Nr. 31: Evakuierung der Gemeinde Heidendorf; Flucht der zur Bewachung des Orts zurückgelassenen „Sicherheitsgruppe” bei Heranrücken der Front; Betreuung der Flüchtlinge im Kreis Nikolsburg und zweite Flucht nach Oberbayern.

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Erlebnisbericht des Kreisnotärs Thomas Henning aus Heidendorf, Plasa Şieu (Großschogen), Judeţ Năsăud (Naßod) in Nord-Siebenbürgen.

Original, 7. Februar 1956, 5 Seiten, mschr.

Als am 24. August 1944 die rumänische Armee kapitulierte und Rumänien sich mit Rußland verbündete, konnten die Grenzen Siebenbürgens nicht mehr verteidigt werden. Um nicht unter kommunistische Herrschaft zu gelangen, wurde die Evakuierung Nordsiebenbürgens, welcher Teil damals zu Ungarn gehört, verfügt. Gleich nach der Kapitulation wurde mit der Vorbereitung begonnen. Von nun an erfolgten alle diesbezüglichen Anordnungen nach einem gut durchdachten Evakuierungsplan. Die Evakuierung sollte mit Eisenbahn, Trecks und mit Hilfe militärischer Einheiten erfolgen. Die Trecks wurden zusammengestellt, ihre Führer bestimmt, es wurden Weisungen betreffend das mitzunehmende Gepäck, das Verhalten während der Fahrt usw. erteilt. Gleichzeitig wurde auch für die Sicherstellung der öffentlichen Ordnung bis zum Abschluß der Evakuierung Sorge getragen. Eine an die Ortsleitungen erfolgte Weisung verfügte im wesentlichen folgendes: Die Ortsleiter sollten 30—40 junge Männer zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung bis zum Abschluß der Evakuierung zurückhalten. Diese Gruppe sollte bewaffnet werden und vor allem die zurückgebliebenen Sachsen vor Übergriffen schützen und in jeder Beziehung die Ordnung sicherstellen, so, als erfolge die Evakuierung nur auf kurze


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Zeit. Zu gleicher Zeit wurde auch von den Staatsbehörden die Evakuierung der Ortsbehörden und die Verlegung in einen Ort in Transdanubien verfügt mit dem ausdrücklichen Vermerk, daß der Notar die Gemeinde nur auf ausdrücklichen Befehl verlassen dürfe. Dieser Befehl hat mich nicht erreicht.

Inzwischen nahmen die im Rückzug begriffenen Kolonnen der deutschen Wehrmacht sowie die Flüchtlingsmassen aus Südsiebenbürgen und aus den Grenzgebieten Nordsiebenbürgens ständig zu. Die Stadt Bistritz und die umliegenden Gemeinden wurden zu einem unübersehbaren Heeres- und Flüchtlingslager. Auch die Front rückte immer näher, und am 11. September 1944 begannen auch die schon längere Zeit in Heidendorf stationierten Etappeneinheiten den Rückzug anzutreten. Mit einer dieser Einheiten verließen auch die ersten Frauen Heidendorf in westlicher Richtung ohne genaue Zielsetzung, mit ihnen auch meine Frau. Zu gleicher Zeit wurden auch die Frauen mit kleinen Kindern, die Kranken und Alten mit Eisenbahn nach Westen abgeschoben. Kurze Zeit darauf verließ auch die Masse der sächsischen Einwohner die Gemeinde in einem Treck mit vollbeladenen Wägen und in vielen Fällen mit einer Milchkuh hinten am Wagen angebunden1. Vorher hatten wir den ganzen Viehbestand von Haus zu Haus zusammengeschrieben und der Deutscheu Wehrmacht gegen Bestätigung übergeben. Die zurückbleibende Bevölkerung ohne Unterschied der Volkszugehörigkeit durfte ihr Vieh behalten. Einige Bauern hatten in ihre Wohnungen Rumänen als Treuhänder einziehen lassen. Mit diesem Treck verließ auch der Großteil der Sicherheitsgruppe die Gemeinde, und nach einigen Tagen, aus Sehnsucht und Sorge um ihre Familien, verließen mich bis auf 4 junge Männer alle übrigen. Bis zu diesem Zeitpunkte hatten die Männer der Sicherheitsgruppe in ihren Häusern gewohnt, und nur der diensttuende Teil hielt sich in der Notärskanzlei auf, wo wir unser Hauptquartier aufgeschlagen hatten. Nun konzentrierten wir uns im Gemeindehaus und hielten ständigen Bereitschaftsdienst. In ein nahe gelegenes Haus hatte sich der Kanzleidiener einquartiert, wo wir uns eine Gemeinschaftsküche einrichteten. Die Frau des Kanzleidieners war Rumänin. Sie versah den Dienst der Köchin. Die notwendigen Lebensmittel und Zutaten lieferten wir aus unseren eigenen Beständen.

