Nr. 30: Die Evakuierung der deutschen Bevölkerung von Bistritz; Bahntransport über Borzsova-Kaschau-Neusandez nach Bad Ullersdorf in Mähren.

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Erlebnisbericht des Pfarrers i. R. Prof. Friedrich Krauß aus B i s t r i t z (Bistriţa), Judeţ Năsăud (Naßod) in Nord-Siebenbürgen.

Original, 6. September 1956, 9 Seiten, mschr.1

Bis gegen Ende September 1944 hatte der größte Teil der etwa 4125 Seelen zählenden deutschen Bevölkerung Bistritz verlassen. Auf der Straße begegnete man nur noch vereinzelt deutschen Volksgenossen. Buchdruckereibesitzer Gustav Zikeli, den ich in der Spitalgasse antraf, riet mir, in Bistritz zu bleiben; er verlasse grundsätzlich seine Heimat nicht. Der rumänische Hilfsschulinspektor Janul sagte zu mir rumänisch: „Die größte Dummheit, die die Sachsen machen, ist, daß sie flüchten.” Stadtpfarrer und Generaldechant Dr. Molitoris aber hatte in der Kirche gepredigt: „Wollt Ihr deutsches Leben erhalten, müßt Ihr Eure Heimat verlassen.”

Als Begleiter von Museumsgut des Bistritzer Gymnasiums konnte ich, der ich ursprünglich in Bistritz zurückbleiben wollte, mit dem angeblich letzten Flüchtlingszug im „Museumswagen” mitfahren; dort bot sich mir auch Gelegenheit, meine in 30jähriger Arbeit entstandenen mundartlichen Wortsammlungen mitzunehmen. Zu betreuen waren: 13 Zunft- und Nachbarschaftsladen, zum Teil mit Museumsgut, zum Teil leer; von Stadtpfarrer Dr. Molitoris 3 Kisten mit Büchern; von Buchhändler Schell 4 Kisten Transilvaniaca und l Kiste mit einem wunderschönen Bärenfell, bestimmt fürs deutsche Jagdmuseum. Der Flüchtlingszug sollte abmachungsgemäß nach Wien gehen, und das Museumsgut sollte in den bombensicheren Kellern der Wiener Universität mitsamt den Büchern und dem Bärenfell gelagert werden. Der Zug ist aber nicht ans gesteckte Ziel gelangt; die Fahrt endigte in Bad Ullersdorf bei Mährisch-Schönberg2.

Der Abfahrtstag, ein Mittwoch, war der 27. September. 32 Eisenbahnwagen, gedeckte Viehwagen und offene, doch mit rasch zusammengeschlagenen Bretterdächern versehene Güterwagen sollten etwa 320 Flüchtlinge, zumeist aus Bistritz, aber auch aus der Umgebung, zu denen auch einige Nichtsachsen gehörten, vor den südlich der Mieresch-Linie stehenden


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Russen in Sicherheit bringen. Einige größere gewerbliche Betriebe, so die Bistritzer Tischlereinigung und die Selcherei der Gebrüder Braedt, hatten ihre wertvollsten Maschinen aufgeladen, die Gerbereien Haitchi und Borger ihre ausgearbeiteten Leder; Kürschner Berger hatte wertvolle Brustlätze in einer Truhe, Siebmacher Grameth seine Siebe. Den ganzen Tag wurde am Bahnhof gehämmert und gezimmert, mit Mühe wurden die schweren Maschinen auf die Wagen gehoben, Kisten und Koffer aller Größe und Formen wurden verstaut; und die Menschen, das Wertvollste, was gerettet werden sollte, bauten sich ihr Lager oder eine Sitzgelegenheit, um aus der geliebten, bis dahin für so sicher geglaubten Heimat in die Ungewisse Fremde zu ziehen. Nur sechs Wochen, hieß es, solle die Flucht und das Fernsein von der Heimat dauern; dann werde man wieder an den bis dahin dem Feinde wieder entrissenen heimatlichen Herd zurückkehren.

