Nr. 38: Die Ereignisse nach der rumänischen Kapitulation in Gertianosch; Vorstoß deutscher Truppen und Evakuierung der deutschen Bevölkerung von Gertianosch; Treck bis Rudolfsgnad im serbischen Banat, dann weiter durch West-Ungarn nach Niederösterreich.

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Erlebnisbericht der Frau Berta Ludwig aus Temeschburg (Timişoara), Judeţ Timìs-Torontal im Banat.

Original, 15. Juni 1956, 17 Seiten, mschr. Teilabdruck.

Die Vfn. berichtet zunächst, daß sie — selbst gebürtige Siebenbürgerin, doch mit einem Banater Deutschen verheiratet — auf Grund der zunehmenden Fliegerangriffe auf Temeschburg schon im Juni 1944 zu Bekannten, einem Militärkameraden ihres Bruders, nach Gertianosch gezogen sei, wo sie und ihre Schwester mit ihren fünf Kindern freundliche Aufnahme fanden. Die Gemeinde Gertianosch habe damals 3000, zumeist schwäbische (deutsche) Einwohner gehabt.

Hier in Gertiauosch erlebten wir den 23. August 1944. Die Kunde von der rumänischen Kapitulation lief am Abend des 23. August durch die ganze Gemeinde, bewirkte allgemeine Bestürzung und im ersten Augenblick panischen Schrecken. Den führenden deutschen Männern drohte Verhaftung, einige glaubten, sich sofort verstecken zu müssen und verließen im Morgengrauen des 24. August das Dorf. Sie hielten sich in den folgenden Tagen in den Feldern verborgen, wohin ihnen die Angehörigen heimlich das Essen brachten. Kein einziger konnte daher von den rumänischen Behörden dingfest gemacht werden.

Jeder einzelne versuchte sein bewegliches Hab und Gut auf eine Weise zu schützen und zu verstecken, noch vor dem Einmarsch der Russenarmee. In geschützten, unscheinbaren Hausecken wurden besonders wichtige Dinge eingemauert, um sie womöglich nachher wieder herauszuholen, weil man für sie ein besseres Versteck entdeckte. Geschirr, sogar Bettsachen und Kleider wurden in Kisten im Garten vergraben und die neuaufgeworfene Erde mit einem Misthaufen getarnt. Es wurden Verstecke im Kamin und unter dem Bretterboden des Dachbodens ausfindig gemacht, und der Radioapparat wurde im Backofen hinter Stroh verborgen. Selbst Lebensmittel versuchte man sich für eine vorübergehende Notzeit zu sichern, denn an eine Flucht


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dachte man da noch nicht. Nach dem ersten Schrecken, in dem man oft kopflos hin und her seine Habseligkeiten verstaute, befiel es uns dann nachher wie eine fürchterliche Lähmung. Die sonst so emsigen Leute fingen keine neue Arbeit mehr an, standen herum und berieten. Einige Tage hindurch lebten wir zwischen Hangen und Bangen und wußten nicht, was nun mit uns geschehen werde. Wir waren auf das Schrecklichste gefaßt. Da ließ die Gendarmerie austrommeln, daß alle Fahrräder abgeliefert werden müßten. Sie wurden von Haus zu Haus eingesammelt und auf einen großen Streifwagen mit Gummirädern einfach draufgeworfen. Mancher stand in machtloser Wut dabei, weil man mit seinem bisher gepflegten Hab und Gut so umging. Auch ging manchmal zweimal am Tag der Gendarmeriediener mit seiner Trommel durch das Dorf, und man wartete mit Bangen, was der neue Trommelwirbel einem an Unannehmlichkeiten und Schrecken bringen wird. So kamen Waffen, Nähmaschinen, Rundfunkempfänger u. a. zur Abgabe. Außerdem mußten wir Deutschen aus Temeschburg uns bei unserem zuständigen Polizeikommissariat in Temeschburg in alphabetischer Reihenfolge melden, um einen Schein entgegenzunehmen, der uns als rumänische Staatsbürger deutscher Volkszugehörigkeit legitimierte. Ferner stand darauf, daß wir uns binnen zwei Stunden zu melden hätten, falls wir aufgefordert würden. So mußte ich mich einige Male bei der Gendarmerie in Gertianosch melden. Weshalb und warum, war eigentlich nicht festzustellen. Die Gendarmerie verhielt sich im allgemeinen korrekt; mir ist kein Fall von Mißhandlungen bekannt. Lediglich ein „Kommissar”, von dem man behauptete, er sei ein Russe, gebärdete sich gehässig und machte Anspielungen auf unsere Männer, die — wie bekannt — zur Waffen-SS eingezogen waren.

