Nr. 27: Evakuierung der Gemeinde Kyrieleis; Treck nach Niederösterreich; Flucht nach Oberbayern im Frühjahr 1945.

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Erlebnisbericht des Gärtnermeisters Johann Rauh aus Kyrieleis (Chirales), Plasa Şieu (Großschogen), Judeţ Năsăud (Naßod) in Nord-Siebenbürgen.

Original, 8. April 1956, 4 Seiten, mschr.

Am 14. 9. 44 war unsere Gemeinde Kyrieleis voll mit Zivilfìüchtlingen und deutschem Militär. Auf dem Bahnhof stand schon mehrere Tage ein Zug mit ungarischen Flüchtlingen aus der Háromszék. Die bereits geflüchteten Sachsen von Niedereidisch und Birk wunderten sich, daß wir noch Feldarbeiten verrichteten und keine Anstalten machten, uns zu packen. Am selben Tage nachmittag kam von der Kreisleitung Befehl: „In 3 Tagen fertig machen, Treck organisieren und am 17. 9. Abfahrt über Dés, Nagykároly, Polgár, Gyöngyös, Hatvan, Vác, bei Esztergom über die Donau, Tata, Nagyigmánd, Sopron.”

Am 17. 9. 44 in der Früh gingen deutsche Soldaten mit ungarischen Gendarmen von Haus zu Haus und hießen alle fertig machen zur Abfahrt. Es zögerten viele und erkundigten sich bei dem deutschen Stationskommando, ob es sein muß, daß man seine Heimat verlassen müsse. Die Antwort war: „Es muß sein.” Von 95 Familien fuhren am 17.9.44 79 im geschlossenen Treck ab. 16 blieben trotz allen Ermahnungen zurück. Nach zwei Wochen wurden sie gewaltsam auf deutsche LKW geladen und nach Österreich gefahren. Die 79 Familien mit über 100 Wagen blieben im geschlossenen Treck. Bevor wir Siebenbürgen verließen, wollten einige wieder zurück, das Wanderzigeunerleben gefiel ihnen nicht. Ich ging mit einer Abordnung in einer rumänischen Gemeinde zum deutschen Divisionskommando. Dort sagte man uns, daß alle Deutschen Nordsiebenbürgens zwangsweise evakuiert werden. Es wird das Gelände durch SS durchgekämmt, und wer nicht freiwillig geht, wird mitgenommen. (So war es auch geschehen mit den 16 Familien.)

Der Treck wurde immer abgeleitet auf schlechte Seitenwege. Die Hauptstraßen wurden für die zurückflutende deutsche Wehrmacht freigehalten. Die Straßengräben waren stellenweise gefüllt mit toten Pferden und zerbrochenen Wägen. Deutsche Soldaten fuhren oft betrunken jodelnd in unsere Wägen. Als unser Treckführer den Ausdruck „besoffene Schweine” gebrauchte, sprangen gleich 3 auf ihn zu und wollten ihn erschießen, was durch Dazwischenspringen unserer Leute verhindert werden konnte.

Die Übernachtungen wurden meistens auf freiem Feld gehalten. Bloß an Regentagen übernachteten wir in Dörfern. Die Übernachtungen im Freien wurden oft durch Kanonendonner gestört, denn die Russen folgten uns auf nicht weite Entfernung nach. Übernachtungen in Gemeinden waren mit Schwierigkeiten verbunden; die Ungarn wollten uns nicht in ihre Höfe hineinlassen, da wurden die Tore von deutschen Militaristen gewaltsam geöffnet, und [sie] führten uns herein. Wir übernachteten auch in 2 deutschschwäbischen Gemeinden; auch die waren uns feindlich gesinnt. Wir sagten:


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„Ihr seid doch auch Deutsche, warum nehmt ihr euch eurer deutschen Brüdern nicht an?” Sie antworteten: „Wir sind keine Deutschen, wir sind ungarische Schwaben.” Ich sagte ihnen: „Ungarische Schwaben gibt es nicht; wenn ihr Schwaben seid, so seid ihr Deutsche, und ihr werdet uns auch folgen müssen und alles hier lassen.” Was auch geschehen ist. — Heute treffen wir uns mit ihnen in Kitzingen. — Die deutsche Wehrmacht hat uns beschützt und unterstützt, von der Heimat bis Österreich. Auch die ungarischen Behörden haben uns unterstützt. Ich habe selbst in Komorn vom Obergespan eine Zuteilung für Pferde-Kraftfutter erhalten für den ganzen Treck.

Am 5. 11. 44 kamen wir in Sopron an und überfuhren die ungarischösterreichische Grenze. In Ebenfurth wurden vielen Landsleuten die Kühe abgenommen. Am 7. 11 44 wurden wir in Schwarzau bei Neunkirchen in alle Richtungen verteilt. Ich kam mit 4 Familien nach Schottwien am Semmering, andere nach Puchberg am Schneeberg. Nirgends eine freundliche Aufnahme. Die Beschaffung von Futtermitteln für die Pferde war sehr schwer, viele mußten sie verkaufen. „Warum seid ihr nicht zuhause geblieben?”, mußte man öfters hören. Der Winter verging unter seelischer Not und Verzweiflung. Die Ernährung war sehr dürftig.

In der Osterwoche 1945 näherten sich die Russen auch dieser Gegend. Am 31. 3. 44 kam Evakuierungsbefehl. Aber zu spät, 42 Familien wurden von den Russen geschnappt und nach Siebenbürgen gelenkt. Dort wurde ihnen alles abgenommen, und [sie] wurden in Lager gesteckt und mißhandelt. 40 Familien treckten weiter bis Braunau am Inn, wo sie sich mit den Amerikanern trafen, und wurden im Kreis Braunau untergebracht. Am schlechtesten ging es mir und noch 3 Familien, die am Semmering einquartiert waren. Wir gerieten zwischen die Fronten ins Kreuzfeuer und konnten uns kaum das Leben retten. Es waren die Familien Anders Martin Kraus, Anders Martin Gettfert, Zinz Michael und ich, Rauh Johann, Gärtner. Wir konnten uns mit Mühe durch die deutsche Linie herausschleichen und 16 km zu Fuß bis Mürzzuschlag in die Steiermark kommen. Vor dort mit der Eisenbahn bis Altötting in Oberbayern. Am 8. 4. 44 wurden wir bei die Bauern verteilt. Brennesseln und je 2 Kartoffeln war unsere Speise in 8 Tagen. 9 Familien verloren sich in Östereich von den übrigen und gelangten über die Grenze nach Nieder- und Oberbayern. Auf der Flucht von Niederösterreich nach Oberösterreich und Bayern wurde oft unter Artilleriefeuer gefahren, und die Gefahr bestand jeden Tag, in Gefangenschaft unter die Russen zu geraten. Die Hilfe der Wehrmacht blieb diesmal aus, weil sie sich selber in Sicherheit bringen wollte.

Der Bericht schließt mit einigen Bemerkungen über die Umsiedlung nach Unterfranken im Jahre 1946.


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