Nr. 12: Die Lage in Kronstadt in den Tagen nach dem rumänischen Umsturz bis zum Abzug der deutschen Truppen nach Nord-Siebenbürgen.

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Befragungsbericht nach Aussagen des Arztes Dr. S. E. aus Kronstadt (Brasov) in Süd-Siebenbürgen.

Original, 4. September 1952, 6 Seiten, mschr.

Die rumänische Kapitulation am 23. August 1944 traf die Volksgruppenführung in Kronstadt völlig überraschend1. Volksgruppenführer Andreas Schmidt befand sich mit einigen Mitarbeitern in Berlin. Mit der interimistischen Führung der Geschäfte des Volksgruppenführers war der Leiter der Rechtsabteilung Dr. Otto Ließ betraut. Zur Stelle waren, als die Nachricht von der rumänischen Kapitulation bekannt wurde und die ersten Entschlüsse gefaßt werden mußten, der Leiter der „Deutschen Arbeiterschaft”, der Leiter des Gesundheitsamtes, der Leiter der Bukarester Geschäftsstelle der Volksgruppenführung und der Kronstädter Kreisleiter.

Noch in der Nacht vom 23. zum 24. August wurde durch die Kreisleitung die Parole an die deutsche Bevölkerung ausgegeben, daß sich alle wehrfähigen Männer in der Honterusschule einzufinden hätten. Hier schlug die in Kronstadt stationierte deutsche Wehrmacht ihr Hauptquartier auf. Ich entsinne mich nicht mehr genau, welche Einheiten da waren. Die wichtigste Abteilung war jedenfalls die in Kronstadt liegende Führerreserve (Offiziere aller Waffengattungen), ferner Nachschub-, Nachrichten- und Flaktruppen. Die zusammengewürfelte Kampfgruppe war recht gut bewaffnet. Es lagen auch an anderen Stellen der Stadt kleinere und größere Gruppen. Den Befehl über alle Wehrmachtteile in Kronstadt hatte Oberst v. St.

Am Morgen des 24. August befanden sich, als ich die Honterusschule betrat, etwa 250—300 bewaffnete Zivilisten und ungefähr 100 Wehrmachtsangehörige im Hof und in den Räumen der Schule. Die Amtswalter der Volksgruppenführung und der Kreisleitung waren zum größten Teil anwesend, an ihrer Spitze die eingangs erwähnten Persönlichkeiten. Im Hof drängten sich zahlreiche Fahrzeuge. Die Stimmung war zwar mit Spannung geladen, aber zuversichtlich. Man versicherte sich gegenseitig, daß die Lage bald geklärt und der Bukarester Putsch niedergeschlagen sein werde. Von einem Abzug der Wehrmacht war zunächst überhaupt nicht die Rede.

Unsere durch die Kreisleitung einberufenen Männer hatten von der Wehrmacht Karabiner, Maschinengewehre und Handgranaten erhalten. Mit


64

besonderem Eifer stellten sich die Gymnasiasten zur Verfügung. Auch einige rumänische Legionäre (Eiserne Garde) hatten sich eingefunden.

Die Nacht war ruhig verlaufen, und auch der 24. August brachte keine größeren Ereignisse. Die rumänischen Truppen lagen in ihren Kasernen in Bereitschaft. Ohne daß wir es gewahr wurden, wurden die Stadtausgänge und die wichtigen Sperrstellungen außerhalb Kronstadts von rumänischen Abteilungen besetzt. Im Gesichtskreis der deutschen Truppen zeigte sich jedoch nichts Auffälliges. Es kam auch weder zu Zusammenstößen noch zu Reibereien.

Kommandant des 5. rumänischen Korps (Kronstadt) war ein Siebenbürger Sachse. Ich habe seinen Namen leider vergessen. Er trat bei nun einsetzenden Verhandlungen persönlich nicht in Erscheidung. Rumänischerseits wurden die Verhandlungen durch den Platzkommandanten und deutscherseits durch Oberst v. St., Dr. Otto Ließ und die genannten Vertreter der Volksgruppe geführt.