Als ich am Fluchttag gegen 16 Uhr nochmals und nun endgültig zum letztenmal auf den Aufboden meiner Wohnving in der Unteren Vorstadt gestiegen war, um noch verschiedene Wörterbücher zu holen, und zum Bahnhof zurückkehrte, da erschrak ich gehörig: ich sah keinen der vielen vorher verstreut stehenden Wagen; in ganz kurzer Zeit müssen sie zum Zug vereinigt worden sein. Hinter dem Bahnhofsgebäude fand ich den Zug abfahrbereit. Immerhin hatten die Flüchtenden dann noch Zeit, sich in die mehr oder minder unbequeme Lage in den Wagen hineinzufinden, die nun 27 Tage ihr Aufenthalt sein sollten; Tage voll Sorge, Furcht und Zagen, voll Zank und Streit, voll Unwillens und voll Angst über lange Aufenthalte und voll der Glücksgefühle über flotte Weiterfahrt und voll Verlangens nach einer glücklichen Beendigung der Flucht. Gefaßt und zumeist mit zurückgehaltenen Tränen, doch voll Wehmut ob des Verlustes der geliebten Heimat hatten die Insassen des Flüchtlingszuges, dessen Nummer mit 6 900 485 angegeben wurde, die Reise ins Ungewisse angetreten.

Um 19.35 Uhr ruckte der Zug an, langsam glitt er an den Häusern und Gärten von Nieder-Wallendorf, dem unteren Drittel von Bistritz, vorbei; nochmals grüßte der 75 m hohe Turm, der höchste von Siebenbürgen, herüber; dann ging's an den ihres Deutschtums ebenfalls entblößten stolzen Dörfern Heidendorf und Baierdorf vorüber; sie lagen für die Flüchtenden unsichtbar auf der Gegenseite des langen Zuges; nur die Insassen des Krankenwagens, der den Ausgang nach der ändern Seite hatte, konnten von diesen lieben Dörfern Abschied nehmen. Am 1. Bahnhof westlich von Bistritz, in Reußen (Szeretf alva, Sărăţel) übernachteten wir, und am 28. 9. um 6 Uhr fuhren wir weiter.

Die 27tägige Fluchtfahrt läßt sich leicht in drei Zeitabschnitte gliedern:

1. 27. September (19.35 Uhr) bis 3. Oktober (5.30 Uhr): Fahrt von Bistritz bis Borzsova-Nagymuzsaly, unweit von Beregszász (6 Tage);

2. 3. Oktober (5.30 Uhr) bis 16. Oktober (19.05 Uhr): Aufenthalt am Bahnhof Borzsova (rund 14 Tage);

3. 16. Oktober (19.05 Uhr) bis 23. Oktober (um die Mittagsstunde): Fahrt von Borzsova nach Bad Ullersdorf bei Mährisch-Schönberg und Zöptau, unfern von Bad Ullersdorf (rund 7 Tage).


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Die Fahrt vollzog sich in kleinen Schüben mit längeren Aufenthalten an verschiedenen Bahnhöfen:

28. 9. (Donnerstag): Reußen ab: 6.00 Uhr.

29. 9. (Freitag): Zsibó an: 1.00 Uhr.

Aranyosmedgyes an: etwa 17.00 Uhr.

30. 9. (Sonnabend): Am Morgen fuhren sächsische Landsleute in ihrem Flüchtlingstreck am Bahnhof Aranyosmedgyes vorbei. — Aranyosmedgyes ab: 9.30 Uhr (Fahrt an Sathmar vorbei), Királyháza an: 18.45 Uhr; hier gab's den ersten Kaffee durch das deutsche Militär.

1. 10. (Sonntag): 10.15 Uhr hielt ich einen Feldgottesdienst über den 18. Psalm, Vers 3: „Herr, mein Fels, meine Burg, mein Erretter...„ Viele Zuhörer, auch deutsche Soldaten, standen dort; gesungen wurde: „Ein feste Burg ...„ und (111) „Laß mich ...„ Mittagessen aus der Wehrmachtsküche; Verpflegung an mitfahrende SS-Leute auf 3 Tage.

