbereiten, was absolut unmöglich war infolge langanhaltender Trockenheit, große Steuern bezahlen usw. Doch blieben wir von Arrest und Einkerkerung — dies kam nur in wenigen Einzelfällen vor — verschont. Die andersstämmige besitzende Völkerklasse


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holte man nämlich ohne Ansehen der Person, Stammes und Religion — gewöhnlich nachts — weg auf „Nimmerwiedersehen”. Eines Russen — Mühlenbesitzers — Frau lag auf dem Sterbebett. Als der Mann von der Beerdigung heimkam, erwartete man ihn schon und nahm ihn mit.

Ende August kam ein Sowjetbeamter zu mir und stritt sich mit mir herum, weil ich anstatt Weizen, der sehr schwach gediehen war, Erbsen lieferte, was von selten der neuen Machthaber schriftlich erlaubt war. Zum Schluß teilte er mir mit, daß die deutsche Umsiedlungskommission im Donauhafen Kilia, unserer nächsten Stadt, eingetroffen sei. Wir atmeten auf! Ende September und Anfang Oktober 1940 verließen wir unsere Wahlheimat und unser in vier Generationen erarbeitetes Vermögen. Retteten sozusagen das nackte Leben. Hundertprozentig gingen die Deutschen, auch Andersstämmige, welche irgendeine Verwandtschaft mit Deutschen nachweisen konnten. Wir landeten in einem Lager im Sudetenland; 150 Personen schliefen in einem Raum. Mein kleiner Enkel stellte fest: „Hitler hat aber keine schönen Betten.” Wir waren Idealisten und zu bescheiden. Alle Lagerinsassen magerten erschreckend ab, während beim Personal der Lagerbetreuung die Nähte platzten. Meine Frau büßte 32 kg an Gewicht ein, ich 16 kg. Unsere Frauen wollten gerne in der Küche mithelfen. Man ließ sie nicht herein.

Im Dezember 1941 wurden ich und mein ältester Sohn auf Gut Schellenhagen, Kreis Schroda, Wartheland1 angesiedelt: 329 Hektar groß, entsprechend dem von uns in Bessarabien zurückgelassenen Vermögen. Das Objekt war gut: Boden, Inventar, Wohnhaus und Wirtschaftsgebäude. Die Wirtschaftsmethoden waren sehr verschieden im Vergleich mit den bessarabischen und verursachten mir viel Mühe und Kopfzerbrechen. In den daselbst verbrachten drei Jahren hatte ich mich gut zurechtgefunden. Mein Betrieb zählte durchaus nicht zu den schwächsten und war von mir verschiedentlich ausgebaut, z. B. führte ich elektrisches Licht wie Kraftstrom ein, gründete eine Karakulschafzucht, remontierte Gebäude, baute ein neues Behelfsheim usw.

Im Januar 1945 begann die Ostfront bei Warschau zu wanken. Wir wollten nicht an eine Flucht glauben, auch beruhigten uns die Regierungsvertreter bis zur letzten Stunde: „Das Wartheland wird nicht aufgegeben; keine deutsche Frau, kein deutsches Kind soll zu Schaden kommen!” Am 20. Januar 1945 um 3 Uhr nachts telefonierte mir unser Ortsgruppenleiter: „Um 11 Uhr vormittags geht der Treck bis Meseritz.” Nichts war vorbereitet. In Hast und Überstürzung wurden elf Gespanne gerichtet. Auf meinem Gute waren zehn Familien Schwarzmeerdeutscher, deren Väter und Söhne fast restlos zur Wehrmacht einberufen worden [waren]; die mußten mitgenommen werden. Bei zehn bis zwanzig Grad Frost, Schnee und vereisten Straßen zogen wir los. An der Grenzstation Deutschen2 hieß es, der Treck geht weiter bis in die Gegend von Berlin. Am 1. Februar waren wir am Ziel und fanden notdürftige Unterkunft.