Im übrigen nahm das Leben in der Stadt seinen gewohnten Lauf. Die Deutschen zogen sich mit ihrer Furcht vor dem Kommenden in ihre Wohnungen zurück, und auf den Straßen pulsierte das fremde Leben. Es lag nicht der Alpdruck über dem Ort, wie in der fast rein deutschen Gemeinde Gertianosch, wo man über die Lage der Dinge auf der offenen Straße sprach. Einige waren sogar der Ansicht, daß man in der Stadt geschützter sei beim Einbruch der Russenarmee als auf dem deutschen Dorf, und so waren wir im Zweifel, was wir tun sollten.

In den Straßen der Stadt sowie auf der Eisenbahn war man, gegen seine sonstigen Gewohnheiten, gezwungen, möglichst schäbig und unauffällig zu erscheinen, um nicht als Deutsche sofort erkannt und von fremden Elementen angepöbelt zu werden. Als ich das letzte Mal in Temeschburg war, um nach unserem Haus und meinen zum Teil eingemauerten Sachen zu sehen, erklärte mir mein ungarisches Dienstmädchen (die schwäbischen Mädchen mußten nach dem ersten Fliegerangriff auf Temeschburg fast ausnahmslos nach Hause), was sie sich mit ihren Freunden alles holen wird, wenn mal die Russen da sein werden. Ich erlebte es nicht, denn ich entließ sie rasch, schon aus Angst vor ihren Pöbelfreunden. Auch kam ich nicht mehr in die Stadt hinein, denn je näher die Russen heranrückten, um so schwerer war es, mit den selten und unregelmäßig fahrenden Zügen mitzukommen. Knapp vor unserer Flucht war das Fahren ganz eingestellt worden.

In der Nähe von Temeschburg befand sich ein Lager mit etwa 2000 ge-


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fangenen Russen. Diese wurden nach der Kapitulation freigelassen und streiften in der Gegend umher und belästigten mit Vorliebe jüngere weibliche Wesen. Die Gendarmerie verhielt sich in solchen Fällen reserviert und griff nur selten durch. Andererseits war zu beobachten, daß die rumänischen Behörden sich gegenüber der deutschen Bevölkerung korrekter verhielten, weil sie offenbar mit der Möglichkeit eines deutschen Vorstoßes nach Rumänien rechneten. Ein Rumäne verbreitete die Kunde, daß am 12. September die Rote Armee bereits in Siebenbürgen eingedrungen sei und sich im Anmarsch auf uns befinde. Derselbe Rumäne erzählte auch, daß im serbischen Banat und an der Grenze gegen Ungarn deutsche Truppen im Aufmarsch begriffen seien und möglicherweise noch vor den Russen da sein würden. Diese Nachricht gab uns wieder neue Hoffnung. Wir warteten mit gepackten Koffern auf die Befreiung, denn man sprach auch davon, eventuell vorübergehend zu flüchten, bis die Kampfhandlungen vorbei sind. Daß vom Westen etwas bevorstand, wurde auch durch das Verhalten der Gendarmerie und kleineren rumänischen Truppeneinheiten sichtbar: Die Rumänen bezogen westlich und südlich von Gertianosch Stellung, wobei sie starke Nervosität zeigten. Inzwischen hörte man, daß die Vorhut der Roten Armee in Temeschburg eingetroffen sei, und einige Flüchtlinge kamen über Gertianosch, die Kinder barfuß vom Spiel weg, um weiter westlich der roten Walze zu entfliehen. Die Nervosität und Angst wuchs nun auch auf unserer Seite stündlich, kaum die notwendigste Arbeit wurde noch verrichtet.

