Nr. 28: Internierung der Vfn. am 7. Mai 1945; ihre Erlebnisse während der Internierung in Prag und in den Lagern Týnice (Teinitz) bei Böhmisch Brod und Prosečnice; ihre Ausweisung in die amerikanische Besatzungszone Deutschlands über das Sammellager Modřan im Mai 1946.

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Erlebnisbericht der kaufmännischen Angestellten E. R. aus Prag.

Original, 29. September 1946, 8 Seiten, nachr.

Ab 4. Mai 1945 verweilte ich bei meiner Schwester in Žižkov, Habanerstraße, wohin ich fünf Luftschutzkoffer, das Radio etc. geschafft hatte, da mir die Gegend sicherer gegen Bombenangriffe und auch sonst besser erschien, und ich in meiner Wohnung nicht allein sein mußte. Am 5. Mai früh kamen wir Deutsche, gesondert von den Tschechen, in einen anderen Luftschutzkeller in demselben Hause. Meine 70jährige Schwester hatte als Rekonvaleszentin (Entfernung der rechten Niere und eines nachfolgenden Tumors) die Vergünstigung, zeitweilig in Begleitung ihrer Tochter oder von mir in der Wohnung zu ruhen.

Montag nachmittags am 7. Mai spürten wir schon eine ununterbrochene Beobachtung seitens der Tschechen. Um 1/2 6 Uhr kamen die zwei tschechischen Schutzleute in die Wohnung, uns in den Keller zu holen, wo wir uns nochmals als Deutsche zu legitimieren hatten. Als ich Hut und Mantel nahm, bedeutete er, wir würden doch in zehn Minuten zurück sein. Meine Nichte ging dementsprechend nur in Hausschuhen, ohne Kopfbedeckung. Unten hieß es, wir müßten zum Polizeikommissariat, man drängte uns auf die Gasse, wo bereits der ganze Pöbel versammelt war und uns mit „Hitler-


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bräutchen”, „deutsche Schweine” und dergleichen bespuckend empfing. Es ging dann im Marschschritt mitten in der Straße über Barrikaden zwischen johlendem Spalier in eine Schule, wo man uns in die kleinen Schulbänke einzwängte. Hier walteten drei junge Partisanen. Wir mußten unsere Handtaschen abgeben, auf dem Gang draußen stundenweise mit erhobenen Armen, das Gesicht zur Wand gewendet, stehen. Als ich in das Schulzimmer zurückkam, herrschte mich der eine an, woher ich die 3/4 Million hätte, die ich unter meinem Sitz versteckt gehalten hätte? Ich beteuerte, das Geld wäre nicht von mir, bloß K 23 000 befänden sich in meiner Tasche, weil ich Geld behoben hatte. Da öffnete sich die Türe, und es kam total betrunken ein Komplice herein (jetzt waren es drei): „Aber Freunderl, was ärgerst Du Dich, wenn das Geld niemandem gehört, teilen wir!” Jeder stopfte seine Taschen mit 1/4 Million Banknoten voll. Es folgten Vorträge über die Schlechtigkeit Hitlers, Gőrings und des Nationalsozialismus etc. Wir durften nicht schlafen, in den Morgenstunden gab es im Schulhof laute Salven, man sagte uns: „Jetzt werden erst die schuldigen Schweine erschossen, dann kommt ihr an die Reihe!” Das dauerte etwa zwei Stunden. Man stieß uns wieder auf die Straße. Nun ging es einen weiteren Weg über aufgerissene Straßen, Barrikaden etc. Dabei gab es jetzt viele Frauen mit kleinen Kindern und Gepäck. Meine Nichte und ich halfen tragen, soviel wir konnten, wir hatten ja kein Eigengepäck. Dabei wurde aus Fenstern auf uns geschossen, die Wache selbst half nach mit dem Gummiknüppel.

