Nr. 41: Die schwäbische Gemeinde Marienfeld im Sommer und Herbst 1944; Aufbruch in den ersten Oktobertagen; Treck aus dem bereits hart umkämpften Nordwest-Banat durch Ungarn nach Niederösterreich.

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Erlebnisbericht der G. N. aus Marienfeld (Teremia-Mare), Plasa Sânnicolaul-Märe (Groß - Sankt Nikolaus), Judeţ Timiş-Torontal im Banat.

Original, 27. April 1956, 8 Seiten, hschr.

Mein Heimatdorf ist Marienfeld im rumänischen Banat, hart an der jugoslawischen Grenze. Es war eine rein deutsche Gemeinde. Die Bevölkerung befaßte sich mit Weinbau und war sehr wohlhabend. Es kamen viele Rumänen aus den Nachbarsgemeinden zur Bearbeitung der Weingärten zu uns, und rumänische Burschen verdingten sich als Knechte in unserem Dorf.

Als die Russen über die Karpaten gekommen waren, fingen diese Burschen an, immer frecher zu werden. Oft standen sie schon in Gruppen beisammen und unterhielten sich offen darüber, welche Häuser sie sich im Ort ausgesucht haben, wenn wir hier auch den Kommunismus haben. Im Frühjahr des Jahres 1944 ging ich mal durch das Dorf, mußte dabei über ein Brückerl gehen. Zu beiden Seiten lümmelten solche Bengels am Geländer. Sie sahen mich so herausfordernd an, und als ich vorbeigegangen war, rief einer von ihnen mir nach, nicht laut, aber daß ich es doch gut verstehen konnte: „Heil Stalin!” Zu solchen und ähnlichen Zwischenfällen ist es nun immer häufiger gekommen, so daß man sich in der Heimat immer weniger sicher fühlen konnte.

In dieser Zeit kamen schon fast täglich Leute aus Siebenbürgen zu uns, die in der Nacht über die Grenze nach Jugoslawien gingen und von dort aus weiter, in Richtung Deutschland. Jeder von uns half diesen Menschen, wo er nur konnte, aber daß wir selbst auch flüchten sollten, daran wollte noch niemand denken. Wir warteten noch immer auf das Wunder, daß sich noch alles zum Bessern wenden sollte, die Russen zurückgedrängt würden und daß wir vinsere geliebte Heimat nicht verlassen müssen. Aber es kam nicht so. Anfangs September gingen die ersten Leute aus Marienfeld fort. Zum Teil mit Pferd und Wagen, zum Teil mit der Bahn. Aber nach etwa 14 Tagen kamen diese Transporte unerwartet wieder zurück. Wir hatten uns alle sehr darüber gefreut, denn wir glaubten doch, daß nun die Gefahr geringer geworden ist und daß wir daheim bleiben können. Die Freude dauerte leider nicht lange.

Die Arbeit auf den Feldern wurde nur mehr zum Teil getan, die Leute trauten sich nur mehr in Gruppen hinaus, weil sich schon sehr viele Partisanen draußer herumtrieben. Die Trauben in den Weingärten waren reif, aber wir trauten uns keine holen gehen. Die Einwohner wurden eingesagt, daß alle, die nur irgendwie von daheim weg können, sich am Morgen vor dem Gemeindehaus versammeln sollen. Dort kamen wir dann auch alle hin. Ein sehr großer Teil von uns hatte noch nie Feldarbeit getan, trotzdem wollte jeder mithelfen. Wir gingen in Gruppen von 40 bis 50 Personen in die Maisfelder und schnitten alles um, daß das Militär bessere Sicht hatte. Damals hatten wir schon deutsches Militär bei uns, das aus Kreta heraufkam.


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Ich spreche immer nur von unserm Ort, obwohl die Lage in den umliegenden Ortschaften auch nicht besser war, aber mit denen hatten wir ja keine Verbindung mehr, weil sich niemand mehr so weit hinausgewagt hatte. Nur die deutschen Soldaten, die bei uns einquartiert waren, brachten uns ab und zu Nachrichten aus der Nachbarschaft. Es wurden auch alle Radios und die Fahrräder von der rumänischen Gendarmerie eingezogen.