2. 10. (Montag): Bahnhof Királyháza: Landsmann Kluschnik unterhält die Leute mit Kartenkunststücken und Hypnose. Wir müssen unsere Uhren auf mitteleuropäische Zeit einstellen. Királyháza ab: 17.00 Uhr. Angehängt werde unser Zug an Wagen, in denen Ukrainer und Polen fuhren. — Borzsova-Nagymuzsaly an: 20.00 Uhr. Daß wir auf diesem dreigleisigen Bahnhof 14 lange, zum Teil angsterfüllte Tage zubringen würden, konnten wir beim Einlaufen unseres Zuges nicht wissen.

3. 10. (Dienstag): Wetter vormittag freundlich, nachmittag kühler; gegen Abend Regen. Unser Blick ging den ganzen Tag zu den Weinbergen hinüber, die nicht weit vor uns lagen. Auf der Landstraße fuhren 2 Koberwagen vorüber; es waren, wie ich erfuhr, Landsleute aus Baierdorf.

4. 10. (Mittwoch): Regen und kühles Wetter. Wir erfuhren, daß auf einen Bistritzer Flüchtlingszug, der einige Tage früher in Beregszász am Bahnhof gestanden hatte, ein Bombenangriff erfolgt ist, dem sechs Bistritzer zum Opfer gefallen sind. — Aus Borzsova fuhren Prof. Scholtes und Frl. Trafikantin Lörinz mit der Bahn wieder nach Bistritz zurück. 5 Kilometer von Borzsova entfernt entgleiste die Lokomotive dieses ostwärts fahrenden Zuges infolge Sprengung einer Brücke durch Partisanen, so daß beide wieder zurückkehrten.

5. 10. (Donnerstag): Prof. Scholtes unternahm nochmals die Fahrt nach Bistritz; die Brücke wurde am Abend wieder gesprengt. Deshalb erhielten wir den Auftrag von der Gendarmerie, nach 19 Uhr den Zug nicht zu verlassen. Die Leute betrachten den unliebsamen Aufenthalt in Borzsova schon als Dauerzustand. Sie machen sich auf den „Bahnsteigen”, also zwischen zwei Gleispaaren, Feuerchen und bereiten Speisen. Vom deutschen Kommando erhielt jeder l Brot und l Konserve; dann erhält die Zugleitung für uns Erbsen, Dörrgemüse, Kaffee.

6. 10. (Freitag): Am Morgen gab's aus der Küche, die sich im Zug befand — auch eine Art Weinausschank war da — zum ersten Male kostenlos Kaffee; abends Bohnensuppe. Wetter heiterer und wärmer. Mit dem regelmäßigen Abendzug fahren an die 60 Männer aus unserer Gemeinschaft gegen Ofenpest; ein Stellungsbefehl ruft sie nach Bia. Dr. Oskar Kretschmayer. bisher Zugarzt, fährt auch ab.


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7. 10. (Sonnabend): Schöner Tag. Am Nachmittag stieg ich mit Kaufmann Knall auf den Berg bei Nagymuzsaly, wir sahen Beregszász und viele Dörfer in der Umgebung. Wildgänse flogen über uns (einmal 120 und einmal 75). Knall hörte Kanonendonner und Flugabwehrgeschütze. Heimgekehrt erfuhren wir, daß der Bahnhof Csap — nicht allzufern von Beregszász — von feindlichen Flugzeugen schwer angegriffen worden sei; Csap sei nicht durchfahrbar.

8. 10. (Sonntag): Feldandacht durch mich über Jesaja 66, 13: „Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet ...„ Besuch durch etwa 60 Leute. Am Nachmittag flogen 9 Bomber über uns hinweg.

9. 10. (Montag): Auf einem deutschen Arbeitszug fuhren 2 sächsische Bauern und die Bistritzer sächsische Beamtin Saal durch. 18 feindliche Bomber und 4 Jäger veranlaßten uns zur Flucht aufs Feld.

10. 10. (Dienstag): Regnerisch, doch nicht kalt. Gebietsführer G., der am Bahnhof erschienen war, machte die Mitteilung, alle sächsischen Flüchtlingstrecks hätten die Theiß überschritten; 3000 Volksgenossen seien bei Odenburg; bald würden die neuen Waffen eingesetzt. — Lehrer Ungar (Heidendorf), der aus Neumarkt am Mieresch zu kommen angab, berichtete: Sächsisch-Regen sei noch frei von den Russen; wo die SS eingesetzt sei, stünde die Front gut. — Zugleiter Hauptmann Binder hat aus Beregszász die Mitteilung erhalten, daß sich die Weiterfahrt noch hinauszöge.