Die Haltung der Rumänen war äußerst korrekt. Sie gaben ihrem Bedauern Ausdruck, daß „es so gekommen sei” und ließen sogar den Eindruck entstehen — wie mir der Kreisleiter erzählte —, als seien sie unter Umständen bereit, mit den Deutschen zu gehen. Der Platzkommandant bemühte sich besonders, jede Konfliktmöglichkeit auszuschalten. Er teilte bei einem Gespräch sogar mit, Nachricht erhalten zu haben, wonach starke deutsche Kräfte von Nordsiebenbürgen her im Anmarsch seien. Der Kreisleiter hatte ebenfalls Meldungen in diesem Sinne. Woher und auf welchem Wege, ist mir nicht mehr erinnerlich. Jedenfalls erließ die Kreisleitung eine Verlautbarung an die deutsche Bevölkerung, daß Kronstadt laut einem Führerbefehl gehalten werde und daß die deutsche Wehrmacht gemeinsam mit den bündnistreuen rumänischen Truppen die Karpaten zu verteidigen beabsichtige. Die Sicherheit der deutschen Bevölkerung sei, so hieß es in der Verlautbarung der Kreisleitung, gewährleistet. Entsatz sei unterwegs.

Dank dieser von der Kreisleitung sicherlich in gutem Glauben verbreiteten Darstellung blieb die deutsche Bevölkerung ruhig an Ort und Stelle. Ich fuhr am Nachmittag des 24. August in meinem Privatwagen aus der Stadt hinaus. Zwar bereiteten mir die rumänischen Sperrposten keine Schwierigkeiten, aber ich konnte beobachten, daß das rumänische Kommando deutliche Maßnahmen traf, die nur als gegen die Deutschen gerichtet aufgefaßt werden konnten.

Die Verhandlungen mit den Rumänen liefen weiter. Der interimistische Vertreter des Volksgruppenführers, Otto Ließ, legte dabei eine seltsame verworrene Art an' den Tag, so daß der Leiter des Gesundheitsamtes die Rolle des Hauptsprechers der Volksgruppe übernehmen mußte. Ließ zeigte bereits deutliche Spuren der geistigen Verwirrung, die einige Tage später sein tragisches Schicksal besiegelte.

Noch um 10 Uhr vormittags des 25. August berichtete der Kreisleiter erneut von dem heranrollenden deutschen Entsatz und gab seiner Überzeugung Ausdruck, daß Kronstadt gehalten werde. Gleichzeitig aber machte sich bei der Wehrmacht eine nervöse Aufbruchstimmung bemerkbar. Und


65

plötzlich hieß es: die Wehrmacht zieht ab. Wir waren über die jähe Wen.-dung tief betroffen. Dann aber wurde uns versichert, der Abzug bedeute keineswegs, daß Kronstadt endgültig preisgegeben werde; es sei indessen besser, das Stadtgebiet aus den vermutlich bevorstehenden Kämpfen „auszuklammern”. In drei, vier Tagen werde die Lage wiederhergestellt sein.

In diesem Sinne gab die Kreisleitung Parole an die deutsche Bevölkerung. Bald darauf wurde die Aufforderung, ruhig an Ort und Stelle zu bleiben, mit der Einschränkung teilweise aufgehoben, die wehrfähigen Jünglinge und Männer hätten sich der abziehenden Wehrmacht nach Möglichkeit anzuschließen. Dadurch entstand ein verwirrendes und beunruhigendes Durcheinander an Befehlen und Gegenbefehlen. Die Wehrmacht zog mit allen Waffen und Fahrzeugen ab. Mit ihr ein Teil der wehrfähigen Männer und einige Familien. Ich fädelte mich in die lange, gefechtsklar marschierende Wagenkolonne mit meinem Privatwagen ein. Alles ging so überstürzt, daß die wenigsten begriffen, daß die Wehrmacht wirklich abzog. Wir beruhigten uns mit der festen Überzeugung, daß die Räumung nur vorübergehenden Charakter haben werde.