Unsere Männer, die nicht wehrpflichtig waren, wurden bewaffnet und mußten des Nachts Bürgerwache machen. So kam mein Mann einmal gegen Mitternacht zur Bahnstation, wo viele rumänische Burschen versammelt waren. Mein Mann forderte sie auf heimzugehn, denn Versammlungen waren verboten. Daraufhin kam der Stationsvorstand hervor und sagt: „Lassen sie die Leute gehn, die gehören zu mir.” Bald darauf hörte man auch, daß dieser Stationsvorstand (auch ein Rumäne) aus dem verwegenen Gesindel eine Bande organisierte, die nur darauf warteten, daß die Russen näher kommen. Man entdeckte auch sein recht umfangreiches Waffen- und Munitionslager, woraufhin die Kosaken1 ihn mit hinaus aufs Feld nahmen und erschossen.

Jetzt hörte man auch schon Kanonenschüsse, zuerst nur von ferne, aber sie kamen immer näher. Die Feldarbeit, die nun sehr dringend gewesen wäre, blieb liegen, und im Haus wurde nur mehr das Notwendigste getan. Es war schon so unheimlich, und man traute sich kaum mehr allein in der Wohnung [zu] bleiben. Immer wieder liefen wir hinaus auf die Straße, wo die Menschen haufenweise beisammenstanden; einer fragte den ändern: „Was wird mit uns, müssen wir fort? Oder können wir noch daheim bleiben?” — Daheim? Wir wußten es ja noch nicht, daß wir schon damals kein „Daheim” mehr hatten.

Am Abend des 4. Okt. saßen wir noch nach dem Nachtessen mit unserm deutschen Soldaten beisammen. Mein Mann war schon weggegangen, weil er für die Nacht zur Bürgerwache eingeteilt war. Er kam wieder zurück und sagte: „Die Nachricht ist soeben gekommen, daß wir morgen alle weg müssen.” Obwohl wir ja schon nicht anderes mehr erwartet hatten, waren wir alle wie erstarrt. Mein Mann meinte, wenn er auch in dieser Nacht nicht mehr schlafen kann, so will er doch noch ein letztes Mal in seinem Bette liegen und blieb daheim. Diese Nacht war furchtbar, gar so nahe hörte man schon die Kanonenschüsse. In der Früh hieß es: Fort aus der Heimat. Das kann nur der verstehn, der das selbst auch mitgemacht hat. Die Soldaten hatten uns immer damit getröstet, daß wir doch nur auf etwa 30—40 km weg müssen und wahrscheinlich in 2—3 Wochen wieder heim können. Aber als wir schon auf dem Weg waren, wußten wir, daß das nur eine barmherzige Lüge war; sie wollten uns über das Schwerste hinweghelfen.

Wir bekamen unsere Evakuierscheine und mußten uns auf den schweren Weg machen. Am 5. Okt. 44 nachmittags um 4.30, meine Angehörigen saßen schon auf dem Wagen, und ich ging noch einmal, zum letzten Mal durch das Haus, um Abschied zu nehmen von allem, was einem lieb und teuer war.


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Es war furchtbar, und mich überkam das sichere Gefühl, daß wir nie mehr hierher zurückkommen.

Bis zum Dorfende waren wir etwa 20 Fuhrwerke beisammen. Wir fuhren noch 11 km weit, bis Großkikinda. Diese Stadt liegt in Jugoslawien, aber damals gab es ja dort keine Grenzen mehr. Einige deutsche Soldaten begleiteten uns. Es war schon Nacht, bevor wir in die Stadt kamen. Die Wagen wurden in einer Straße vor den Häusern aufgestellt. Der Kriegslärm kam immer näher. In der Nacht fuhr deutsches Militär an uns vorbei, mit einem Traktor, an dem eiserne Geräte, Pflug, Egge angehängt waren, so daß sie über das Straßenpflaster nachgezogen wurden und einen Riesenlärm verursachten. Das sollte wahrscheinlich die nicht vorhandenen Tanks vortäuschen. Um ½3 in der Nacht fingen die Russen auf einmal an, ganz aus der Nähe zu schießen. Die Kugeln kamen über die uns gegenüberliegenden Häuser geflogen und schlugen an den Häusern an, vor denen wir standen. Wir sprangen alle von den Wagen ab und suchten Schutz vor den Häusern auf der ändern Seite. Drinnen hörte man die Serben umherschleichen und gedämpft sprechen. Wir waren in eine Falle geraten. Plötzlich hörte man die Russen „Hurreh, hurreh” schreien, und wir wußten nun, daß sie bald hier sein werden. Auf einmal schössen die Deutschen aus entgegengesetzter Richtung mit Granatwerfern über uns hinweg, man hörte das Aufschlagen und die Schreie der Verwundeten. Da kam ein deutscher Soldat, in einer Hand die Pistole, in der ändern eine Taschenlampe, leuchtete uns an und sagte: „Leute, aufsitzen und so schnell wie möglich raus von da.” So fuhren wir nun zur Stadt hinaus, die Kugeln pfiffen nur so über uns. Einige haben auch etwas abbekommen davon, aber zum Glück gab es noch keine Toten.