11. 10. (Mittwoch): Hauptmann Binder wurde durch Drahtung zum deutschen Heer abberufen. — Eine Mitflüchtlingin, die vorausgefahren und wieder zurückgekehrt war, berichtete, der ukrainische Flüchtlingszug, der uns verlassen hatte, sei durch Bomben angegriffen worden. 52 Tote habe es gegeben. Eigentlich hätten damals, als er abfuhr, wir abfahren sollen; so sind wir von Bomben verschont geblieben. Wenn die Russen bei Debrecen Fortschritte machen, sind wir in Gefahr, abgeschnitten zu werden. An Stelle von Hauptmann Binder übernimmt Ingenieur Jekeli die Zugleitung.

12. 10. (Donnerstag): Wetter bewölkt. Aus Beregszász erhielten wir Lebensmittel. Mit diesem Kraftwagen fuhr ich nach Beregszász; dort traf ich Gasthofbesitzer Fritsch; er ist am 10. 10. aus Bistritz mit Heereswagen weggekommen: die Russen seien bei Dürrbach und Großschogen; die ungarischen Behörden und die deutsche Ortskommandantur hätten Bistritz verlassen, ungarische und deutsche Soldaten hätten viel geplündert und Möbel zerschlagen; am 9. 10. sei der letzte Zug mit Bistritzer Flüchtlingen aus Bistritz abgefahren.

13. 10. (Freitag): Sonniger Tag; gegen 10 Uhr suchten die Flüchtlinge Schutz vor Fliegern am Felde. Mit einem deutschen Zug, der durchfuhr, fuhr Lehrer Lani mit; ich hatte die Erlaubnis erhalten, das Museumsgut auf diesen Zug umzuladen, doch hatte ich, da er weit stand, keine Möglichkeit, es zu tun.

14. 10. (Sonnabend): Schönes Wetter. Ing. Jekeli hat in Beregszász erfahren, daß wir in 2—3 Tagen an einen deutschen Heereszug angeschlossen würden, der deutschen Heeresbesitz weiter schaffen soll.

15. 10. (Sonntag): Schöner Herbsttag. Züge fahren durch nach Ost und West. Ich hielt Gottesdienst über Psalm 130, 5—6. Vers: „Ich harre des


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Herrn ...„ Wir sangen: „Harre meine Seele . . .„ Etwa 45 Zuhörer. Um 2 Uhr erfuhren wir durch Rundfunk, die ungarische Regierung wolle Waffenstillstand mit den Russen. Die Nachricht wirkte lähmend auf uns, und allerlei Befürchtungen wurden ausgesprochen. Ein deutscher Zug, der durchfuhr, hatte etwa 10 vergitterte Wagen; angeblich lauter junge Soldaten, die an der Front straffällig geworden waren; der Zugkommandant konnte uns nicht mitnehmen.

16. 10. (Montag): Regnerisch. Wir erfuhren die Kunde, Szálasi habe die Regierung in Ungarn übernommen; als Hitleranhänger werde er den Krieg auf deutscher Seite fortsetzen.

Um 11 Uhr lief ein deutscher Militärzug aus dem Osten ein. Der Zugleiter, ein Oberleutnant (Saarländer), fuhr mit unserem Zugleiter, Ing. Jekeli, nach Beregszász; der Oberleutnant wäre bereit, unsern Zug mitzunehmen, müßte dafür aber Munitions- und andere Wagen zurücklassen. Unbeschreiblicher Jubel unter den Flüchtlingen, als Jekeli uns die Abfahrt mit diesem Zug in Aussicht stellt. — Der Bahnhofsvorstand, ein fast 2 Meter großer, fetter Tscheche, stand bei uns schon lange in Verdacht, unsere Abfahrt vereiteln zu wollen.