In der Nacht vom 16. auf den 17. September war es dann plötzlich so weit: Wir hörten Schüsse und Lärm und konnten feststellen, daß die rumänischen Soldaten sich fluchtartig zurückzogen *. Kurze Zeit darauf waren deutsche Truppen im Ort. Am 17. September, 6 Uhr morgens, wurde verlautbart, daß die deutsche Bevölkerung evakuiert werde und daß jedermann sich bereithalten solle. Wer ein Fahrzeug besitze (Pferdefuhrwerk und Traktor) möge seine bewegliche Habe darauf verladen, und jene Volksgenossen, die keine Fahrzeuge besäßen, solle man mitnehmen. Der Abfahrtstermin wurde für 8 Uhr festgesetzt.

Da also nur zwei Stunden zur Verfügung standen, vollzog sich der Aufbruch mit größter Überstürzung, obwohl man Tage vorher schon von der Möglichkeit sprach. In heftigen Diskussionen wurde die Frage erörtert, ob man dem Evakuierungsbefehl Folge leisten soll oder nicht. Etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung entschloß sich zur Flucht, die anderen blieben mit dem Hinweis darauf, daß sie ihr Vieh und ihre Höfe nicht im Stich lassen könnten, zurück. Außerdem gaben sie sich der Hoffnung hin, daß die deutschen Truppen die Russen zurückschlagen würden.

Ich entschloß mich schweren Herzens für die Flucht. Der Stabsführer der Deutschen Volksgruppe in Rumänien, Andreas Rührig, der mit den deutschen Truppen kam und sich einige Stunden in Gertianosch aufhielt, sagte, es sei mit den vorhandenen deutschen Truppen unmöglich, die Russen aufzuhalten. Er versuchte auch die halsstarrigen Besserwisser von der Notwendigkeit der Evakuierung zu überzeugen, hatte aber nur geringen Erfolg.


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Daß es mir möglich war, mit meinen Kindern zu flüchten, habe ich dem Militärkameraden meines Bruders, einem aufrechten Bauern, und dessen Frau zu verdanken. Er hatte sich bei seiner Sippe schwer durchgesetzt, daß die beiden Schwestern seines gewesenen Leutnants mit ihren 5 kleinen Kindern bei ihnen mitgenommen werden. Es war für sie eine große Last, die sie sich aufbürdeten, die wir aber zu schätzen wußten und die wir ihnen nie vergessen werden. Durch den Wegfall des Traktors war leider sehr wenig Platz auf den übriggebliebenen Wagen für die große Sippe, und wir mußten froh sein, nur mit dem allernotwendigsten Gepäck Unterschlupf gefunden zu haben. In der letzten Minute lief ich noch herum und bat, ob nicht jemand mir noch etwas von meinen fertig gepackten Koffern und den bereitstehenden Lebensmitteln mitnehmen könnte. Vergebens, jeder sah, daß er nur möglichst viel von sich mitnahm, man konnte nicht wissen. Viele versprachen, uns unterwegs mit Essen auszuhelfen, aber als sie sahen, daß es von Tag zu Tag schwerer wurde, rückte niemand mehr mit Lebensmitteln heraus. Und bei uns ging es beim besten Willen nicht, waren die Wagen schon unheimlich hoch beladen, so daß wir Städterinnen schon Angst hatten und zur Entlastung der Pferde weite Strecken abwechselnd nebenhergingen. Daß wir so ganz ohne Lebensmittel waren, mußten wir auf dem ganzen Weg bitter fühlen, denn wir litten viel unter großem Hunger, während die Bauern unheimliche Lebensmittelvorräte, neben den wichtigen von Mehl, Brot, Fett und Fleisch sogar Wein und Schnaps, mithatten. Wir waren oft verzagt und verbittert, aber in dem Durcheinander war sich halt jeder selbst der Nächste.