Endlich langten wir bei einem Studentenheim (Švehla Kolej) an und wurden nach vielem Hin und Her in dem Kinosaal untergebracht, wo jeder einen Sitzplatz erhielt, den er nicht verlassen durfte. Das Licht brannte Tag und Nacht, durch aufpeitschende Vorführungen und Vorträge wurde der Mensch in einen „Dämmerzustand” gebracht, in dem er nicht mehr Wahrheit von Trug unterscheiden konnte. Zu essen erhielten wir acht Tage lang nichts als trockenes Brot (mehr Rindein) und Wasser. Wenn man den Anstandsort aufsuchte, mußte man „Front stehen”. „Die junge Garde der roten Armee” versuchte ihre Schießkunst und vergnügte sich damit, längs der wartenden Front in die Mauer rings um das WC zu schießen. Hysterische Weiber schrien vom Balkon herunter in den Saal Anschuldigungen gegen Anwesende. Mich beschuldigte man, ich gäbe mich jetzt als Tschechin aus. Zwei junge Burschen schleppten mich hinaus. Wieso es mir gelang, mich zu befreien, ist mir noch heute ein Rätsel. Ich stand auf dem Balkon und sprach tschechisch in den Saal, daß ich immer eine Deutsche gewesen bin und auch heute deutsch bin. Vielleicht habe ich davon gesprochen, daß ich jüdisch „versippt” bin. Es kam mit dieser Person zu einer aufregenden Debatte, ich kam aber endlich doch ungeschoren in den Saal zurück. Manche Menschen, die nicht gut Tschechisch konnten und sich nicht verteidigten, kamen nicht mehr zurück. Viele führten im Saal Selbstmord durch Pulsadernöffnen durch. Täglich gegen früh hörte man Schüsse wegen Erschießungen. Freitag (11. 5.) wurde meine Nichte als ehemalige Österreicherin (ihr Mann war Österreicher) entlassen, ich mußte allein dortbleiben, meine Schwester war noch zu Hause unter Aufsicht. Was dort geschah, entzieht sich meiner Kenntnis.

Sonntag, 13. 5., erhielten wir auf einmal spät nachmittags Suppe und Tee, mußten antreten, ich konnte kaum gehen, meine Füße waren zu Klumpen


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angeschwollen, kamen unter großer Bewachung auf die Straße und spazierten durch Menschenspaliere zur Bahn. Man hörte nur hier und da Beschimpfungen als Zurufe, sonst ging es ruhig bis zum Hauptbahnhof. (Eingang von Žižkov aus.) Wir wurden 60—80 Leute in einen Viehwaggon verstaut, samt Gepäck (wenn jemand welches hatte, die wenigsten Prager hatten etwas mit). Bis Mitternacht standen wir auf einem vergessenen Seitengeleise, dann ging es langsam los. In unserem Waggon waren russische und nichtarische Partisanen versteckt, die uns Fenster und Türen fest verschlossen, so daß wir kaum Atem holen konnten und der Schweiß in Strömen von der Stirne floß. Einer versuchte mich durch Schläge in die inneren Kniekehlen und Waden zum Fallen zu bringen und sprach von „Vergewaltigen”. Ich habe mich fest an einem eisernen Ring in der Wand angehalten und lieber Mäntel und Paket (Essen, das mir meine Schwester in die Schule sandte) aufgegeben, um mich zu erhalten. Sie sprachen von angeheizten Kesseln in Čelakowitz in der Zuckerfabrik, wohin man uns „zum Sieden” bringen würde. Unsere Rettung waren zwei russiche Panzer, die angerollt kamen und „Halt” verlangten. Die Mannschaft stieg in unsere Wagen und forderte „časy, časy”, Uhren und sonstigen Schmuck. Uns hatte man schon in der Schule in Prag alles abgenommen, bloß Dokumente und Geld belassen. Die Partisanen waren weg, und wir fuhren erleichtert weiter. Zum Abschied hatten sie zu mir gesagt: „Du deutsche Kanaille, wenn ich wüßte, daß Du mit den Russen in Verbindung stehst und sie jetzt gerufen hast, möchte ich Dich auf der Stelle totknallen.”

