Nr. 26: Flucht aus Bistritz mit einer zurückgehenden deutschen Wehrmachtseinheit; Durchquerung Südungarns im Troß der kämpfenden Truppe; Abtransport über Budapest nach Wien.

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Erlebnisbericht des Michael Lutsch aus B i s t r i t z (Bistriţa), Judeţ Năsăud (Naßod) in Nord-Siebenbürgen.

Original, 12. April 1956, 13 Seiten, hschr.

Der Vf. schildert zunächst die Entwicklung der militärischen Lage und das Aufkommen der ersten Evakuierungsgerüchte im Herbst 1944. Er berichtet weiter, daß er selbst entschlossen war, nicht zu fliehen, daß auch die in seinem Hause ivohnende Frau R., deren Mann als Regimentssattler zur Waffen-SS eingezogen war, eine Teilnahme an den ersten Evakuierungstransporten ablehnte, da der erste Zug bereits in der nächsten Station steckengeblieben war.

Am 11. Sept. sagten mir meine Gäste1, sie hätten Befehl, auf ihren Fahrzeugen Flüchtlinge mitzunehmen, soviel sie Platz hätten, und sie wären gerne bereit, die Frau R. mit den Kindern und auch mich mitzunehmen. Für


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mich dankte ich, da ich doch zu bleiben entschlossen war, — der Frau R. aber gab ich den Rat, das Angebot anzunehmen und mit den Kindern mitzufahren. Am 12. Sept. kam R. unverhofft auf Urlaub, um seine Familie fortzuschaffen. Am 13. Sept. sagte uns der Spieß und Feldwebel, daß sie am 14. Sept. von Bistritz abrückten und, wenn wir mitkommen wollten, nähmen sie uns mit. Nun war Familie R. bereit mitzufahren und fing an, ihre Sachen zu packen.

An diesem 13. Sept. war auch mein Bruder aus Windau zu mir gekommen, um mich zu fragen, was' ich tun wolle. Dem sagte ich auch, ich sei entschlossen zu bleiben. Damit fuhr mein Bruder wieder heim. Am 14. Sept. früh half ich der Familie R. beim Packen und hatte daher auch das Radio nicht eingeschaltet, um wie üblich die Nachrichten zu hören. Kurz nach 8 Uhr kam unsere Nachbarin, ein Ungarin, zu uns und fragte, ob wir die Nachrichten aus Bukarest gehört hätten. Von dort sei gemeldet worden, daß alle Deutschen und Ungarn nach Rußland deportiert würden, und jetzt wisse sie nicht, was sie tun solle, denn sie hatte auch 2 Töchter und 2 Schwiegersöhne.

Jetzt wurde auch ich hellhörig und sagte mir: Wenn ich nach Rußland muß, dann ist doch niemand im Haus und alles geht dann doch verloren — dann gehe ich doch lieber nach dem Westen. Ich schaltete das Radio ein, und von Budapest wurde die Nachricht des Bukarester Senders auch bestätigt. Nun bestand kein Zweifel mehr, und spontan war mein Entschluß, mit der Einheit meiner Gäste mitzufahren; dies vimsomehr, da sie mir dies sehr eindrucksvoll anempfahlen. Inzwischen war es 9 Uhr geworden, und um 2 Uhr nachmittags sollte die Einheit abfahren. In diesen 5 Stunden mußte ich alle Vorbereitungen und Dispositionen zum Verlassen der Heimat treffen. So kam es, daß ich auch meinen Bruder in Windau von der Änderung meines vorherigen Entschlusses nicht mehr verständigen konnte. In Eile tat ich noch, was ich tun konnte. Meine 2 Zuchtstuten samt Geschirr, Wagen, Sitz, Futter und Hafer gab ich einem Nachbarn für die Flucht, weil dieser nur Kühe hatte. Von meinen 3 Mastschweinen wurde das schwerste vom Metzger der Küche noch am Vormittag schnell geschlachtet und ein Teil des Fleisches im geheizten Backofen eingebraten, in Fettdosen und Emailletöpfen mit Schmalz Übergossen und mitgenommen. Das restliche Fleisch, die 2 Mastschweine und eine Milchkuh wurden auf LKW verladen und mitgenommen. Am 14. Sept. 1944 um 3 Uhr nachmittags haben wir Bistritz verlassen. Die Gefühle, die wir dabei hatten, lassen sich gar nicht beschreiben. Wie im Rausche bewegte man sich, ohne recht zu wissen, was man tat. So bin ich mit alten Mänteln und Anzügen wegkommen, die neuen ließ ich im Schrank hängen, um selbe auf der Fahrt nicht zu beschmutzen. Nur in einem bereits früher gepackten Luftschutzkoffer, den ich unverändert mitnahm, hatte ich 2 gute Anzüge und bessere Wäsche etc. — Vom 14. 9. 44 weiter waren ich und die Familie R. ständig bei unserer Feldgendarmerie-Einheit, bis 8. 11. 1944.