Gegen ½9 Uhr sammelten sich viele Pferdefuhrwerke und einige Traktoren, jeder mit mehreren Wagen angehängt, am Ortsausgang. Eine Anzahl von Traktoren mit Wagen mußten dem deutschen Militär zur Verfügung gestellt werden und fielen anfangs so für den Treck aus. Dies brachte einige Umwälzungen im Packen mit sich. Auch einige wehrfähige Männer und Jünglinge blieben mit den Fahrzeugen zurück. Unsere Fahrzeuge setzten sich dann gruppenweise in Bewegung. Von einer wirklichen Organisation war kaum etwas zu sehen. Der Abzug erfolgte fluchtartig und unter panischen Begleiterscheinungen. Niemand vermochte in den Treck eine klare Ordnung zu bringen, man hörte fluchen, weinen und sah lauter verstörte Gesichter.

17. September: Wir fuhren in Richtung Hatzfeld. Uns entgegen kamen mitunter kleinere deutsche Einheiten. Von einem größeren Aufmarsch war nichts zu sehen. Plötzlich wurden wir von motorisierten deutschen Einheiten überholt, die mit enormer Staubentwicklung an uns vorbeijagten, so daß fast alle Pferde scheuten. Es verbreitete sich das Gerücht, die Russen seien dicht hinter uns, wir seien verloren. Es hieß: „Alle Waffen wegwerfen!” Hier und da hatte ein alter Ota (Großvater) oder schmächtiger Jüngling eine alte Büchse quer über die Brust hängen, zu unserem Schutz gegen die Partisanen. Auch sämtliche Dokumente sollten vernichtet werden. Von wo dieser unsinnige Befehl ausgegangen ist, weiß ich nicht, jedenfalls zerrissen die meisten aus unserer Gruppe jene Dokumente, die sie als Deutsche auswiesen, hauptsächlich ihre Mitgliedskarten, und warfen sie samt den Waffen in die Maisfelder. Einige Zeit warteten wir, von Ängsten gepeinigt, auf das


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Eintreffen der Russen, aber diese kamen nicht. Schließlich stellten wir fest, daß wir einem Irrtum zum Opfer gefallen waren. Wir zogen durch Hatzfeld, wo wir uns nur kurz aufhielten, und dann der serbischen Grenze zu. Der erste Ort auf serbischem Boden war Serbisch-Zerne, dann Deutsch-Zerne1. Ankunft ½1 Uhr mittags, erst gegen 5 Uhr Quartier bekommen. Hier konnte unser Treck etwas durchorganisiert werden. Es wurde uns empfohlen, sippenweise zu ziehen und Treckführer zu ernennen, die für das Zusammenbleiben verantwortlich seien. Anfangs befanden sich auch Kühe im Zug, die aber nach und nach freigelassen wurden, da sie beim Weitermarsch hinderten und die Futterbeschaffung beschwerlich war. Wieder wurden einige mit Gewehren bewaffnet, da man uns vor den serbischen Partisanen warnte.

18. September: Weiterfahrt über Vojvoda Stepa, Neu-Zerne, Ungarisch-Zerne, Aleksandrovo, Banatsko-Karadjordjevo, Csösztelek nach St. Georgen an der Begabrücke. Hier bekamen wir bei einem freundlichen Serben Quartier, und unser guter Bauer mußte auch zurück nach Gertianosch zum Heimatschutz.

In Csösztelek blieb ein Teil unserer Leute mit ihren Fuhrwerken zurück, teils um zurückzukehren, oder wenigstens abzuwarten, ob man nicht nach einigen Tagen schon wieder in die Heimat zurück kann. Dies sollte ihnen zum Verhängnis werden. Als sie später weiterzogen, wurden die letzten 70 Wagen von den Partisanen abgeschnitten und überfallen. Frauen und Kinder schickten die Partisanen nach Rumänien zurück, von diesen kamen dann die jüngeren gleich nach Rußland, die Männer und Jünglinge wurden allesamt hingerichtet2.

19. September: Aufbruch über Kathrinenfeld nach Lazarfeld, wo wir schnell Quartier bekamen. Es kümmerte sich eigentlich vom Treck niemand, wohin es geht. Nur meine Schwester und ich stellten immer wieder mit Verzweiflung fest, daß es anstatt nach Westen ganz streng nach Süden ging.