In einer kleinen Station auf der Strecke Böhm. Brod (der Name ist mir entfallen) wurden wir auswaggoniert, und jetzt ging es (2500 Menschen) ohne bestimmtes Ziel in Prozession durch kleine Dörfer, wo man unsere Aufnahme verweigerte. Endlich kamen wir zu dem Gutshof Teinitz bei Kaunitz (Týnice n. Kounice), wo ein dreistöckiger Schuppen zur Verfügung stand. Wir mußten uns Stroh vom Gutshof holen, und je 800 Leute wurden in jedem Stockwerk untergebracht1. Männer, Frauen, Kinder, alle lagen nebeneinander wie die Heringe. Selbstverständlich gab es keine Beleuchtung, statt Fenster waren Holzgitter eingesetzt. Die Männer mußten eine Latrine graben, die sehr primitiv ausfiel, da sie freie Sicht zuließ. Die Küche dauerte drei Tage, ehe sie einen schwarzen Kaffee kochen konnte. Bis dahin waren wir ohne Nahrung. Um den ganzen Raum (Schuppen, 2 Felder und Gutshof) wurde Stacheldraht gezogen, am Eingang stand ein Eisenbahnwaggon für die Wache, „Rudá armada” (Rote Armee) und die Überschrift in russischer und tschechischer Sprache „Konzentrationslager”. Tagesprogramm: 1/2 6 Uhr aufstehen, waschen im Teich (stehendes Gewässer, das später entsetzlich roch), entlausen, anstellen, das hieß, daß man von den Bauern der Umgegend zur Arbeit ausgesucht wurde. Die Wache half mit Gummiknüppeln nach: „Schub, schub”, und schon hatte derjenige eines sitzen. Bis alle ziemlich verteilt waren, gab es bitteren schwarzen Kaffee mit einer dünnen Schnitte Brot. (Manche mußten zum Bauern auch ohne Frühstück.) Fehlarbeit, mittags dünne Kartoffelsuppe, ungefähr 3/4 l, weiter Arbeit bis 7 Uhr, dann schwarzen Kaffee mit Schnitte Brot. Todmüde fiel man auf das


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Stroh, jetzt ging erst der Spuk los. Handlaternen blitzten auf, hie und dort Gemunkel, erst wußte man nicht, was los wäre. Dann Gepolter, es kam die Wache mit Russen in Begleitung. Die Soldaten wiesen ihnen die Plätze der jungen Frauen an, die mit vorgehaltenem Revolver vergewaltigt wurden. In einem Fall wurde ein Mädchen bis 14mal mißbraucht, sie kam dann ins Krankenhaus, was aus ihr wurde, weiß ich nicht. Wir älteren Frauen entstellten uns soviel als möglich, um beim Anleuchten als noch älter zu gelten. Wehe, wenn aber beim Abtasten der Körper noch als „genügend” befunden wurde, dann ging es wie einer 53jährigen, die 4mal vergewaltigt wurde. Wir lagen folgend im Stroh: 3 junge Frauen mit Kindern, unterhalb des Fensters meine Schlafkollegin und ich quer vorn. Meine Freundin hatte sich gefürchtet und hinter mich geflüchtet. Ich hatte erst nichts bemerkt, da ich sehr müde von der Arbeit eingeschlafen war. Dann dachte ich, es wäre ein Russe, traute mich nicht zu atmen und lag steif da. Das übliche Gepolter: „Russen”, richtig kommt einer zu uns, steigt mit den Stiefeln auf meine Beine, kniet über meiner Freundin und vergewaltigt die junge Frau neben dem Kinde. Alles Betteln und Bitten half nichts, die Frau erhielt einen Fauststoß in die Nase und mußte alles über sich ergehen lassen. Das kleine Mäderl weinte: „Tante Eise, der Onkel soll weggehen, was macht er Dir?” Die Frau kam in andere Umstände, hatte unter schwerer Furunkulose zu leiden, kein Arzt traute sich, ihr zu helfen, die tschechischen Ärzte wollten nicht. Sie ging mit dem ersten Transport ins Reich. — Diese Zustände besserten sich ca. nach 2 Monaten.

