Nr. 16: Die Ereignisse in Hermannstadt nach dem rumänischen Frontwechsel; der Einmarsch der Roten Armee, Übergriffe sowjetischer Soldaten in Leschkirch und Hermannstadt, willkürliche Verhaftungen und Vermögensbeschlagnahmen.

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Erlebnisbericht der L. R. aus Hermannstadt (Sibiu) in Süd-Siebenbürgen.

Original, 9. April 1956, 8 Seiten, mschr., Teilabdruck.

Die ersten Sätze des Berichts kennzeichnen die allgemeine Reaktion auf die Entwicklung der militärischen Lage im Sommer 1944.

Am 21. 8. 1944 rief mein Schwager nachts aus Brăila an — er war als Dolmetscher bei einer deutsch-rumänischen Einheit eingesetzt — und sprach ernsthaft besorgt davon, daß bereits eine großangelegte Absetzbewegung im Gange sei; wir sollten uns seelisch damit auseinandersetzen. Der Gedanke eines Abfalls Rumäniens erschien uns trotzdem unwahrscheinlich, ja geradezu absurd. Zwei Tage darauf — wir wollten gerade zu Bett gehen — trommelte Frau Pfarrer A. verstört an die Türe und rief: „Rumänien hat kapituliert! Ich habe es selber im Radio gebort!” Als wir den Apparat einschalteten, verlas der rumänische König immer noch seine Proklamation. Ehe wir noch fertig angezogen waren — wir rechneten ja unwillkürlich mit dem Schlimmsten —, war auch der bei uns einquartierte Oberleutnant, der gerade Nachtdienst hatte, wieder daheim. Er wollte nur das allernötigste Marschgepäck mitnehmen, denn in drei Tagen wäre seine Einheit wieder in Hermannstadt. Er war von der Nachricht nicht weniger überrascht worden als wir. Diese Behauptung des Oberleutnants, seine Einheit käme in längstens drei Tagen wieder, war für uns die einzig beruhigende Vorstellung in dem Durcheinander von Fragen, die keiner beantworten konnte.

Dann warteten wir ab, Stunde um Stunde, was nun geschehen würde. Es geschah überhaupt nichts! Man hörte keinen einzigen Schuß. Die Straßen, soweit wir sie von unserer Wohnung aus beobachten konnten, waren beinahe menschenleer, abgesehen von einzelnen Wagenkolonnen deutscher Wehrmachtseinheiten, die unbehelligt die Stadt verließen. Morgens gegen vier Uhr zogen dann einige rumänische Militär- und Gendarmerieposten mit Maschinengewehren auf. Sie sahen nicht weniger verstört drein als wir, die wir hinter den Vorhängen standen und beobachteten, was geschehen würde.

Weil alles im Grunde genommen unverändert schien, ließ unsere übergroße Anspannung nach, und der Gedanke gewann Boden: „Die deutschen Soldaten kommen übermorgen wieder!” Gegen 9 Uhr ging ich zur Kreisleitung, um möglicherweise Näheres zu erfahren. Das Eingangstor, obwohl es dem deutschen Polizeikommando gegenüberlag, war geöffnet, und jeder konnte ungehindert ein- und ausgehen. Der Kreisleiter und fast alle seiner Amtswalter waren zugegen. Auch sie warteten ab. Oberst Macholz, der die deutschen Einheiten in und um Hermannstadt befehligte, hatte die Nacht vorher schwere Auseinandersetzungen mit Herrn Schuller gehabt, weil dieser sich weigerte, alle deutschen Männer zu sammeln und zu bewaffnen, um „Hermannstadt zu verteidigen!” Wie recht er damit hatte, erwies sich erst


86

Dachher, als die deutschen Truppen nach drei Tagen natürlich nicht wieder einmarschierten. Die Vergeltungsmaßnahmen der Rumänen wären unausdenkbar gewesen.

Die Haltung der rumänischen Behörden und des Militärs war nach wie vor abwartend und betont freundlich — jedenfalls in Hermanustadt. Dann kamen die ersten Gerüchte über Verhaftungen in anderen Orten, vor allem im Banat, auf; nach zwei weiteren Tagen war es dann auch in Hermannstadt so weit, und alle ehemaligen politischen Amtswalter, soweit sie vorhanden waren, wurden verhaftet. Sie blieben sechs Wochen lang in Hermannstadt, und sie konnten hinterherum ohne besondere Schwierigkeiten besucht werden. Dann kamen sie in ein Sammellager nach Târgu-Jiu und von da zum Teil nach Rußland, soweit sie in das Deportierungsalter fielen. Allmählich griff dann aber die Verhaftungswelle auch auf Deutsche und Rumänen über, die politisch nicht exponiert waren. Oftmals reichte schon allein die mißgünstige Einstellung eines Kommunisten dazu aus, diese Menschen für viele Monate und Jahre einzusperren. Wer als „Kapitalist” galt, hatte auch keinen leichten Stand. Er wurde bedroht und die Verhaftung in Aussicht gestellt. Dann wurde die Frist verlängert, entsprechend dem Bestechungsgeld, das der Betreffende zahlte — das wiederholte sich immer wieder, bis dann aber einmal die Schlinge zusammengezogen wurde.