20. September: Weiter ging es über Sigmundfeld, Alt-Écska, Écska. Hier sahen wir ein verbranntes Flugzeug, welches kurz vorher abgeschossen wurde; über Stajiěevo und bei Perlas an einem riesigen eingezäunten Feld vorbei, auf dem viele große Fliegerbomben aufgestapelt waren, bis nach Rudolfsgnad ging die Fahrt. Unterwegs bekamen die Kinder in den deutschen Ortschaften oft Tee und Gebäck.

In einer der Ortschaften, ich weiß nicht mehr genau in welcher, erhielt der Treck aus den Häusern Beschüß. In unserer unmittelbaren Nähe war kein Opfer zu beklagen, vielleicht wollte man uns nur Angst einflößen. Nach unserer Ankunft in Rudolfsgnad hieß es zuerst, daß wir nach einer kurzen Rast gleich weiterzögen. Dann wurde der Befehl erteilt zu bleiben, und wir wurden alle privat einquartiert und gut und freundlich aufgenommen. Zeitweilig bekamen wir Gemeinschaftsverpflegung. Von hier fuhren einige Gertianoscher in ihren Heimatort (mit dem Zug, der hier und da mal fuhr) zurück und brachten sich noch viele Dinge nach. Hier erreichten uns dann auch diejenigen, die mit den Traktoren und als Heimatschutz zurück-


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geblieben waren. Als das deutsche Militär die Fuhrwerke nicht mehr benötigte, packten die jungen Leute schnell aus den Häusern, was ihnen gerade in diei Hände kam, und flüchteten uns nach. So feierte ich auch mit einigen Dingen von mir Wiedersehen, allerdings gingen sie später dann auch wieder verloren. Unsere Leute, nicht gewohnt müßig zu sein, halfen den Rudolfsgnadern beim Traubenlesen und Pressen, Kukurutz lieschen (Maisblätter vom Kolben entfernen), Kartoffeln nach Betschkerek fahren, während die Frauen sich mit dem Waschen der Wäsche und Brotbacken aus ihrem Mehl beschäftigten. Da wir unterwegs sehr viel Regen hatten und fast kein Fahrzeug mit einer Plane bespannt war, ging man daran, die Wagen mit Fruchttüchern, Teppichen oder was man sonst hatte zu decken, und in den Theiß-Auen fand man reichlich Weiden für das Flechtwerk. So vergingen die Tage, und wir hofften immer, doch noch wieder nach Hause fahren zu können. Am 27. September kam der Befehl, daß wir uns zur Weiterfahrt rüsten müßten.

28. September: Wir überquerten die Theiß; Titel, Sajkáslag, Tündéres und Sajkásszentiván. Hier war es schwer, ein Quartier zu bekommen. Infolge des andauernden Regens konnte der Treck nicht weiterfahren. Am 1. Oktober wurde ein Transport von Juden aus Serbien wie Vieh durch den Ort von Militär getrieben. Wir empfanden zugleich Mitleid und Abscheu. Kurz darauf erhielten wir der Befehl, für den kommenden Tag um die Mittagszeit zum Aufbruch nach Temerin zu rüsten. Es regnete noch immer, und ganz durchnäßt fanden wir nur schwer Unterkunft in Temerin. Flüchtlinge aus Betschkerek überholten uns auf dem Weg. Am 3. Oktober kamen wir in Ókér an und hatten gute Unterkunft. Dann ging es über Kiskér, Neuwerbaß, Kula nach Cservenka. In dieser Gegend gab es schon schöne Weingärten. Von da fuhren wir am 5. Oktober über Ószivács, Üjszivács nach Keréuy. Hier hatten sich alle Gertianoscher wieder zusammengefunden, nachdem sie unterwegs auseinandergerissen wurden durch die verschiedensten Umstände. Von hier ging es dann wieder in geschlossener Fahrt im großen Flüchtlingstreck weiter.