Es kam die sogenannte Schwarze Wache — Gendarmerie. Diese imitierten die SS. Es wurden weiße Striche gezogen, die man nicht überschreiten durfte, ohne den Gummiknüppel zu verspüren. Hatte man nachts auf dem Wege zur Latrine die weiße Armbinde vergessen, erhielt man eine Tracht Prügel, mußte zurück um die Binde und durfte dann erst zur Latrine. Hatte derjenige Durchfall, dann wurde er erst in den Teich getrieben. Überhaupt Krankheiten: Ruhr, Typhus, Phlegmonen etc. alle ansteckenden Krankheiten wurden in der Tenne untergebracht; das war der Durchgangsraum, ebenerdig in dem Lagergebäude festgestapfter Erdboden, darauf schütteres Stroh, viel Ratten. Starb einer weg, wurde auf denselben Platz, in dasselbe Stroh der nächste gelegt. Viele starben an den unendlichen Läusen, besonders ältere Leute, die sich nicht allein säubern konnten. Viele stürzten in der Nacht die Treppen hinunter, da keine Beleuchtung war, und starben au inneren Verletzungen. Beerdigt wurden alle außerhalb des Friedhofs hinter der Kirchhofmauer in Kaunitz. Die Leichen wurden offen auf einem Leiterwagen gefahren, mit dem auch Kranke zu gleicher Zeit ins Krankenhaus geschafft wurden. Waren die Zugochsen am Feld beschäftigt, dann spannten sich die Männer selbst vor. Alle mußten ohne Kleider beerdigt werden, damit die Kleider eingespart würden. Manchmal kamen 3—5 Leichen in ein Grab. Mit der Zeit nahm das Ungeziefer schrecklich Überhand. Flöhe, die großen Strohflöhe, Läuse, Kleiderund Kopfläuse, Ratten und Mäuse liefen uns nachts über das Gesicht. Da man nicht die Kleidung wechseln konnte, tags und nachts in demselben steckte, wurde man das Ungeziefer nicht los, auch wenn man sich bis fünfmal am Tage entlauste. Folge davon: Krätze, Furunkulose etc. Ich hatte ein


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halbes Jahr lang die Krätze, dann Furunkulose, am linken Bein Phlegmone (Behandlungszeit Juli bis Jänner). Es gab eine kleine Ärzte-Baracke mit einer deutschen Ärztin (Kinderärztin) und drei Medizinanwärtern. In einem Anbau wurden viel später ernste Infektionsfälle untergebracht. Der Ärztin gilt höchstes Lob für ihre Aufopferung und ihren Mut den tschechischen Behörden gegenüber.

Nach der Ernte wurde vorübergehend die Verpflegung besser. Wir erhielten durch 14 Tage hindurch Linsen, 14 Tage Bohnen, 2 Monate gelbe Rüben (Mohren) mittags als Suppe oder etwas eingedickt als Gemüse, abends zur Brotschnitte roh. Wir bekamen sie über, nannten sie die „gelbe Gefahr”; ich bekam am 15. August (Himmelfahrtstag) einen heftigen Gallenanfall davon und konnte dann außer Brot und Kaffee eine Zeitlang nichts anderes essen. Gelegenheit zum Kaufen von Lebensmitteln gab es innerhalb des Lagers nur für Leute, die sich auf irgend eine Art von Verwandten oder Bekannten bei Besuchen Lebensmittel oder genug Geld bringen und trotz Wache geschickt einstecken ließen. Ich zahlte einmal für l Pfund Brot (bei schrecklichem Hunger) Kč 1000 (eintausend). Für ein goldenes Armband erhielt ich fünf Schnitten Brot, ungefähr 10 dkg Wurst, ungefähr 20 Stück Zucker und die Versicherung, daß ich beim weiteren Drängen nach Bezahlung einen Gewehrkolbenschlag auf den Kopf erhielte, da die Wache das Armband erstanden hätte und es für „Double” befunden hätte. Ich war machtlos. — Ich habe vergessen mitzuteilen, daß wir bald am Anfang des Lagerlebens alles Geld bis auf weniges Kleingeld unter Kč 100 sowie Bank-, Sparkassenbücher, Wertpapiere und alle Schmuckstücke, sogar Eheringe abliefern mußten. Bei strenger Strafe war verboten, etwas zu behalten. Dementsprechend wurden Proben veranstaltet, unter anderem am Fronleichnamstag. Da hieß es zeitlich früh mit Gepäck auf dem Platz antreten. Es kam der Gutsherr (Herr Kadeřábek) im Reitdreß eines Dragoner-Offiziers mit Gehilfen, kniete vor jedem geöffneten größeren Koffer der Flüchtlinge nieder, durchsuchte den Inhalt, von dem er gute und neue Stücke auf einen bereitstehenden Leiterwagen, besonders schöne aber beiseite auf einen Haufen warf, den er durch Boten auf den Gutshof bringen ließ. (So die schönen Heimattrachten einer Rumänin, deren Mutter ein Leben lang daran gearbeitet hatte.)