Um 19.05 Uhr fuhren wir hocherfreut ab; ein Fräulein aus dem Zug rief dem Bahnhofsvorstand zu: „Servus, dickes Schwein, auf Wiedersehen!” In Beregszász (Ankunft 19.57 Uhr) stieg ein ungarischer Leutnant (aus Sárospatak) ein. Er erzählte, am 15. 10. hätten die Kommunisten in Ofenpest 25 Minuten lang den Rundfunksender und die Hauptpost besetzt; die Pfeilkreuzler hätten sie beseitigt; die 30 000 deutschen Soldaten hätten nichts vermocht ohne die Pfeilkreuzler. Die Verwirrung unter den deutschen Truppen sei groß gewesen. Zum Beipiel aus Mezötarpa seit die 64köpfige deutsche Besatzung nach Beregszász geflüchtet. Um 24 Uhr waren wir in Csap.

17. 10. (Dienstag): 6½ Uhr frühstückten wir in Perbenyik (westlich von Csap). In Bodrogszerdahely (östl. von Sátoraljaújhely) entnahmen einzelne unserer Flüchtlinge von einem dort stehenden Eisenbahnwagen Scheitholz zum Heizen; in Borzsova hatten wir während des langen Aufenthaltes alte Schlipper (Bahnschwellen) verheizen können. — Sátoraljaújhely an 13.30 Uhr. Wir trafen am Bahnhof Bistritzer Flüchtlinge, die 2 Wochen vor uns geflüchtet waren. Dort stand ein Militärtransport mit Mörsern mit dem Bestimmungsziel Olmütz, der noch am 10. September Bistritz verlassen hatte. Gegen 13 Uhr hielten wir vor Csörgö. Deutsche Soldaten holten sich aus den nahen Weinbergen Trauben; 18.30 Uhr Abfahrt; die Fahrt scheint nach Kaschau zu gehen und durch die Slowakei weiter.

18. 10. (Mittwoch): Um 5 Uhr erwachten wie in Slanec (Nagyszalánc); sauberer Bahnhof, Beamten in tadellosen Anzügen. Der Morgen war neblig. Regeteruszka an 10 Uhr; wir erfuhren, daß Horthy abgedankt habe und Szálasi Reichsverweser geworden sei. Wir kamen nach Kaschau; hier ganz kurzer Aufenthalt. Schönes Wetter. Die Fahrt ging wieder südlich auf Miskolc zu. In Hidas-Németi war Aufenthalt. Hier erfuhren wir die betrübliche Mitteilung, daß wir vom deutschen Militärzug abgekoppelt würden; der deutsche Zug fahre nur bis Miskolc, dort sollen die Leute frisch eingesetzt werden; wir würden in Hidas-Némety bleiben oder nach Kaschau


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zurückgebracht werden, wo der Bistritzer Dr. Hans Wühr bei der Ortskommandantur sei; wir würden über Kaschau durch die Slowakei weiter fahren. Am Abend vor ihrer Abfahrt sangen die deutschen Soldaten vor unseren Wagen Volkslieder, begleitet von einem Schifferklavier; wir Siebenbürger sangen unser „Siebenbürgen, Land des Segens” und „Ich bin ein Sachs ...„ Einem Leutnant aus Recklinghausen schrieb ich den Wortlaut beider Lieder auf. 19.30 Uhr stehen wir noch in Hidas-Németi.