Am 14. 9. 44 ging die Fahrt bis Nagyilonda, dort angekommen — es war schon am Abend — wurde zuerst für die Familie R. Quartier gesucht, dies war bei Witwe B. Hier waren wir bis 18. 9. 44.


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Am 19. 9. 44 früh 7.30 Uhr Abfahrt. Es ging Richtung Szatmár, auf der schönen serpentinenreichen Straße über den letzten Höhenzug, der im Norden Siebenbürgen vom Alföld abgrenzt. Gleich dahinter in dem kleinen rumänischen Dorfe Törökfalu vor Somkút bezog die Einheit wieder Quartier und verblieb dort bis 14. 10. 44. In diesem rumänischen Bauerndorf waren wir in den 4 Wochen wohl nur primitiv untergebracht — in einer großen Stube mit Lehmfußboden wohnten wir und schliefen auf Stroh am Fußboden, aber wir hatten es dennoch gut, denn die Menschen waren freundlich und hilfsbereit. Das Essen hatten wir ständig von der Küche der Einheit, gut und reichlich, mit viel Fleich. Von meiner Milchkuh hatten wir täglich unsere Milch. Diese wurde mit dem Schlachtvieh der Einheit auf der Weide gefüttert, nur das Melken machten wir. Am 24. 9. war der Urlaub von R. zu Ende, da mußte er wieder zu seiner Einheit zurück. Von hier weiter mußte ich allein für die Familie sorgen — und dies sollte lange dauern.

Während unseres Aufenthaltes in Törökfalu zogen viele Herden mit tausenden Stück Vieh aller Gattungen hier durch, welches in den von Menschen verlassenen Gemeinden gesammelt wurde. Auch Landsleute zogen vereinzelt dort durch. ... Es folgen einige Namen.

In der Woche vom 8.—14. 10. hörten wir oft heftige Detonationen in westlicher Richtung, dies war die große Panzerschlacht südlich von Debrecen gewesen. Später sagte man uns, daß wir damals 2 Tage eingekesselt gewesen wären.

Am 15. 10. 44 früh 6 Uhr Abfahrt von Törökfalu, über Nagysomkút, Szatmár bis Szamoskrassó. Hier blieben wir 2 Tage, trafen da unseren Bistritzer Bekannten Ernst S. als Honvéd-Leutnant und hörten im Radio von der Absetzung des ungarischen Reichsverwesers v. Horthy, worüber unser Quartiergeber, ein ungarischer Gutsbesitzer, sehr entrüstet war.