Am 7. 9. 1944 erfolgte der eigentliche Einmarsch der Russen in Hermannstadt. Die Straßen waren sehr wenig bevölkert, und nur vereinzelt standen Halbwüchsige und Kommunisten mit Blumen und roten Fähnchen herum und winkten der Roten Armee zu. Das Bild dieser ersten Einheiten war verheerend: Motorisierte Einheiten schien es kaum zu geben, denn das Gros der Männer und Frauen marschierte zu Fuß oder war in den Panjewägelchen untergebracht. Diese Wägen schienen gleichzeitig als Möbeltransportwägen zu dienen, denn man sah auf ihnen alles, was man sich vorstellen konnte. Die Bekleidung war — für europäische Begriffe — schauderhaft. Verdreckte und zerrissene Uniformen waren an der Tagesordnung. Das Schuhwerk war mehr als mangelhaft. Die mongolischen Typen überwogen. Es scheint so gewesen zu sein, daß die Vorhut auch gleichzeitig das „Kanonenfutter” war, denn so unwürdige Einheiten sahen wir nie wieder. Sie gaben sich zwar immer — für deutsche Begriffe — salopp, aber die Uniformen waren späterhin immer tadellos, und die russischen Militärstreifen trugen dazu bei, daß auf den Straßen niemals angetrunkene Russen angetroffen wurden. Gleichzeitig wurden ein sehr streng gehandhabtes Alkoholverbot erlassen und alle Weinkeller gesperrt. Auf Grund von Gerüchten über das Verhalten in anderen Orten beschlossen wir, mit meiner Schwägerin und ihren beiden kleinen Kindern ins Leschkircher Pfarrhaus zu fahren, weil wir der Überzeugung waren, daß diese sehr abgelegene Gemeinde im Harbachtal nicht besetzt würde. Im Pfarrhaus meines Schwagers wohnte noch ein aus Bukarest evakuierter rumänischer Eisenbahnbeamter, der sich vor und nach dem Zusammenbruch immer korrekt und freundlich verhielt.

Die ersten beiden Tage in Leschkirch verliefen ruhig, abgesehen von den wildesten Gerüchten, die im Umlauf waren. Wir meinten bereits, daß unser


87

Entschluß, Hermannstadt zu verlassen, richtig gewesen sei. Am 10. 9. vormittags aber war der Pfarrhof miteinmal voller Russen. Sie verstauten ihr Gepäck und ihre Panjewagen im Hof und ließen sich im Garten häuslich nieder. Die Offiziere kamen in die Wohnung und verlangten ein ordentliches Essen. Gleichzeitig inspizierten die Ranghöchsten die Zimmer, allerdings ohne viel Durcheinander zu machen. Der Bücherschrank erschien ihnen bedeutungsvoller, zumal beide deutsch sprachen. Sie zogen die einzelnen Bücher hervor, blätterten darin und rissen zum Schluß die Buchdeckel ab. Anscheinend vermuteten sie dahinter irgendwelche Verstecke. Sie fanden aber nichts Bemerkenswertes, und so kamen nun wir beide mit meiner Schwägerin an die Reihe. Uns war dabei nicht wohl zumute. Sie wollten wissen, wo unsere Männer seien. Ah, im Krieg, wohl als Offiziere? Nein, Soldaten sicherlich nicht. „Das ist nix warrr! Kinder haben Haahre blond und Augen blau, nemetzki — Offizirrrre sind sie, ej!”, und sie fuchtelten uns erbost mit der Reitpeitsche unter der Nase herum. Allmählich beruhigten sie sich, und es begannen die Annäherungsversuche. Nach dem Essen — es durfte dabei nur das Dienstmädchen mithalten, und vor allem mußte sie Wodka trinken — erklärten sie uns dann, in welcher personellen Besetzung wir beide die Nacht mit ihnen gemeinsam verbringen würden. Natürlich überlegten wir, wie wir das Haus verlassen konnten — aber in unserer fieberhaften Aufregung kamen wir zu gar keinem Entschluß. Abgesehen davon war ja das Haus voller Russen, so daß man ja unbeobachtet keinen Schritt tun konnte. Außerhalb des Dorfes wiederum waren alle Zufahrtswege und Brücken von russischen Posten belegt. Die einzige Bahnverbindung nach Hermannstadt schien auch unterbrochen, denn der planmäßige Zug hätte längst den Ort passiert haben müssen. In diese trostlosen Überlegungen hinein platzte der Eisenbahnbeamte mit der Mitteilung, wir sollten sofort das Haus verlassen, in zwanzig Minuten führe der verspätete Zug ab. Er war im Dorf herumgegangen, um zu sehen, was los wäre. Dabei hätte er festgestellt, daß alle Russen zum Appell im Pfarrergarten angetreten waren. So kam es dann in letzter Minute, daß wir das Haus ungesehen verließen, jede mit einem Rucksack und einem Kind am Arm.