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Nach sieben Wochen zog ich mit meinen Angehörigen und einem Gespann, gummibereiftem Wagen und drei Pferden, westwärts und blieben, in einem Dorfe Sachsens, l km vor der Mulde, bis an welche bald der Russe vordrang, nachdem sich die Amerikaner zurückgezogen hatten. Eines Nachts war er eben da. In der zweiten Nacht erschienen um Mitternacht zwei baumlange Kerle, mit Maschinenpistolen bewaffnet, und suchten — angeblich — nach deutschen Soldaten. In meinem Zimmer lag einer, den sie aber gar nicht beachteten; dagegen waren sie sehr erfreut, als sie drei junge Damen — zwei Töchter und meine Schwiegertochter — gewahr wurden. Eine meiner Töchter kam in mein Zimmer gerannt und rief um Hilfe. Als ich die Ruhestörer russisch anredete, wollten sie wissen, wieso ich Russisch kenne. Ich sagte ihnen, daß wir schon vor fünf Jahren laut einer Vereinbarung zwischen Stalin und Hitler umgesiedelt worden seien. „Ach so! Sie achten uns — die Russen — also nicht?!” Ich bin noch heute der Meinung, daß meine Kenntnis der russischen Sprache und die Nachbarschaft des russischen Kommandanten uns vor weiteren Belästigungen bewahrte. Jedenfalls zogen sie sich langsam zurück, drangen in das Schlafzimmer der Wirtschafterin unseres Bauern ein, ergriffen diese; sie riß sich aber los und floh.

Am nächsten Tag setzte uns ein Hitlerjunge über die Mulde, wo amerikanisches Besatzungsgebiet anfing. Da belästigte uns kein Mensch. Zwei meiner drei Pferde waren mir abgenommen, das dritte hatten russische Zivilisten schon an einen Wagen gespannt; da lief meine Tochter auf einen russischen Wachtposten zu — Ironie — und klagte ihm unsere Not. Und siehe — o Wunder! — er kam und jagte die Zivilisten davon. Es zogen durch das Dorf dauernd französische Kriegsgefangene. Da meine Tochter die Sorbonne (Paris) absolviert hatte und vollkommen französisch spricht, mischte sie sich unter die Franzosen und kam uns am nächsten Tag mit einem Pferd, Kutschwagen und einigen Sachen nach. Es war mein sehnlichster Wunsch schon in Bessarabien, Deutschland einmal gründlich zu sehen. Nun ging mein Wunsch in Erfüllung: Im Laufe des Monats Mai fuhr ich mit einem Pferd, Frauen und Kindern 600 km von Sachsen (Leipzig) bis in den Schwarzwald, in den Heimatort meines Urgroßvaters, wo noch direkte Verwandte wohlsituiert leben. Einen Monat verbrachten wir hier. Mein Pferd war einem Bauern sehr willkommen, aber für uns fand sich im Herkunftsort keine Wohnung, wiewohl wir die einzige Flüchtlingsfamilie waren.

Nach einem Monat fanden wir Unterkunft auf einem Vorwerk eines verpachteten Landgutes. Ich bin in meinem Leben viel herumgekommen; in Polen schrieen die uns vorgesetzten Herren dauernd über die „polnische Dreckwirtschaft”. Was ich hier antraf, übertraf im negativen Sinne alles bisher Gesehene: kein Wasser auf dem Vorwerk, kein elektrisches Licht, überall eine unverantwortliche Schlamperei. Hier hielten wir — nolens volens — 7½ Jahre aus. Ich mußte mit meinem über 60 Jahren oft entwürdigende Arbeiten ausführen, z. B. oft bei jeglichem Wetter mit einem Handwagen Wasser holen, Vieh hüten und dergleichen. In unserer bessarabischen Volksgruppe sind neunzig Prozent Landwirte, und gerade diesen geht's in Deutschland am schlechtesten. Sie arbeiten fast durchweg in fremden Berufen; Alte sind auf die Fürsorge angewiesen oder — im besten


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Falle — auf die Unterhaltshilfe. Die Alten sterben weg, die Jüngeren suchen sich notgedrungen ihren Unterhalt, und man sagt ihnen: „Ihr seid eingegliedert!” Allenfalls bin ich sehr enttäuscht von meinem Vaterland, von dem ich einst so begeistert träumte und sprach.

In den Schlußsätzen erwähnt der Vf. die Auswanderung seiner beiden Söhne nach Kanada.