Ein Kapitel für sich waren die Latrinen; endlich wurden sie geteilt „Für Frauen” — „Für Männer”. Die Senkgruben mußten von Zeit zu Zeit verlegt und geleert werden. Dazu suchten sich die jungen Wachen mit Vorliebe die ältere Intelligenz unter den Internierten aus, so Professoren, Bauräte, Doktoren etc. Wenn die Leute dann total besudelt in ihrem einzigen Anzug dastanden, mußten sie erst in dem fürchterlich stinkenden Teich ihr Gewand waschen, dann sich selbst baden und die nasse Kleidung evtl. wieder gleich anziehen. So erging es einem Hamburger Kaufmann (Gaser), der sich besondere Verdienste um die dortige Jugend erworben hatte. Sehr erhitzt von der Arbeit wurde er in den Teich getrieben, den er zweimal durchschwamm. Tags darauf erkrankte er an Typhus, kam in das Spital nach Böhm. Brod, wurde von dort frühzeitig entlassen (Primär ein nichtarischer Tscheche), nach einer Woche Aufenthalt in der Lagerbaracke (Infektions-) Tod durch Herzschwäche. ...


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Nach einem ungemütlichen kalten Herbst mit noch ungemütlicheren Nächten (Stroh ohne Decken) nahmen wir am 28. Oktober Abschied von Teinitz. (Neuerliche Gepäckkontrolle, Reinigen des ganzen Schuppens, Verbrennen des Strohs usw.) Wir wurden vormittags auf Lastautos verladen und nach Böhm. Brod auf dem Bahnhof in Viehwaggons verladen, wo wir ohne Essen bis nachmittags 4 Uhr standen. Dann fuhren wir los, blieben in Prag bis vor Mitternacht stehen (ohne Essen) und kamen endlich ungefähr 1/2 2 Uhr nachts in das Lager Prosečnice bei Týnec nad Sázavou (im Sazawatal). Von der Station bergab durch den Wald mit Gepäck unter Aufsicht der Wache mit aufgepflanztem Bajonett. Der Atem versagte uns, als wir beim Eingang am Anfang einer langen Brücke am Tor den Sowjetstern und den Widderkopf sahen. Eine Frau neben mir wimmerte: „Da kommen wir nicht mehr lebend heraus!” Mir selbst fiel Dantes Aufschrift über der Hölle ein: „Laßt, die ihr eingeht, jede Hoffnung schwinden.” Mit diesen Gefühlen betraten wir in stockfinsterer Nacht die Baracke Nr. 18.

