Nr. 33: Evakuierung der Gemeinde Scheindorf; Treck nach Altmünster in Oberösterreich.

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Erlebnisbericht des Pfarrers Stefan Brendli aus Scheindorf (Sâi), Plasa Arded (Erdöd), Jndeţ Satu-Mare im Sathmar-Gebiet.

Original, 13. April 1956, 8 Seiten, hschr., Teilabdruck.

In den einleitenden Abschnitten schildert der Vf. die zunehmende Beunruhigung der allgemeinen Lage im Sommer 1944, die sich im verstärkten Durchzug deutscher Truppen und in den Bombenangriffen auf die Stadt Sathmar bemerkbar machte.

Gegen Ende des Monats September kamen kilometerlange Wagenkolonnen durch das Dorf mit Ochsen- und Pferdegespannen. Es waren die evakuierten Sachsen aus der Gegend von Bistritz und Sächsisch-Regen. Als unsere Leute mit dem Heu, das diese für ihre Zugtiere verlangten, recht geizen konnten, prophezeiten uns die Sachsen ihr eigenes Los. Es dauerte dann auch nur mehr zwei Wochen, bis es so weit war.

Am 9. Oktober kam die Anordnung, daß Scheindorf am anderen Tag, zusammen mit der Nachbargemeinde Hamroth und anderen schwäbischen Gemeinden, evakuiert werden soll. Die Leute waren auf den Feldern, in den Weingärten und im nahen Wald, als kurz vor Mittag weinende Frauen und Mädchen aus dem Dorf in alle Richtungen liefen, um die Nachricht allen mitzuteilen. Ich kam gerade mit dem Kirchenvater auf dessen Fuhrwerk aus dem Wald, als sich uns vor dem Dorf dieses Bild bot. Im Dorf sah es aus wie bei einem aufgewühlten Ameisenhaufen. Wir konnten ja schon lange mit diesem Schlag rechnen, aber jetzt, da es Wirklichkeit werden sollte, war alles fassungslos und aufs äußerste bestürzt. Überall auf der langen Dorfgasse waren heftige Debatten, ein Hin und Her von Überlegen und Raten. Man konnte sich dem Schicksal nicht gleich ohne Widerrede beugen.

In der Nacht auf den 10. Oktober schloß niemand in der Gemeinde seine Augen zum Schlaf. Nach Mitternacht kamen noch Leute in die Kirche zum


168

Beichten. In der Morgenmesse um 7 Uhr war Weinen und Schluchzen das Gebet der Gläubigen. Im Schlußgebet verabschiedete ich die Leute von Haus und Hof, von Kirche und Schule, von Acker und Weingarten, von Wiese und Wald. Danach spielte Lehrer Martin Gyetho noch lange die Orgel, es sollte ja das letzte Mal sein. Unter Tränen drückte er mir nachher die Hand. Der gute alte Meßner ließ einen schmerzlichen Seufzer mit den Worten: „Des ischt doch a schwere Sach.” Audi ihm rollten die Tränen über die Wangen.

Um 11 Uhr herum drängten beauftragte Soldaten zum Aufbruch. Aber niemand wollte aus dem Hof fahren, wenn auch die Ochsen-, Kuh- und Pferdegespanne zur Abfahrt bereit vor dem Hause standen. Zuletzt mußten die Soldaten drohen. Endlich fuhr der erste Wagen heraus, und die anderen kamen zögernd und noch immer überlegend nach. Man redete ihnen zu, in zwei Wochen wären sie wieder daheim, und dann würde alles schöner werden. Solche Dinge glaubte aber niemand mehr. Bei der Kirche machten sie noch ein Kreuzzeichen und hoben ihren Hut. Manche eilten noch schnell in die Kirche, einige holten sich dabei auch Weihwasser. Allmählich leerte sich das Dorf, zuletzt fuhr ein Pferdewagen mit Kirchensachen, dem Wallfahrtskreuz und der hl. Mutter-Anna-Statue aus dem Hof.

Nun ertönten auch die Glocken vom Turm. Sie verkündeten der Welt das Unglück dieses schwäbischen Dorfes inmitten anderer Nationen. Sie klagten und weinten zusammen mit dem Volk. Dann fing es auch an, sanft zu regnen. Auch der Himmel weinte. Eine Stunde lang läutete man die Glocken. Inzwischen sah ich mit zwei Soldaten dem Zuge vom Turm aus nach. Die zwei Soldaten konnten die Tränen auch nicht zurückhalten. Die Wagenkolonne entfernte sich immer mehr vom Dorf. Aber es schien, als wenn sie immer wieder stehen blieben und sich umdrehten. Als wenn sie wieder und wieder zum letztenmal ihr Dorf, ihr Haus, ihre Äcker anschauen wollten. Wer weiß, ob sie sie nochmals sehen werden!