Auf der Fahrt nach Hermannstadt sahen wir dann, daß das ganze Harbachtal voller Russen war. Sie kampierten in unbeschreiblicher Unordnung, teils lagen sie in den Wagen, teils standen sie um einen einfachen Waschkessel herum, in dem das Essen gekocht wurde. Man sah kaum Zivilbevölkerung. Fünf Minuten nach 20 Uhr kamen wir in Hermannstadt an. Der Bahnhof war fast menschenleer. Die Straßenbahn verkehrte nicht mehr, weil ab 20 Uhr Straßensperre angeordnet war. Die Beleuchtung war beinahe überall ausgeschaltet. Vereinzelt sah man russisches oder rumänisches Militär in den Gassen. Wir kamen unbehelligt in unsere Wohnung und waren glücklich, diesen Abschnitt so glimpflich überstanden zu haben.

Was an Greueltaten vorkam, fiel zeitlich gesehen fast ausschließlich in diese ersten drei Wochen hinein. Dabei kannten die Russen keinen Unterschied zwischen Rumänen, Deutschen oder Ungarn. Was ihnen in den Weg kam, wurde überrannt. Dabei wurden die Randgemeinden um Hermannstadt und die Peripherie der Stadt mehr in Mitleidenschaft gezogen als das


88

Zentrum. Die frechsten Überfälle waren an der Tagesordnung. Am hellen Vormittag wurde den Passanten Uhren und Schmuck abgenommen. Zweimal wurde die Straßenbahn im Wald angehalten und den Mitfahrern alles abgenommen, was sie anhatten. Sie durften dann in Hemd und Hose weiterfahren. Wenn man nach Einbruch der Dunkelheit Schreie hörte, sah keiner nach, denn helfen konnte man nicht. Oftmals fand man tags darauf die Leiche auf der Straße liegen. Diese willkürlichen Übergriffe wurden von Offizieren und Mannschaft gleichermaßen durchgeführt.

In diese Zeit fällt auch das nachfolgende Erlebnis: Meine Mutter lebte mit ihren Schwestern im Hause meiner damals 74jährigen Großmutter. Das Haus steht in der abgelegenen Zibinsgasse. Nachmittags erschienen 5 Russen, darunter zwei ältere Offiziere, um sich einzuquartieren. Weil Essen für sie gekocht werden sollte, ging meine Mutter in den Hinterhof, um Holz zu holen. Die Russen kamen ihr nach, und unter Lachen und Gejohle vergewaltigten sie sie hintereinander. Der älteste Russe half ihr dann in die Wohnung und legte sie aufs Sofa. Hinterher fanden einige von ihnen auch die ältere Schwester im Garten versteckt — es erging ihr genauso. Die jüngste Schwester sprang über den Zaun in den Nachbargarten und entkam. Nun bedrohten die Russen meine alte Großmutter, es würde ihr genauso gehen, wenn sie nicht sofort sagen würde, wohin meine Tante gelaufen sei. Der eine Offizier legte sich dann ins Mittel und verhinderte Ärgeres. Nachher mußte Essen aufgetragen werden, und dann verließen sie das Haus.

Als ich am darauffolgenden Tag mit meiner Mutter zum Arzt ging, sagte mir Dr. Z., daß sehr viele Bäuerinnen der Umgebung bei ihm gewesen wären — der größere Prozentsatz käme gar nicht, aus Scham. Man wisse gar nicht mehr, wo man die jungen Mädchen verstecken solle, alle Verstecke würden die Russen ausfindig machen.

Nach ungefähr drei Wochen zog mit einer neuen Truppeneinheit auch ein neuer russischer Stadtkommandant ein. Gleichzeitig avancierte Rumänien zum Partner, und schlagartig wurden alle Gewalttätigkeiten unterbunden bzw. geahndet. Wenn es sich allerdings um einheimisches Gesindel handelte, mischten sich die Russen niemals ein.