Dasselbe Manöver wie beim ersten Lagerleben begann: Gruppenweise unter Bewachung zum Fluß hinunter mit Kannen um Wasser, gruppenweise zur Latrine, anstellen zum Essenholen, sonst kein Aufenthalt vor der Baracke. Diese war verschmutzt, verlaust usw. Wir mußten sie täglich säubern, kamen dann, als sie sauber war, in die nächste und dann in die übernächste. Als wir so ziemlich die hauptsächlichsten Baracken (mit unseren Körpern die Läuse abgefangen) gesäubert hatten, kam anfangs Jänner von Prag ein Entlausungswagen mit Personal, das uns tüchtig einstaubte, und binnen 3 Tagen waren wir läusefrei — neugeboren! Wir atmeten auf. — Aber die Verpflegung! Früh bitterer schwarzer Kaffee, mittags eine Kelle (nicht ganz 1/2 Liter) dünne grüne Kartoffelsuppe (ohne Kartoffel, Salz und Fett), abends bitterer schwarzer Kaffee, l Schnitte Brot. Diese sollte 250 g wiegen, hatte in Wirklichkeit ein Gewicht von höchstens 170—180 g, festgestellt durch eine tschechische Kommission, die trotzdem keine Abhilfe schuf. Dabei mußte schwer gearbeitet werden. Neben Instandsetzung der Baracken, Schaffen von Holz als Brennmaterial (große Baumstämme wurden bei starrem Frost von Frauen bergan und bergab geschleppt, zersägt, schwere Tragen mit Holz in die Baracken getragen). Die Männer waren meist außerhalb des Lagers in der Umgebung am Steinbruch etc. eingesetzt. Mit der Zeit wurden die Wachen gewechselt, es kamen wieder schwarze Wachen. Diese inspizierten die Baracken, aber auch nachts die gewaschenen Füße der Frauen. (Dabei durfte nicht geheizt werden). Unvergeßlich bleibt mir der 6. Dezember 45. Unsere Baracke hatte weder Beleuchtung noch Beheizung, wir gingen alle um 5 Uhr zu Bett. Da, um 9 Uhr großes Gepolter, die Wache kam nach einer „heiteren” Nikolofeier in unsere Baracke, in unser Zimmer: „Pozor!”1 Befehl aufzustehen, alle Frauen treten in Nachtgewändern (nicht erlaubt, in Oberkleidung zu schlafen!) oder Unterkleidung um den Tisch. Die Wache beleuchtet die Füße, blaue Flecke werden als Schmutz angesehen, Ohrfeigen fliegen unter schmutzigsten Beschimpfungen, eine 70jährige Frau fällt mit dem Gesicht an die Leiter zum oberen Bett. Die Wache droht mit schwerster Bestrafung, wenn


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jemand den Vorfall bis morgen nicht vergessen hätte. Den nächsten Tag erscheint dieselbe Wache bei Sonnenschein, läßt wieder das Zimmer antreten und fragt die verletzte Person: „Wo warst du denn heute nachts? Hast gefeiert und warst besoffen wie ein Schwein, bist dabei hingefallen?” Zwinkert mit dem einen Auge, verläßt die Stube mit Türzufallen. Diese „junge Garde” mußte folgendermaßen gegrüßt werden: Männer in Spalierstellung stehen bleibend mit dem Hute in der Hand, bis die Wache vorbei war. Frauen, ebenfalls Spalier stehend, mit leichter Verneigung und tschechisch grüßend „Dobrý den”1 und dergleichen.

Nach Weihnachten darf täglich eine Stunde von 17—18 Uhr geheizt werden, das bedeutet, aus dem Bett, in das man wegen Dunkelheit geflüchtet ist, aufstehen, heizen, lüften, da zum Schlafen zu warm, und wieder niederlegen. Aber man kann sich wenigstens mit warmem Wasser säubern. Mit der Zeit bessern sich die Wachen, arg bleiben der tschechische Lagerkommandant mit zwei tschechischen Inspektoren, der sogenannte deutsche Lagerkommandant (ein Tscheche, als Deutscher interniert) und ebenfalls solch ein deutscher Barackenleiter. Um sich schön zu machen, denken sie sich besonders harte Strafen aus und legen sie den Tschechen nahe, diese zu gebrauchen. Ich hatte dem Barackenleiter einstmals 24 Stunden Fasten bei schwerer Arbeit und härtestem Frost zu verdanken, da ich einen verlorenen Wollhandschub gleich suchen gegangen war. Die Herren Inspektoren straften am liebsten durch Fasten und Brotentzug. Wurde bei einer Baracke eine Verunreinigung evtl. auch nur durch ein Kind gefunden, erhielt die ganze Baracke 24 Stunden keine Verpflegung. Wer dann das Brot aß, weiß niemand. Oder das Lastauto war kaputt, 3 Tage kein Brot, nachgeliefert wurde nichts. Kurz vor Weihnachten besserte sich auf einmal der Speisezettel. Die Suppe wurde dicker. Dienstag gab es Suppe und Stampfkartoffel; Mittwoch Suppe und 4 Stück „Skubanky” (tschechische Nationalkartoffelspeise); Donnerstag sogar Suppe, Leberwurst, Kartoffeln und Kraut; Freitag Suppe, süßen Hirsebrei; Samstag dicken Eintopf; Sonntag Suppe, 2 kleine geselchte Würste, Kartoffel und Rotkraut. Wir waren selig und wußten nicht, welchem Umstand wir dies Glück zu verdanken hatten. Wir hatten wohl von der Brücke schwere Pakete mit amerikanischen Aufschriften in die Magazine getragen und dankten alle im Stillen herzlichst den Amerikanern für die edle Hilfe in höchster Not. Da setzte mit Montag auf einmal die frühere alte Verpflegung ein, und vorbei war der Traum. Später erfuhren wir, daß dieser Speisezettel von ausländischen Journalisten nur als „Probe"-Beispiel für die „gute Verpflegung der Deutschen” in allen ausländischen Zeitungen gebracht worden war. Wir durften etappenweise die gelieferten „US-Schätze” wieder zur Bahn tragen, wer sie gegessen hat, wissen nur die Herren Inspektoren.