19. 10. (Donnerstag): Um 6 Uhr wachte ich am Bahnhof von Kysak (Sárosköszeg), Slowakei, auf; er liegt an der Kundert (Hernád). In der Nacht waren wir durch Vermittlung von Dr. Wühr nach Kaschau geholt worden, der Zug hatte aber die Verpflegung nicht übernehmen können, da sich unser Geleis weitab von der Verpflegungsstelle befand; er veranlaßte, daß wir durch die Slowakei weiterführen; die Fahrt soll über Krakau gehen. — Eine Benzinexplosion im Zug am Bahnhof von Kysak wurde rasch unschädlich gemacht; wäre der Zug in voller Bewegung gewesen, hätte zum mindesten im betroffenen Wagen schweres Unheil entstehen können. Abfahrt aus Kysak 9.45 Uhr. — Schönes Wetter. In flotter Fahrt gelangten wir nach Eperjes. Die Bahnstrecke ist bewacht; es ist Partisanengebiet, um die Brücken sind Drahtverhaue und Schützengräben. Auf den Feldern sieht man vielen prächtigen Kohl. Einzelne wollen beobachtet haben, daß die slowakischen Arbeiter auf dem Bahnhof den Flüchtlingszug mit höhnischen Gebärden begleitet hätten. Tagsüber Aufenthalt in Eperjes, das durch feindliche Bomber gelitten hat. Ein starker Regen am Nachmittag hat durch die Behelfsdächer auf den Eisenbahnwagen hindurch Schaden angerichtet. In unserem Wagen entzündete sich am (tragbaren) Ofen die Wand.

20. 10. (Freitag): Wir stehen auch weiter in Eperjes. Am Vortag ist unser Zug an einen deutschen Militärzug von 11—12 Wagen angehängt worden; der geht laut Anklebezettel über Neusandez nach Breslau. Die Stadt Eperjes heißt deutsch Preschau; es finden sich deutsche Aufschriften in den Straßen; die (kath.) Kirche am Marktplatz gleicht der Bistritzer Kirche. Merkwürdig sind die Aufbauten auf den Dächern der Stadt. — Abfahrt von Preschau 16.15 Uhr.

21. 10. (Sonnabend): Am Morgen waren wir in Orló (am Popper); 7.45 Uhr fuhren wir bei Čirč (ung. Cséres) über die slowakisch-polnische Grenze; um 9 Uhr waren wir in Muszyna, dem ersten Bahnhof im „Generalgouvernement”. Deutsche Eisenbahner aus Elsaß-Lothringen legten ein neues Gleis; zwischen Orló und Muszyna lagen 2 entgleiste Lokomotiven und 2 Eisenbahnwagen, angeblich durch Anschläge der Partisanen verunglückt. Wir fuhren am Popper abwärts. Am Luftkurort Żegiestów mit seinen vielen Villen ging's vorüber, über den Popper nach Piwniczna, und über Altsandez erreichten wir um 16.50 Uhr Neusandez.

22. 10. (Sonntag): Am Morgen standen wir in Tuchów nordöstlich von Neusandez, 30—35 Kilometer von der Ostfront entfernt. Tuchów ab 7.15, Tarnow an 8.30. Hier kaufte ein Mitflüchtling die erste Zeitung auf der Flucht: die „Krakauer Zeitung”, das „Signal” und eine Illustrierte. Tarnow ab 8.55 Uhr; gegen Mittag standen wir vor Krakau; hier erhielten wir Kaffee und Grießsuppe und weitere Verpflegung für die Reise (Brot,


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Butter, Krakauer Wurst), die Mütter erhielten Kindermehl und Arzneien, eine von ihnen Windeln für ihren Säugling. Krakau ab 17.50.

23. 10. (Montag): Wir erwachten um 7 Uhr in Nieder Lindewiese in Mährisch-Schlesien; in der Nacht hatte ich während eines Aufenthaltes auf einem Bahnhof den Namen Heydebreck gelesen. Ich wußte, daß wir nun in Oberschlesien und damit in Sicherheit waren. In Nieder Lindewiese erfuhren wir das Reiseziel: es war Mährisch-Schönberg, da sollten wir ausgeladen werden. Endlich standen wir in Mährisch-Schönberg; es gab guten Tee und Eintopfgericht. Wir blieben aber nicht hier, sondern fuhren weiter nach Bad Ullersdorf; ein Drittel der Flüchtlinge ging nach dem gleichweit entfernten Zöptau, von Bad Ullersdorf durch einen Bergriegel getrennt. In Bad Ullersdorf wurden wir in Massenquartieren untergebracht: im Hotel Weiser, Gasthof Heinisch und Gasthof Winter und im Volksdeutschen-Lager im Brünner Heim; das Gepäck wurde in Speichern untergebracht; das Musenmsgut lag in einem offenen, von der Straße leicht zugänglichen Schuppen. Ich stellte mich für die Betreuung meiner Landsleute zur Verfügung und wurde von Amtsleiter Schwarz damit betraut. Nun soll man uns erst „erfassen”. Eine Zählung der Flüchtlinge bald nach der Ankunft ergab die Zahl 164 in Bad Ullersdorf, in Märisch-Schönberg waren 6; die Zahl der „Zöptauer” dürfte um 80 herum gewesen sein. Dann gibt's Einzelquartiere und danach Arbeit.