Die restlose Durchführung unseres Auftrages stieß von Tag zu Tag auf größere Schwierigkeiten. Die im Rückzüge befindlichen Truppen hatten zwar den Befehl, eigenmächtig keine Quartiere zu beziehen, sondern nur auf Anweisung der Stadtkommandantur von Bistritz und im Einvernehmen mit der Ortsleitung. Es wiederholten sich auch immer mehr Fälle von Plünderungen und Belästigungen der zurückgebliebenen Bevölkerung. Es schien, als ständen wir auf verlorenem Posten und wären nunmehr überflüssig. Be-


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vor wir uns endgültig zum Verlassen der Gemeinde entschlossen, wandte ich mich noch einmal an die Stadtkommandantur in Bistritz um Abhilfe. Ein uns zur Verfügung gestellter Unteroffizier der Feldgendarmerie genügte, die Ordnung wieder herzustellen, eigenmächtige Einquartierungen, Plünderungen usw. einzustellen. Mit Hilfe dieses Unteroffiziers konnten wir die Ruhe und Ordnung bis zum letzten Tage aufrechterhalten. Die Autorität und die Machtbefugnisse eines Feldgendarmen lassen sich am besten ermessen, wenn ich einige Begebenheiten anführe. Eines Tages hatte sich eine Gruppe Soldaten in ein Haus eigenmächtig einquartiert und die noch dort wohnenden Hauseigentümer in einen Nebenraum verdrängt. Auf die Beschwerde des Eigentümers wurde die Gruppe sofort in Marsch gesetzt, und sie mußte die Gemeinde verlassen. Ein andermal hatte eine Einheit slowakischer Soldaten zu plündern begonnen. Der Unteroffizier ließ die ganze Einheit mit ihren Offizeren antreten, nahm die Meldung entgegen und ließ einen strengen Befehl verdolmetschen. Diese Einheit blieb noch einige Zeit im Ort, aber Ausschreitungen blieben aus. Eine andere Begebenheit: Ein Offizier derselben Einheit hatte die ungarische Staatsschullehrerin auf der Straße belästigt. Er wurde in die Notärskanzlei zitiert und mußte die Lehrerin öffentlich um Verzeihung bitten.

Bis zur Evakuierung hatten einige Bauern an die Gruppen Gemüse. Obst und Trauben geliefert. Nach der Evakuierung wurde die Nachfrage noch größer. Die Ernte dieser Produkte hatte noch nicht stattgefunden, alles befand sich noch draußen am Felde. Die Lieferung dieser Erzeugnisse übernahm nun unsere kleine Gruppe. Ein aus Rumänen und Zigeunern zusammengestelltes Arbeitskommando mußte das Gemüse vom Felde sammeln, Obst klauben und Trauben lesen, wovon wir dann die Anforderungen der Truppen befriedigten. Alles wurde nach dem geltenden Tarif in Pengö bezahlt. Das Geschäft hatte über 20 000 Pengö eingetragen, welcher Betrag später unter den Heidendorfern familienweise aufgeteilt wurde.

In der Nacht vom 9. zum 10. Oktober 1944 hatte eine schon längere Zeit in Heidendorf kantonierende Feldküche einer Fronteinheit den Ort verlassen, was uns veranìaßte, am 11. Oktober in der Früh unser Hauptquartier abzubrechen und uns mit unseren bereitgestellten Fahrrädern nach Westen auf den Spuren des vorangegangenen Trecks abzusetzen1. Die Notärskanzlei übergab ich dem sächsischen Kanzleidiener, der die Gemeinde nicht verlassen wollte, weil seine Frau eine Rumänin war. Die zurückbleibende Bevölkerung, einschließlich Rumänen und Zigeuner hatte sich vor der Notärskanzlei zum Abschiede eingefunden. Man wünschte sich gegenseitig Glück für die weitere Zukunft und verabschiedete sich von der Heimat, schon damals ahnend, daß es ein Abschied für immer sein wird. Die Front war sehr nahe gerückt, die feindliche Artillerie beschoß über die Gemeinde


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die dahinter ausgebauten Infanteriestellungen, obwohl die nicht besetzt waren. In großer Eile fuhren wir in Richtung Dés (Dej). Dies war unser Tagesziel, jedoch stand die Stadt schon unter Artilleriefeuer, weshalb wir Richtung Szatmár weiterfuhren.