Mit zunehmender Kälte und Schnee nahm der Hungertyphus zu. Ich lag erkrankt an Hungerödem zweiten Grades. Geschwollene Füße (Wasser) und Löcher in den Füßen. Man fühlte sich so leicht, hatte wunderschöne Träume von viel Essen (zum Anessen aber kam es nicht einmal im Traum), man hatte immer den Wunsch: weiter schlafen, nicht aufwachen. Die meisten sind so friedlich hinübergeschlummert (Herzschlag). Mich rüttelten meine Be-


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kannten auf, brachten mich an die frische Luft, und in allerhöchster Not bekam ich Hilfe von Prag durch eine ehemalige tschechische Kollegin, die meine Nichte in Prag ausfindig machte und beide mir etwas Lebensmittel jeden Monat sandten. Trotzdem drängte der Arzt auf meine Abreise, mein Körpergewicht war, bei Größe 1,60 m, auf 38 kg (76 Pfund) gesunken, die geschwollenen Füße wollten nicht besser werden, da meldete ich mich freiwillig in den Transport und kam am 13. Mai in das Sammellager von Modřan, wo wir 3 Tage wegen Ausschlag gesalbt wurden und das erste Mal seit einem Jahr ein Brausebad erhielten. Im Sammellager Mořan kontrollierte man mein Gepäck (3 leichte Sommerkleider, l Jacke, l Rock, l Pullover, etwas Wäsche, 3 Garnituren und 4 Paar Strümpfe), verlangte man unbedingt 70 kg von mir1 und beschimpfte mich; da wurde ich tschechisch grob und bekam statt Kleidung wenigstens meine Ruhe! Das ist bis heute meine ganze Ausstattung, auch nur Geschenke mildtätiger ehemaliger tschechischer Kolleginnen.

Am Tage des Abtransportes, am 16. Mai 1946, wurden wir ca. um 1/2 10 Uhr „verladen”, fuhren aber auf sämtlichen Nebengeleisen von „Groß-Prag” bis 9 Uhr abends herum, um endlich dann loszufahren. In Eger waren wir am nächsten Tag mittags und endlich, endlich über der Grenze, nachmittags in Wiesau. Auf Grund der ärztlichen Untersuchung wurde ich sofort in das Hilfsspital Schloß Falkenberg zugewiesen, wo ich dank der gewissenhaften Pflege und Fürsorge wieder hoffentlich ganz gesunden werde. Ich war schon sehr gut erholt, da zeigten sich mit einem Male heftige Gallenanfälle, und ich laboriere noch heute an einer schweren Gelbsucht. Der ganze Organismus braucht seine Zeit, sich umzustellen. Ich habe festes Gottvertrauen, daß ich wieder gesund werde. Wenn mich der liebe Gott das entsetzliche Lagerjahr überstehen ließ, werde ich wohl dies auch noch überstehen.


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