So haben wir, nach Verlust unserer siebenbürgischen Heimat, wieder festen Boden unter den Füßen; fern von der Front sind wir in Sicherheit, wie wir meinen; „der Endsieg wird unser sein”, so hören wir es bei einer amtlichen Begrüßungsfeier. Die 27tägige Fluchtzeit ist gottlob zu Ende. Weder durch Unfall noch durch Bomben noch durch Tod haben wir jemand während dieser langen Fahrt verloren. Wir waren zwar in Gefahr durch feindliche Flieger, dann durch den politischen Umsturz in Ungarn, auf der Fahrt durchs slovakische Partisanengebiet und durch die Nähe an der russischen Front in Polen, aber der Himmel hat uns behütet. — Erst nach Wochen starben in Bad Ullersdorf der alte Andreas Rehbogen (* 1867) aus Sächsisch-Sankt Georgen, Schuster Materna aus Bistritz und die Frau eines Schusters aus Mettersdorf, aus Zigeunerstamm, die sich mit den Ihren den Sachsen angeschlossen hatte, und deren Mann, Sohn und Schwager nachher noch kurz vor Kriegsende in der SS gedient haben und als SS-Leute in Gefangenschaft gerieten.

Ganz kurz sei noch die weitere Geschichte dieses „sächsischen” Volkssplitters aus Bad Ullersdorf und Zöptau angeführt. Viele Flüchtlinge wanderten ab, da sie sonstwo ihre Angehörigen hatten; andere zogen nach Mährisch-Schönberg; einige zogen sonsther zu. Diejenigen, die beim Zusammenbruch noch in und bei Mährisch-Schönberg waren, blieben bis zum 2. Juli 1945 dort; dann fuhren sie, nun nicht mehr mit 32 Wagen, wie sie gekommen, sondern bloß in 5 Güterwagen wieder nach der alten Heimat zurück, nachdem man ihnen den wertvollsten Besitz (Schmuck, Geld, die besten Kleider) am Bahnhof in Mährisch-Schönberg abgenommen hatte. Nach vielwöchiger Fahrt sind sie, entblößt aller Habe, in der Heimat angelangt. Nur ein Landsmann war in Mährisch-Schönberg zurückgeblieben.


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Das Museumsgut, die Transilvaniaca samt dem Bärenfell von Schell und die Bücher von Generaldechant Dr. Molitoris habe ich bis zum letzten Augenblick meines Aufenthaltes in Bad Ullersdorf, nach dem Einrücken der Russen unter Lebensgefahr, betreut und konnte sie durch die Plünderungszeit unversehrt erhalten. Leider hat letzterer seine Bücher nicht in Sicherheit gebracht, als es möglich war, sie sonstwohin zu schaffen, wiewohl er zeitgerecht die Absicht geäußert hatte, sie abzuholen. So sind sie gleich anderem nach Mähren gerettetem Heimatgut, soweit es von den Eigentümern nicht abgeholt worden ist, bei unserem Abzug in die Hände der Tschechen gefallen. Ich selbst geriet an demselben Tag, wo meine Volksgenossen heimwärts zogen, in Prag in tschechische Gefangenschaft: ich wollte meine unersetzbaren Sprachsammlungen, die ich unter Zurücklassung meiner ersetzbaren Habe (Kleidung, Wörterbücher, Schreibmaschine usw.) Anfang März 1945 gelegentlich einer Dienstreise im Auftrag der Lagerleitung nach Thüringen mitgenommen hatte, abholen. Diesen meinen Versuch habe ich mit 8½monatiger Sklaverei bei Časlau und im Kloster Emaus in Prag, mit Herzfehler, Hunger und Arbeitsunfähigkeit Klasse VII bezahlt.