Nach einigen Reflexionen über die Zukunftsaussichten fährt der Vf. fort:

Ich blieb noch im Dorf zurück. Am anderen Tag verließen auch die letzten Soldaten das Dorf. Die lange Gasse war wie ausgestorben. Paar Stunden vorher noch das größte Gewimmel in jedem Haus und Hof, und nun plötzlich diese Totenstille. Es verwirrte einem die Sinne, es wirkte unheimlich, wie wenn ein kerngesunder Mensch plötzlich stirbt. Nach zwei Tagen fuhr ich ihnen nach und fand sie westlich von Karol. Allmählich fanden sie sich in ihrem Flüchtlingslos zurecht. Sicher trug auch das dazu bei, daß es ein herrlich-sonniger Herbsttag war.

Ich wandte mich dann noch einmal der Heimat zu. Es war gewagt, aber ich erreichte Scheindorf. Nun war auch kein Tier mehr im Dorf. Die Soldaten holten sich den Rest, indem sie alles Lebende niederschössen. Am Rande des Dorfes und im neuen rumänischen Teil blieben einige national gemischte Ehen zurück. Das Plündern der schwäbischen Bauernhäuser ging im Stillen vor sich. Auch im Pfarrhaus war die Türe schon eingebrochen1.


169

Am anderen Tag konnte ich nur mehr mit Mühe auf Militärfahrzeugen nach Sathmar gelangen.

Inzwischen bewegte sich der Wagentreck der Gemeinde Scheindorf langsam nach Westen voran. Sie hatten ja hauptsächlich Ochsen- und Kuhgespanne, und die Pferde mußten sich auch diesem Tempo anpassen. Über Szatmárnémeti (Sathmar), Nagykároly (Karol), Nyirbátor, Nagykálló, Nyiregyháza, Polgár, Poroszló, Heves, Jászberény, Rákoskeresztúr, Budapest kamen sie am 28. Oktober in Budaörs an. Den etwa 400 km langen Weg legten sie in 18 Tagen zurück. Hier konnten sie endlich erleichtert aufatmen. Bisher mußten sie immer Angst haben, daß die Front sie erreicht. Bei Poroszló tobte in 4 km Entfernung eine Schlacht, als sie da gerade durchführen.

In Budaörs, wo sie auch mit Landsleuten aus anderen Dörfern zusammentrafen, verbreitete sich die Nachricht, daß es über die Grenze nach Deutschland geht. Die Russen kamen nämlich unaufhaltsam näher. Zuerst dachte man noch, in Westungarn bleiben zu können. Wer wollte, konnte sich auf den Zug verladen lassen. Das taten viele, die Kühe und Ochsen eingespannt hatten. Das Gespann übernahm das Militär. Zum Trost übergab man ihnen eine Bestätigung davon. Die hier auf dem Zug saßen, kamen nach Thüringen.

Das Volk nahm von daheim so viel mit, wie es eben auf einen oder zwei Leiterwägen aufladen konnte. Manche schlachteten über Nacht noch ein Mastschwein. Besonders brachte man die Kleider und das Bettzeug auch mit. Sodann Küchengeräte, Werkzeuge, einige sogar die Nähmaschine u. a. m. Vor allem aber die nötigen Nahrungsmittel. Darin hatten sie auch keine Not, besonders auch, weil von Budaörs an vom Militär für die Flüchtlinge gut gesorgt wurde. Immer wieder kamen sie zu einer Feldküche, die sie mit warmer Speise versah und Haltbares auf die Weiterreise mitgab. Bis zur Grenze führte der Weg der Wagenkolonne über Bia, Bicske, Kisbér, Veszprémvarsány, Tét, Rábacsának, Csapód, Nagyczenk, Kópháza und Sopron (Ödenburg). In Kópháza mußten alle Wägen mit Rind abgegeben werden. Nur die Pferdewägen durften über die Grenze. Auch wechselten hier die Leute ihre ungarischen Pengö in deutsche Mark. Es ging nun nach Österreich.

287 Stück Rindvieh rückten mit den Leuten aus dem Dorf. Vor der Grenze gaben sie auch das letzte Stück davon aus der Hand. Die 136 Pferde behielten sie alle bis zum Endziel, das nach einer Zwischenstation in Enns bei Linz, Altmünster am Traunsee im Salzkammergut war. Von Budaörs bis Sopron mit etwa 250 km brauchten sie 13 Tage. Die 300 km bis Altmünster legten sie in weiteren 13 Tagen zurück. Die Pferdewagen kamen am 26. November in Altmünster an. Man war froh, nach anderthalb Monaten endlich richtig ausspannen zu können.

Bei der Evakuierung hatte die Gemeinde Scheindorf 945 Seelen. Davon waren 171 Personen auswärts in Arbeit. Sodann waren 115 beim Militär. Am 10. Oktober waren also 774 Seelen in der Kirchengemeinde anwesend. 692 verließen davon gemeinsam das Dorf. 69 blieben im Ort (20 Zigeuner), 13 begaben sich in andere Ortschaften des Landes. Von den 692 Personen gingen unterwegs durch Zurückbleiben zwei verloren, 5 starben (2 Kinder).


170

214 kamen nach Thüringen und nach dem Zusammenbruch wieder nach Scheindorf. 471 waren also in Altmünster, wozu die unterwegs geborenen 7 Kinder noch kamen.

Der Bericht schließt mit kurzen Angaben zum Schicksal der Scheindorfer nach Kriegsende.