6. Oktober: Weiterfahrt in Richtung Sombor. Nach anfänglicher Stockung, ein Traktor war gebrochen, ging es dann glatt durch Sombor bis Bezdán. Hier war wieder eine große Stockung, und unsere Sippe mußte, wie viele andere, auf der Straße übernachten. Es sollte in der Richtung Baja weitergehen, aber wahrscheinlich, weil die Straße von Militär und Trecks verstopft war, wurden wir am 7. Oktober nach Bácsalmás über Küllöd, Béreg, Rigyicza geleitet. Hier war gerade Traubenlese. Trotz des großen Trubels wurden wir gut aufgenommen. Am 8. Oktober bewegte sich unser Treck langsam auf Baja zu. Es gab immer wieder Stockungen, wir standen Stunden in Baja, übernachteten auf der Straße, und nur schrittweise kamen wir am 9. Oktober der Donau näher, denn alles staute sich da und wollte mit der Fähre über die Donau, und Militär hatte den Vorrang. Stundenlang wurde nur Militär übergesetzt. Manchmal kam eine richtige Panikstimmung wieder auf. Nachdem wir so lange vergebens an der Fähre warteten, trennte sich ein Teil der Gertianoscher von uns und zog donauaufwärts, in Richtung Solt-Dunaföldvár, um dort ihr Glück zu versuchen, über die Donau zu ge-


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langen. Ganz langsam kamen wir an die Donau heran, und am 10. Oktober morgens konnten wir mit unseren Fahrzeugen auf die Fähre fahren. Durch den Lärm der Kraftfahrzeuge des ungarischen Militärs, das Gedubber unserer Traktoren, das aufgeregte Schreien der Menschen, und nicht zuletzt vor dem großen Wasser, waren alle Pferde vor dem Betreten der Fähre aufgeregt. So kam es, daß ein Pferd vor einem unserer Sippenwagen, statt auf die Fähre, ins Wasser sprang. Zum Glück rissen alle Riemen bis auf den Halfter, und das Pferd konnte wieder schwimmend aus dem Wasser geholt werden. So wurden mit viel Mühe und Aufregung viele Fahrzeuge auf der Fähre nebeneinandergeschichtet. Dabei wurden zum Teil die aneinandergeketteten Fahrzeuge freigemacht.

Dies sollte uns persönlich fast zum Verhängnis werden. Bis Rudolfsgnad fuhren wir auf dem Wagen von Schmidtgroßvater, gezogen von zwei Pferden, mit: Zwei Großelternpaare, eine von uns drei Frauen (junge Frau Schmidt, meine Schwester und ich) drei Schmidtkinder und unsere fünf. Es war eine zum Teil wuselige Fracht, die oft die Alten störte. Der rüstige Schmidtgroßvater und immer abwechselnd zwei von uns jungen Frauen mußten zu Fuß das Banat durchwandern. Ab da erhielten meine Schwester und ich mit unseren fünf kleinen Kindern und unserer Habe einen Wagen allein. Wir wurden als vierter Wagen hinter den Traktor gebunden und oft bedenklich hin und her geschleudert. Als alles von der Plätte wieder herunterfuhr, zog auch unser Traktor an, die Wagen kamen schön hinterdrein, man vergaß auf die Ketten; nun auf einmal löste sich unser Wagen und fuhr rücklings die Böschung hinunter. Alles schrie, und wir drinnen konnten nichts machen. Knapp vor dem Wasser hielten beherzte deutsche Soldaten unser leichtes Wägelchen auf. Wir wären sonst alle sieben verloren gewesen.

Entlang an schönen Weinbergen, die uns auf unseren Schreck Erquickung spendeten, zogen wir über Alsónána1 am 11. Oktober nach Bá-taszék. Von da in Richtung Szekszárd. In dieser Gegend machte sich erstmals bemerkbar, daß unsere Wagen nicht genügend Bremsen hatten; im flachen Banat war es nicht notwendig. Auf dieser Strecke wurden wir von einem Tieffliegerangriff beschossen, wir mußten alle die Wagen verlassen und im Straßengraben und auf den Feldern Deckung suchen. Erst nach einigen Stunden konnte der Treck seinen Weg fortsetzen. Wir fuhren die ganze Nacht durch. Die vier größeren Kinder lagen wie die Sardinen im kleineu Wagen, und mein Jüngstes lag quer über den Knien von meiner Schwester und mir, und zwar mit einem Hosenriemen oben am Koberstecken angeschnallt, damit es uns nicht herunterfällt, falls wir einmal einnicken sollten. Einer übermüdeten Mutter fiel ihr Kind vom Schoß unter den Wagen und wurde totgefahren. Auch hatte mein Kleinchen unterwegs Ruhr, wie viele kleine Kinder. Durch Eleodron2 aus unserer zufällig mitgenommenen Luftschutzapotheke und gebettelten Schnaps von deutschen Soldaten wurde es, wie durch ein Wunder, wieder gesund, denn zu essen hatten wir in letzter Zeit sehr wenig, nachdem die Gemeinschaftsverpflegungen fast ganz aufhörten. Oft kratzte ich die trockenen Brosamen aus der Tasche zusammen