Am Nachmittag des 15. 10. brachte ein Kradmelder die Nachricht, daß in dem etwa 6 km weit liegenden deutschen Dorfe Scheinfeld-Sinfalu1 Plünderungen gemacht würden. Sofort fuhren mit einem LKW unter Kommando des Feldwebels einige Mann bewaffnet hinaus. Ich wurde auch diesmal — wie auch sonst immer, wenn etwas besonderes war — als Dolmetscher mitgenommen. Scheinfeld war ein deutsches Dorf, aus welchem die Bevölkerung mit Treck vor mehreren Tagen ausgezogen war. Bloß zwei arme Familien, die am Dorfende wohnten, waren zurückgeblieben, weil sie keine Zugtiere hatten. Diese waren von plündernden Zigeunern bedrängt worden und hatten dies dem Posten auf der Landstraße gemeldet. Wir gingen nun durch das leere Dorf, in viele Höfe und Häuser hinein; überall waren die Türen offen, fast in allen Häusern lag in den Stuben der geerntete Mais in Haufen, teils schon geputzt, teils noch nicht. In anderen Räumen war der schöne Weizen aufgeschüttet, aber in jeder Wohnung war großes Durcheinander in Schränken, Kästen und Truhen. Es war nicht feststellbar, ob die Unordnung von Plünderern herrührte oder vom Besitzer so zurückgelassen wurde. In einigen Höfen sahen wir Schweine liegen, teils verendet, teils unmittelbar davor — wohl vor Durst und Hunger, obwohl der Mais in


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den Stuben haufenweise herumlag. Ähnlich war es auch mit dem Geflügel. Gänse, Enten, Hühner hockten hier und dort herum, dem Untergang geweiht. Das Dorf hatte nur Brunnen, kein fließendes Wasser. Überall ein Bild des Jammers! Beim Durchstreifen des Dorfes hatten wir bloß einen Zigeuner in einem Garten gefunden, konnten aber keine Plünderung feststellen und ließen ihn laufen. Den 2 Familien wurden Zugtiere versprochen, welche sie von der Einheit nur abzuholen brauchten.

Am 17. 10. 44 früh 6 Uhr Abfahrt von Szamoskrassó, die nächste Station war Csenger. Hier blieben wir 5 Tage. Wenn wir in dem kleinen Dorfe Törökfalu 4 Wochen lang von Kriegshandlungen verschont geblieben waren, so hatte sich nun diesbezüglich die Lage vollkommen verändert. In Csenger war täglich ein Ari-Duell, glücklicherweise nur über den Ort hinweg, aber das Pfeifen der Geschosse genügte auch; angeblich wurde ein Bahnhof beschossen. Auch Flieger- und Tieffliegerangriffe kamen jetzt häufig vor.

Am 22. 10. 44 früh 7.30 Uhr Abfahrt von Csenger bis nach Mátészalka. Auf allen Fahrten wurden wir samt Gepäck in den Autobus der Einheit verladen. Hier fuhr auch die dienstfreie Mannschaft und der Spieß mit. Dieser saß stets vorne neben dem Chauffeur und hatte jetzt immer eine Panzerfaust bei sich, denn hier waren wir wieder — das zweitemal — eingekesselt gewesen. In Mátészalka sah es wüst aus; viele Geschäfte waren ausgeplündert, kurze Zeit waren die Russen drin gewesen. Auch die Spiritusfabrik war geplündert worden. Nach unserer Ankunft in Mátészalka verteilte diese ihren Spiritusvorrat, die Einheit und auch wir erhielten auch ein gutes Quantum von dem 100%igen.

Am 24. 10. 44 nachmittag 2 Uhr Abfahrt von Mátészalka; wir überschritten die Theiß, und nördlich davon in dem Ort Tisza-Salamon machten wir Station. Jetzt waren alle froh, daß wir die Theiß hinter uns hatten; nun war die Gefahr der Abschneidung und Gefangenschaft nicht mehr so groß, so glaubten alle. Am 26. 10. 44 Abfahrt von Tisza-Salamon. Nach langer Fahrt erreichten wir am Nachmittag Sárospatak, ein kleines Städtchen im Weingebiet von Tokaj. Hier war ein großes Kastell des Fürsten Eszterházi, in welchem eine hohe deutsche Kommandostelle einquartiert war. Unsere Einheit quartierte sich und auch uns in einer Nebenstraße ein und blieb 8 Tage hier. Die ersten Tage waren verhältnismäßig ruhig, doch dann kam immer mehr Militär; da wurde es auch wieder lebhafter.

Der Vf. schildert im folgenden einen Zwischenfall mit betrunkenen Honvédsoldaten und die Explosion eines Munitionszuges im Nachbardorf.