Wir konnten nicht mehr auf dem Kiesdamm fahren, so wie es vorgesehen war, der Weg war uns schon abgesperrt; wir mußten auf einem Feldweg fahren, der vom Regen stark aufgeweicht war. Dabei versanken die Räder bis zu den Achsen hinunter. Die armen Pferde konnten nur immer etwa 50 Schritt vorwärts, mußten stehn bleiben, ausrasten. Die Tiere haben Unvorstellbares geleistet. Die Leute warfen alles mögliche von den Wagen herunter, nur um die Last zu verrringern. Da lag sackweise der Zucker, Kukuruz, Koffer mit Wäsche und Kleider, ein neues Fahrrad sahen wir liegen, keiner hob es auf. Es galt nur, vorne weg zu kommen, denn kaum waren wir aus der Stadt draußen, als schon die Flammen hinter uns aufschlugen und mächtig hoch in die Höhe stiegen. Einem Nachbarn von uns ist der Wagen zusammengebrochen, er mußte zurückbleiben, dann wurden ihm die Pferde erschossen. Er und seine Frau ließen dann alles liegen und trachteten nur noch, die Kolonne zu erreichen. Sie fuhren dann ganz ohne Gepäck mit jemand anderem mit. An einem anderen Wagen ist auch eine Achse gebrochen, er gehörte dem Landsmann K. Dieser machte sich auf, ins nächste Dorf zu gehn in eine Schmiede. Man hat niemehr etwas von ihm gehört. Seine Angehörigen konnten die Kolonnen nicht mehr erreichen und gingen dann, wie man später hörte, zufuß in die Heimat zurück.

Wir kamen nun endlich in die erste Gemeinde, nach Mokrin. Es war schon Mittag. Seit wir von daheim weggefahren sind, hatte noch niemand etwas gegessen. Mokrin ist eine zum größten Teil serbische Gemeinde. Dort


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wollten wir Mittagsrast machen. Als wir unser Essen auf einer Decke am Boden ausgepackt hatten, kamen berittene Kosaken und hießen uns, je schneller wieder einpacken und raus von da, denn aus jedem Fenster können Schüsse fallen. So fuhren wir noch diesen Tag und die Nacht durch, zumeist nur der Fuhrmann auf dem Wagen, die ändern alle zufuß nebenher. Zum Essen war keine Zeit, und immer hatten wir Angst, nicht mehr rechtzeitig weg zu kommen. Wir kamen nach Keglevich, und auf einmal hießen uns unsere Begleitsoldaten Rast machen, obwohl man die Schüsse von sehr nahe hören konnte. Sogar Stunden durften unsere übermüden Pferde sich ausruhen. Die Schießerei zog sich von rechts neben uns immer weiter nach vorne, kam schon aus der Richtung her, wo wir hinfahren sollten. Auf einmal verstummte der Lärm vor uns, und wir konnten weiterfahren.

Wir fuhren von Mokrin aus wieder nach Rumänien ein und kamen hinter Keglevich über die rumänisch-ungarische Grenze. Dort holten uns die deutschen Soldaten ein, die in Marienfeld bei uns einquartiert gewesen waren. Die waren auch schon auf dem Weg.