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und gab sie den Kindern, weil sie um Essen baten. Dabei schlemmten viele von uns und dachten nur an sich. Oft ging ich, wenn wir in einem Ort ankamen, von Tür zu Tür mit meinen Kindern betteln. Und wenn dann einmal eine Türe sich öffnete, oft blieben sie verschlossen, dann konnte ich kein Wort herausbringen, es schnürte mir die Kehle zu. Mitleidige Menschen aber verstanden es und brachten mir etwas. So hatte ich auch öfters mit deutschen Soldaten Glück, wenn sie unsere fünf Kinder wie Vögelchen im Nest vorne im Planwagen sitzen sahen. Viele erinnerten sich ihrer Frau und Kinder, von denen sie oft auch nicht wußten, wo sie sind, und schenkten uns eine Konserve oder noch etwas Köstlicheres, ein Brot. Oft mußte ich dann leider von diesem sieben Schnitten gleich fortgeben, denn am Vortag hatte mir jemand welche geborgt.

Am 12. Oktober trafen wir in Deutschker1 ein. Nach langer Zeit wieder einmal bei deutschen Leuten in Betten geschlafen. Es wurde ein Ruhetag eingeschoben, dafür war nächsten Morgen früh Abmarsch. Es war Samstag, der 14. Oktober, und an diesem Tag wurde in Gertianosch Kirchweih gefeiert. Zum Zeichen dafür spendete der Hausherr vor der Abfahrt heißen Rampasch2. Kaum hatten wir den Ort verlassen, brach an unserem Traktor die Achse; wir blieben liegen, und unsere Gertianoscher zogen weiter, denn man wußte nicht, wann der Traktor wieder fahrfähig war. Mit einem Rad fuhr einer nach Czecze, und die Achse wurde in erstaunlich kurzer Zeit gerichtet, so daß wir unseren Weg doch am Nachmittag weitersetzen konnten. Wir fuhren über Ritka [?], Tag und Nacht, ohne Unterbrechung, durch Hügellandschaft mit Wäldern und Feldern. Unser Traktor war für den Ackerboden mit Eisenrädern versehen und rutschte unheimlich auf den Asphaltstraßen. So mußte ich mit den Kindern weit vorausgehen, um nicht im Wege zu stehen, falls die Fahrzeuge ins Rutschen kämen, während alle anderen neben den Wagen einhergingen, um mit einfachen Prügeln bergab zu hemmen oder vorwärtszuschieben. Auf dieser Strecke überholten uns mehrmals ungarische Einheiten, die uns Schmähworte zuriefen und Zeichen machten, was wir aber alles nicht verstanden. Eine an uns vorübereilende kleine Flüchtlingskolonne sagte uns dann aufgeregt, daß Ungarn umgeschmissen hätte. Nun verstanden wir erst das ungarische Militär.

In Balatonkenese hielten wir nur zwei Stunden und erfuhren da durch Rundfunk, daß Horthy, nachdem er mit der UdSSR verhandelte, abgesetzt wurde und der Führer der Pfeilkreuzler, Ferenz Szálasi, mit Hilfe Deutschlands die Regierung übernahm. Dann fuhren wir gleich weiter nach Veszprém. Spät in der Nacht kamen wir dort an und fuhren lange in der Stadt herum, bis wir gegen Mitternacht auf einem großen Platz viele Wagen des Trecks fanden. Dabei hatten wir einen steilen Berg in Veszprém zu überwinden, der allen Treckfahrern in unliebsamer Erinnerung blieb. Immer schwerer war Futter für die Pferde zu bekommen. Am nächsten Morgen trennten sich die Pferdewagen von den Traktoren, weil sie sich gegenseitig hemmten, man hoffte, leichter vorwärtszukommen. Die Pferdefuhrwerke zogen voraus, und bis auf wenige Stockungen überwanden sie schön