Nun begann — fast unbemerkt — das eigentliche System. Die rumänischen Behörden wurden langsam, aber gründlich „gesäubert”. Das Straßenbild änderte sich von heute auf morgen: Das deutsche Bischofspalais wird zum Kulturzentrum erklärt. Vor der katholischen Kirche werden Bretterwände aufgezogen, die bis zum Dach reichen. Auf diese Wand wird rotes Tuch gespannt und riesige Bilder der russischen Größen daran hochgezogen. In den Hauptstraßen flattern rote Fähnchen zu beiden Seiten, Radios werden angebracht, und Tag und Nacht werden Reden und Musik über den Köpfen der Passanten ausgegossen. Viel Gesindel ist anzutreffen. Die Arbeiter werden nach Arbeitsschluß zu Demonstrationen herbeigezogen, die friedlichsten Bürger tragen rote Fahnen in der Hand und schreien auf Kommando: „Vrem moartea criminalilor de războiu!”1 Meine Mutter ist auch dabei, denn wer nicht mitmacht, verliert den Arbeitsplatz.


89

In diese Zeit fällt die Verordnung, daß alle Deutschen Radios und Telefonapparate abgeben müssen. Zu Bergen haben sie sich gehäuft. Es beginnt auch die Beschlagnahme deutscher Wohnungen, um den einströmenden „Mob” standesgemäß unterzubringen. Oft muß man innerhalb einer Stunde das Haus geräumt haben, ohne zu wissen: wohin nun? Auf den Dörfern wirkt sich dies oftmals besonders schlimm aus, weil da oft der Bauernhof gegen die Zigeunerhütte eingetauscht werden mußte. Es war noch eine erwünschte Lösung, wenn der Bauer seine eigene Gesindewohnung beziehen durfte. Viele kamen auch ganz ungeschoren davon. Diese Maßnahmen waren anfangs noch nicht gesetzlich verankert, sondern oblagen der Willkür der örtlichen Behörden. Um die Notwendigkeit dieser Maßnahmen zu rechtfertigen, wurden wir ununterbrochen in Presse und Rundfunk als „Faschisten”, „Kriegstreiber” und elende „Kapitalisten” bezeichnet und die allgemeine Empörung fast ausschließlich auf uns gerichtet. Es fanden sehr viele und systematische Hausdurchsuchungen statt, wobei „Material” gesucht wurde, um den betreffenden Deutschen — später auch Rumänen — all dieser Beschuldigungen zu überführen. Oftmals fand diese Kommission nichts. Dann wurden einfach belastende Briefe oder Bücher untergeschoben, um die Verhaftung zu begründen. Solche Fälle sind mir aus meinem persönlichen Bekanntenkreis zur Kenntnis gekommen.

Trotzdem können alle diese Maßnahmen nicht als Spiegelbild der allgemeinen Meinung der Rumänen gelten. Ich kann Fälle anführen, wo es wiederum Rumänen waren, die sich unter persönlicher Gefahr dafür verwandten, Deutschen zu helfen. Hierzu dieses Beispiel: In der ehemaligen Kreisleitung war inzwischen das rumänische Gendarmeriekommando untergebracht. Im Erdgeschoß des Hinterhauses allerdings wohnte noch der ehemalige Pförtner. Er hatte in seiner kleinen Wohnung 11 deutsche Soldaten versteckt. Es war für ihn allein natürlich finanziell unmöglich, diese Menschen allein zu verköstigen. So ging er bei guten Bekannten reihum sammeln. So haben auch wir diese Geschichte erfahren. Auf die Dauer konnten diese Soldaten natürlich nicht bei dem Pförtner bleiben — zumal er täglich damit rechnen mußte, die Wohnung zu räumen. Zur Lösung dieses Problem mußten unbedingt Rumänen herangezogen werden, weil sie ja die Herren im Hause waren und genauestens überwachten, wer ein und aus ging. Einige Gendarmen fanden sich bereit, diese Sache zu erledigen. Unter dem Vorwand, Möbel des Pförtners fortzuschaffen, transportierten sie die 11 Soldaten ab und ermöglichten ihnen, gemeinsam mit rumänischen Offizieren, die weitere Flucht. Trotz aller dieser Geschehnisse verlief das erste halbe Jahr doch einigermaßen erträglich, und wir atmeten auf, weil wir uns alles ja noch viel schlimmer vorgestellt hatten.

Der zweite Teil des Berichts schildert die Aushebungen zur Zwangsverschleppung in die Sowjetunion im Janur 19451.


90