Wir fuhren nun 3 Nächte und 2 Tage in einem Zug weiter, ohne daß unsere Pferde länger als Mittags oder am Abend mal ½ Stunde Rast machen konnten. Die Schießerei immer getreu hinter uns her. Ich hatte in Ungarn, in Ujszentiván eine Tante; dorthin wollten wir fahren und dort bleiben, bis alles vorüber war. Aber als wir hinkamen, waren die schon alle weg. Es dachte keiner mehr daran, irgendwo zu bleiben, nur immer mit der Kolonne weiter. In Szeged mußten wir wieder ½ Tag stehn und warten, bis der Weg zum Weiterfahren frei war. Es stießen nun von beiden Seiten neue Kolonnen zu uns, von der Wagenreihe konnte man keinen Anfang und kein Ende mehr sehen. Ein Soldat, der mit dem Pferde neben uns herritt, sagte mal, daß so etwa 600 Wagen in der Reihe fahren. Abends wurden wir auf der Wiese aufgestellt, eine Wagenreihe neben die andere, bis der Platz voll war. Wir gruben nun ein Loch in die Erde, legten einen Ziegel darauf und fingen schon an, eine Kartoffelsuppe zu kochen. Aber da hieß es schon wieder alle Feuer löschen, Fliegeralarm. So ging es uns die meiste Zeit. Wir organisierten uns dann etwas Stroh, breiteten es neben dem Wagen auf der Erde aus und versuchten dort, ein wenig zu schlafen. In der Nacht mußten wir nur immer auf das Schießen horchen, ob es schon näher gekommen ist, und den Leuchtraketen zusehn, die immer wieder aufstiegen.

Auf die Donaubrücke kamen wir gegen Abend. Dort standen dann unsere Wagen in Doppelreihe, soweit man sehen konnte. Es wurde Halt gemacht, als unser Wagen so gegen die Mitte der Brücke zu stehen kam. Fliegeralarm! Es müssen sehr viele Flieger gewesen sein, denn es hat mächtig gebrummt. Da gab es kein Vor oder Zurück. Aber wir hatten Glück, es blieb alles dunkel, die hatten ein anderes Ziel. Bei Dunaföldvár kamen wir herüber. Jetzt blieben die Kanonenschüsse immer mehr hinter uns, bis sie dann ganz ausblieben. Wir konnten auch über Nacht immer Rast machen. Da brach uns unser notdürftig zusammengemachtes Dach herunter, und dabei fing es an zu regnen. Wir waren alle durchnäßt samt unsern Sachen auf dem Wagen. Als wir in Veszprém waren, schien wieder die Sonne. Nun


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wurde Mittagsrast gemacht. Wir breiteten unser nasses Bettzeug zum Trocknen aus. Schon wieder Fliegeralarm. Wir liefen in den nahen Friedhof und suchten unter den Bäumen Schutz. Da entwickelte sich über uns ein Luftkampf; deutsche, ungarische und russische Flieger jagten sich einander nach, ganz tief herunter. Man mußte Angst haben, sie verfangen sich in den Bäumen. Ein deutsches und ein russisches Flugzeug sind auch unweit von uns abgestürzt. Unsere Kolonne kam heil davon.

Wir fuhren nun immer weiter und fragten uns oft: Wohin? Es gab aber nichts anderes mehr für uns, als mit den ändern immer weiter zu fahren. Sehr viel ungarisches Militär fuhr an uns vorüber, die hatten es schon sehr eilig, fortzukommen. Wir konnten nur auf zweitrangigen Straßen fahren, weil die guten Straßen alle dem Militär gehörten. Als wir ½ Tagfahrt vor der deutschen Grenze waren, hat Ungarn kapituliert1. Wir hatten alle große Angst, ob man uns jetzt weiterfahren läßt. Unser Kolonnenführer führte uns dann über einen kleinen Feldweg herüber nach Deutschkreutz, das der Grenze nahe gelegen war. In der Früh erkundigte sich unser Führer in Ödenburg nach der Lage. Wir konnten wieder zurück und auf der Asphaltstraße weiterfahren. Alle atmeten auf, als wir über die deutsche Grenze fuhren. Auf vielen Umwegen kamen wir so bis Tulln. Dort bezogen wir unsere erste „Wohnung”.

Die Vfn. berichtet weiter, daß sie nach einem Bombenangriff auf Tulln zunächst nach Königsbrunn, von dort beim Näherrücken der Roten Armee zum Teil mit Pferd und Wagen, später mit der Bahn bis in die Gegend von Ried im Innkreis gelangt sei.