Die Fahrt wurde mit kleinen Unterbrechungen schleunigst fortgesetzt, weil man befürchten konnte, von Süden her vom Feinde abgeschnitten zu werden. Unsere Marschrichtung war ursprünglich Debrecen—Szolnok—Budapest, mußten sie aber abändern und Richtung Tokaj einschlagen, v/eil inzwischen Debrecen, vielleicht auch schon Szolnok vom Feinde besetzt war. Am 15. Oktober übersetzten wir bei Tokaj die Theiß und fuhren dann weiter Richtung Budapest. Hier sollte ich mich mit meiner Frau treffen, doch erfuhr ich, daß sie schon vor Tagen Budapest in westlicher Richtung verlassen hatte. Wir fuhren, ohne Aufenthalt in Budapest, über die Donau und kamen spät in der Nacht in Budaörs an. Hier hielten wir den ersten Rasttag und setzten dann die Fahrt Richtung Ödenburg fort. Am 25. oder 26. Oktober erreichten wir den Heidendorfer Treck unweit von Ödenburg in einer Gemeinde. Hier erfuhr ich, daß meine Frau in Steinamanger sei. Ich fuhr nach Steinamanger. Meine Frau war aber am Vortage nach einem schweren Bombenangriff auf die Stadt nach Vasvâr gefahren, wo sich die Bistritzer Riemereinigungl befand und welchem sich meine Frau angeschlossen hatte. Von hier ging es dann nach Ödenburg und anschließend in die Gemeinde Wandorf neben Ödenburg. Hier blieben wir bis zum 8. Januar 1945, um dann in der oberbayerischen Marktgemeinde Wartenberg angesiedelt zu werden.

Kaum hatten wir uns in Wartenberg niedergelassen, bekam ich den Auftrag, die Betreuung der im Kreise Nikolsburg (damals Niederösterreich) angesiedelten Flüchtlinge zu übernehmen. Ende Januar 1945 fuhr ich über München—Wien nach Nikolsburg und übernahm den mir zugewiesenen Dienst. Inzwischen waren hier mehrere Gemeinden aus dem Nösnergau — unter anderen auch Heidendorf und Baierdorf aus meinem früheren Kreisnotariat — angesiedelt worden. Hier erfuhr ich nun Näheres über den Ablauf der bisherigen Wanderung. Die ganze Fahrt war ohne besondere Zwischenfälle in bester Ordnung abgelaufen. Der Kreis Nikolsburg wurde als Endziel und als letzte Station im Zuge der Evakuierung angesehen, woher nach Kriegsende wieder alles in die Heimat zurückkehren sollte. Es galt nun, die Unterkünfte für Menschen und Tiere befriedigend sicherzustellen, den Berechtigten in den Genuß ihrer Unterstützungen zu verhelfen, ihnen die Lebensmittelkarten und Bezugscheine für Kleidungsstücke zu verschaffen. Alle Schwierigkeiten konnten mit Hilfe der Kreis- und Ortsbehörden überwunden und die Probleme zufriedenstellend gelöst werden. Die arbeitsfähigen Männer und Frauen wurden in den Arbeitsprozeß eingebaut. In der Landwirtschaft und im Weinbau fanden unsere Bauern eine zufriedenstellende Arbeit, und hierdurch begann sich das anfangs oft gespannte Verhältnis zwischen Gastgeber und Flüchtling zu normalisieren.


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Es kam auch diesmal anders als man dachte und plante. Die Front rückte immer näher, der Krieg ging seinem tragischen Ende entgegen. Zum zweitenmal mußten wir das Feld räumen. Einige Gebiete des Kreises mußten schon Anfang April geräumt werden. Oft verließen die Leute ihren Wohnort nur, als der Feind in greifbarer Nähe war. Am 23. April verließen die Kreisbehörden Nikolsburg und mit ihnen auch ich. Am nächsten Tage rückten die Russen in die Stadt ein. Knapp hinter der Front, im Artillerie-Bereich des Feindes, nahmen wir Aufenthalt, wo wir bis zur Kapitulation ausharrten und fortwährend die Evakuierung der hinter der Front liegenden Dörfer betrieben. Am 8. Mai erfolgte die Kapitulation, und was nachher geschah, war eine Flucht im wahren Sinne des Wortes, viel tragischer und nicht zu vergleichen mit der geordneten Evakuierung aus der Heimat. Wehrmacht und Flüchtlinge zogen in endlosen Kolonnen gegen Westen, alle bestrebt, die amerikanische Linie zu erreichen, um nicht in russische Gefangenschaft zu geraten. Es gab Stockungen, gegenseitige Beschimpfungen; die Ordnung hatte sich aufgelöst. Nach einigen Tagen hatten uns die Russen überholt. Die Wehrmacht mußte kehrtmachen und in russische Gefangenschaft gegen. Auch ein Teil der Flüchtlinge machte kehrt, um nun nach Kriegsende in die Heimat zurückzukehren. Ich marschierte weiter nach Westen, nun zu Fuß, nachdem die Russen mir das Fahrrad abgenommen hatten. Auf der Linie Kaplitz-Freistadt erreichte ich die amerikanische Linie und marschierte von dort weiter über Passau bis nach Wartenberg, wo ich am 26. Mai ausgehungert und krank ankam. Vom 8. Mai bis zu meiner Ankunft in Wartenberg gab es außer Kartoffel und wenig trockenem Brot nichts zu essen.

Der Bericht schließt mit kurzen Bemerkungen zum Schicksal der Gemeindemitglieder und der eigenen Familie in den Nachkriegsjahren.


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