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die hügelige Gegend. Es sollte Quartier bezogen werden, aber man fuhr dann doch weiter, von einem inneren Drang getrieben, nach den Begebenheiten vor Balatonkenese, und man übernachtete nur kurz auf der Straße. Auch mit dem Treibstoff wurde es immer schlechter, man mußte sehen, von wo man welchen auftrieb, und so wurde auch der Traktorentreck zum Teil auseinandergerissen. Zeitweilig mußten wir uns gegenseitig abschleppen, was unsere Fahrt noch verlangsamte. Spät kamen wir in Jánosháza an und übernachteten auf einem Strohlager in einem ausgeräumten Judenhaus. Zweimal hintereinander hatten wir Fliegeralarm.

Den ganzen nächsten Tag, dem 17. Oktober, wurde wegen Benzin herumgelaufen, wir hatten nichts mehr und konnten nicht mehr weiterfahren. Mit schwerer Mühe erhielten wir dann doch etwas Treibstoff, mußten aber einen Trockentag einschalten, weil unsere Sachen auf den Wagen wieder einmal vollkommen durchnäßt waren, da unsere Fahrzeuge nur notdürftig gedeckt waren, nicht mit wasserdichten Zeltplanen. Die Wagen mußten nachgesehen werden, und da es noch immer so stark regnete, konnte man nicht weiterfahren. Hier überholten uns die Rudolfsgnader. Am 20. Oktober ging es dann weiter über Sárvár, Felsöság nach Üjkér. Hier bekamen wir nur schwer Quartiere, wir mußten bei den Kühen im Stall schlafen. Einen Teil des kostbaren Benzins mußten wir um Futter für die Pferde vertauschen. In den Morgenstunden fuhren wir dann weiter, kurz nach dem Ort war wieder einmal Fliegeralarm. Über Lövö, Sopronkövesd bis Kópháza ging die Fahrt weiter, hier übernachteten wir in Scheunen.

23. Oktober: Um 7 Uhr früh ging es weiter nach Ödenburg (Sopron). Vor der Stadt wurden unsere Papiere kontrolliert, dann konnten wir durch die Stadt, der Grenze zu, fahren. Dabei hatten wir wieder eine große Steigung zu überwinden, die uns abermals Schwierigkeiten machte und Stockungen verursachte. Dabei regnete es fast ununterbrochen. Gegen 12 Uhr mittags erreichten wir die österreichische Grenze, und viele sahen das erste Mal in ihren Leben dieses Schild mit dem schwarzen Adler. Einige fragten, was das zu bedeuten habe, und als sie es erfuhren, fühlten sich die meisten nun geborgen, der Hölle entronnen und ahnten nicht, daß uns noch manches bevorstand. Wir fuhren nicht, wie anfangs gesagt wurde, in Richtung Wiener-Neustadt, sondern auf Klingenbach zu, wo unsere Personalien aufgenommen wurden und jeder dafür ein kleines Zettelchen bekam. Mensch und Pferd waren hier gut untergebracht, nur regnete es unaufhörlich, und wir hatten wieder keinen Treibstoff zum Weiterfahren. Man mußte einen Abstecher nach Eisenstadt machen, und mit Petroleum ging's dann schließlich doch weiter bis nach Neufeld a. d. Leitha, wo sich ein großes Flüchtlingsauffanglanger befand. Der vielen kleinen Kinder wegen bekamen wir im benachbarten Ebenfurth privat Quartier, wo wir liebevoll aufgenommen wurden.

Der Schluß des Berichts schildert das weitere Schicksal der Vfn., ihre Übersiedlung nach Chotieschau, Kr. Mies, im Sudetenland und die zweite Flucht von Chotieschau Ende April 1945, die über Regensburg bis in den Kreis Krumbach (Bayr. Schwaben) führte.


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