Am 3. 11. 44 früh 7 Uhr ging die Fahrt von Sărospatak wieder weiter. Wir fuhren durch Miskolc, bis Füzesabony, ein größerer Ort mit mächtigen Getreidesilos. Hier erhielt unsere Einheit und auch andere den Befehl, die Flüchtlinge in Richtung Reich abzuschieben. Als wir uns hierauf am Bahnhof nach dem Urlauberzug erkundigten, mit welchem wir mitfahren sollten, wurde uns gesagt, der letzte sei in der Früh von dort abgegangen; Lazarettzug sei auch keiner gemeldet. Daher mußte jetzt eine andere Fahrtgelegenheit abgewartet werden.

Am 7. 11. 44 früh 7 Uhr ging es wieder weiter westwärts bis nach


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Mezökövesd1. Jetzt ging schon alles drunter und drüber, und der Verkehrsposten auf der Landstraße erhielt Befehl, den ersten leer zurückfahrenden LKW aufzuhalten und zur Einheit zu bringen, damit der uns mitnehmen solle.

Am 8. 11. 44 um 11 Uhr kam dann auch ganz plötzlich ein LKW mit Anhänger von der Feldpost, leer, um uns mitzunehmen. Da wieder Fliegeralarm war, wurden wir mit unseren Sachen in wenigen Minuten in den LKW und Anhänger verladen und konnten nicht mal richtig Abschied nehmen von unseren Helfern und Beschützern von der Einheit, mit welcher wir 8 Wochen zusammen gewesen waren. Während des Tieffliegerangriffs, als es in allen Richtungen krachte, brauste der Fahrer — ein Wiener — mit uns auf die Landstraße hinaus und dort mit gesteigertem Tempo nach Westen, während andere Fahrzeuge alle am Straßenrand in Deckung gingen. Endlich, nach toller Fahrt, die uns eine Ewigkeit vorkam, hielt der Fahrer an und schaute nach, ob er uns nicht verloren hätte. Auf meine Frage, warum er nicht auch wie die anderen in Deckung gegangen sei, sagte er mir: „Wenn ich in Deckung stehe, kann ich und auch das Fahrzeug viel eher getroffen werden als im 50—70 km Tempo. Hätten sie mir dort etwas kaputt geschossen, so wären wir alle aus dem Hexenkessel nie mehr herausgekommen. Jetzt sind wir draußen und können nun in Ruhe weiter fahren!” — An diesem Tag brachte uns unser Wiener Fahrer bis Gödöllö; hier wurde übernachtet.

Am 9. 11. 44 fuhr er mit uns über Budapest bis Vác, da ihm gesagt wurde, dort sei ein Urlauberzug; doch als wir hinkamen, war dieser bereits fort. Dann fuhr er mit uns wieder zurück nach Budapest, wo wir nach vielem Hin- und Herfragen erst am Abend am Ostbahnhof einen Lazarettzug erwischten, welcher auch schon abfahrbereit war. Doch war dessen Kommandant, ein Hauptmann, auf unser Bitten so gütig und hielt den Zug noch solange auf, bis unser Gepäck wieder in größter Eile vom LKW auf den Zug überladen wurde. Nur langsam ging die Fahrt, erst am 11. 11. 44 früh 7.30 Uhr kamen wir in Wien-Ostbahnhof an. Nun waren wir im Reich!

Von hier wurden wir noch an diesem Tage 4.30 Uhr nachmittags in ein Sammellager in Unterwaltersdorf bei Ebreichsdorf an der Südbahn weitergeleitet. Bei der Ankunft in Ebreichsdorf war es schon dunkel, das Lager war 2 km vom Bahnhof; da keine Fahrmöglichkeit vorhanden war, mußte die Mutter mit dem Kleinsten im Bahnhof übernachten; die übrigen gingen ins Lager. Im Lager selbst waren alle Nationen aus der Südosten vertreten; Russen aus Odessa, Serben, Kroaten, Slowenen, Ungarn — aus Siebenbürgen waren jedoch nur wir. Hier in diesem Lager machten wir auch die erste Bekanntschaft mit Läusen. Nach 14 Tagen Lageraufenthalt wurden wir — auf eigenen Wunsch — nach Gablonz im Sudetengau weitergeleitet.


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