Die Kolonne rollte, von den Rumänen unangefochten, aus der Stadt hinaus. Bis Tartlau ging alles in bester Ordnung. Die Truppe zeigte gute Disziplin, die „Absetzung” vollzog sich ruhig und ohne Nervosität. An der Tartlauer Brücke wurden wir von einer rumänischen Abteilung, die beiderseits der schmalen Brücke Posten bezogen hatte und unter dem Befehl eines Majors stand, angehalten. Der Major verlangte die Ablieferung der Waffen. Seine starre und drohende Haltung ließ zunächst keine gütliche Einigung zu. Daraufhin gab der deutsche Kommandant den in der Kolonne marschierenden beiden schweren Flakgeschützen Befehl, abzuprotzen und gegen die mit MG bewaffneten Rumänen in Stellung zu gehen. Dies geschah prompt und exakt. Nun gab der Major nach. Die Kolonne setzte sich wieder in Bewegung und rollte über die Brücke. An deren Rand stand der Major und kontrollierte jedes Fahrzeug. Als ich seine Höhe erreichte, hielt er mich an. Dies sei ein Privatwagen, den er nicht durchlassen könne. Ich erklärte ihm, daß ich als Arzt zum Roten Kreuz gehöre und unbedingt mitfahren müsse. Nach einigem Hin und Her ließ er mich passieren. Weniger Glück hatt Dr. B., ein Kronstädter, der ebenfalls im eigenen Wagen und von seiner Familie begleitet sich der Wehrmacht angeschlossen hatte. Er wurde vom Major angehalten und durfte nicht weiterfahren. Die Wehrmacht hatte keine Möglichkeit, ihn freizumachen, da sie laut Vereinbarung mit dem rumänischen Kommando keine Zivilisten mitnehmen durfte. Dr. B. ist dann später unter Zurücklassung seines Fahrzeuges über die Grenze gegangen.

Als wir kurz nach Tartlau die ungarische Grenze erreichten, erwarteten wir, starke ungarische und deutsche Streitkräfte anzutreffen. Aber wir sahen zu unserer Bestürzung lediglich einige schnurrbärtige ungarische Landwehrleute. Bis Sf. Gheorghe, Sankt Georgen1, trafen wir überhaupt keine Truppen an. Es hieß, die ungarischen Divisionen seien auf deutschen Befehl in die Pässe der Ostkarpaten geworfen worden, um die Russen auf-


66

zuhalten. Dies stand im Widerspruch zu den verheißungsvollen Nachrichten über den Entsatz von Kronstadt und bedrückte uns stark.

In Sf. Gheorghe kamen wir im Laufe der folgenden Tage immer mehr zur niederschmetternden Erkenntnis, daß die Rückgewinnung unserer Stadt eine Illusion bleiben mußte. Durch den Predealpaß rollten die zerschlagenen Trümmer der Wehrmacht aus dem Erdölgebiet und waren froh, als sie ungarisches Territorium erreichten. Auch aus Kronstadt hielt die Flucht der Bevölkerung an. Es kamen Sachsen und Rumänen. Sie berichteten, daß die Behörden mit Verhaftungen begonnen hätten und daß keine Aussicht mehr bestehe, daß die siebenbürgischen Garnisonen sich gegen die Bukarester Staatsstreichregierung zu stellen gedächten. In Sf. Gheorghe wurde durch den Leiter des Kronstädter SS-Ersatzkommandos, einen Hauptsturmführer, eine aus Kronstädtern bestehende „Kampfgruppe” aufgestellt. Sie setzte sich zum großen Teil aus siebzehn- und achtzehnjährigen Honterusschülern und jungen Burschen zusammen. Ihre späteren Verluste waren sehr groß.

Nach einigen Angaben über das Ende von Dr. Otto Ließ fährt der Berichterstatter fort:

Die Tage vergingen, und der Raum von Sf. Gheorghe und Neumarkt mußte unter russischem Druck aufgegeben werden. Die nächste Stadt war Sächsisch-Regen. Hier sah ich die Trümmer der aus dem rumänischen (moldauischen) Raum entkommenden deutschen Verbände. Abgerissen, durcheinandergewürfelt, demoralisiert zogen endlose Kolonnen westwärts. Tagelang strömten Fahrzeuge und Fußtruppen vorbei. Und hinter ihnen drückten die Russen. Nun wußten wir endgültig, daß alle Hoffnung auf eine Wiedergewinnung Südsiebenbürgens Torheit war. Wir hatten uns inzwischen auch überzeugen können, wie die angekündigten „starken deutschen Entsatzkräfte” aussahen. Eine einzige geschlossene und frische Division, die „Florian Geyer„, war von Westen her erschienen. Sie war ein Tropfen auf den heißen Stein.

Von Sächsisch-Regen zogen wir uns nach Klausenburg zurück. Dies wurde längere Zeit gehalten. Als es schließlich fiel, rollten wir durch das siebenbürgische Erzgebirge hindurch in die ungarische Tiefebene hinaus, auf den Fersen die Russen.