Nr. 23: Vorgänge in Milititsch während der Zeit vom 4. bis 9. Oktober 1944 bei der Evakuierung und Flucht eines Teils der deutschen Bevölkerung vor dem Anmarsch der Roten Armee. - Ereignisse auf dem Treckweg bis nach Niederschlesien und der erneuten Flucht nach Westen Ende Februar 1945.

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Erlebnisbericht des Bauern Josef Schneider, ehemals Gemeinderichter (Bürgermeister) in Milititsch (Srpski Miletić), Bezirk Hodschag (Odžaci) in der Batschka.

Original, 7. März 1958, 8 Seiten, hschr.

In aller Früh am 4. Oktober 1944 kam der damalige Ortsleiter Josef Dörner so ziemlich aufgeregt in mein Haus mit den Worten: "Was ist denn los, wer hat den Befehl zum Trommeln gegeben, daß die Zivilverwaltung aufgehoben ist, der Eisenbahnverkehr eingestellt und die Bürger ohne einen Paß über die Grenze gehen können?" "So", sagte ich, "von dem allem weiß ich gar nichts." Sofort gingen wir zusammen in die Gemeinde, zum Ober-Notar Bela Oswald und fragten ihn, ob er dem Gemeindediener den Auftrag gegeben hat, dies durch Trommelschlag bekannt zu machen. Er sagte: Ja, den Befehl hat er von der ungarischen Regierung, dies sofort verlautbaren zu lassen. In aller Eile gingen wir zum Ortskommandanten Schneider und fragten, ob er auch schon weiß, was der Notar bekannt machen hat lassen. Er sagte nein und hätte diesbezüglich noch keinen Befehl, und außerdem ist es auch noch nicht so schlimm.

Aber es wurde schlimm. Die Beamten der Gemeinde, Post, Eisenbahn flüchteten; niemand ging mehr seiner Arbeit nach, die Leute standen auf den Gassen herum, alle wollten wissen, was jetzt zu tun und das Richtige wäre. Dazu kam noch, daß unsere Gemeinde schon vollgesteckt mit Militär war: Die Ungarn mit zwei Kompanien, für die wir Tag und Nacht 25 Pferdewagen im Gemeindegasthof in Bereitschaft stellen mußten; die Luftwaffe, die auf der Hutweide, so 2 ½ km von der Gemeinde, ihre Flugzeuge abgestellt hatte und mit über 400 Mann in der Gemeinde lag (ihr mußten wir auch 20 Pferdefahrzeuge für den Nachschub zur Verfügung stellen); die Waffen-SS mit über 1000 Mann, eine Wehrmachtsabteilung mit einer Frontleitstelle. Und alle brauchten Fahrzeuge, Unterkunft und Verpflegung. Am 6. Oktober hatte Sturmbannführer Schneider den schriftlichen Befehl an 66 Bürger geben lassen, daß sie mit ihren Pferdewagen Tag und Nacht bereitstehen müssen. So waren fast alle Pferde in Anspruch genommen, zumal mir nur mehr etwa 300 Stück hatten, weil wir in den Jahren 1943 und 1944 viele an die ungarische Militärkommission hatten abgeben müssen.

Am 7. Oktober, gegen Mittag kam der Kleinrichter mit der Aufforderung, ich soll sofort in die Gemeinde kommen. Als ich dort ankam, standen einige Männer beisammen, schimpften recht, weil die Ungarn mit ihren Pferdewagen in nördlicher Richtung losgefahren waren, und fragten mich, mit was sie jetzt wegfahren sollen, wenn wir fort müssen. Weil ich aber auch nichts ändern konnte, ging ich in das Gerichtszimmer. Gleich hinter mir her kam Adam Stagl, der damals der Getreideankäufer für die "Futura" war, mit


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einem Wehrmachts-Hauptmann in das Zimmer; der Hauptmann sagte gleich zu mir: "Herr Schneider, ich habe den Auftrag, ab sofort aus ihrer Gemeinde hundert Waggon Weizen zu verladen, und zwar müssen sie diesen innerhalb von 3 Tagen an die Schiffstation Combos bringen, denn ich stehe dort mit 30 Kähnen, und die müssen so schnell wie möglich von den umliegenden Gemeinden geladen werden; und da müssen Sie, mir behilflich sein." So sagte ich: "Das ist unmöglich; 1. sind die Männer von 17-50 Jahren alle zum Militärdienst eingezogen; 2. haben wir keine Pferde und 3. keine Eisenbahn mehr; da hätten Sie drei Wochen früher kommen müssen." Er sagte, das war aus technischen Gründen unmöglich, und wenn der Weizen nicht geliefert [wird], macht er mich verantwortlich, wenn er dem Russen in die Hände fällt, und ging zur Tür hinaus.

Darauf ging ich zum Ortskommandanten und erzählte ihm den Vorfall von den Ungarn und von dem Hauptmann und bat ihn, ob es ihm nicht möglich wäre, die Pferde freizugeben, zumal auch jede Minute ein Befehl von der Volksgruppenführung zu erwarten ist, daß die Bevölkerung flüchten soll. Ganz aufgeregt sagte er zu mir, ob ich denn überhaupt noch weiß, wo wir sind. Ich sagte: "In Ungarn." "Na", sagte er, "was wollen Sie dann! Zuerst kommen die Ungarn, dann die Waffen-SS und die Wehrmacht. Sie müssen wissen, wir liegen im Frontbereich. Und wenn dann noch was bleibt, können Sie es nehmen für Ihre Zivilbevölkerung." Damit war ich abgefertigt.

Inzwischen hatte sich die Kirchengasse überfüllt mit Auswanderern aus dem Banat, der unteren Batschka, mit abziehendem Militär; und alle wollten Nachtquartier, weil es schon gegen Abend war. Ich sagte der Polizei, dem Gemeindediener und dem Feldhüter, daß sie die Leute unterbringen und nicht lange fragen, sondern hinein, wo es geht. Aber leider wurden es immer mehr, so daß wir diese Nacht 300-400 Wagen hatten. Als es aber schon dunkel war, ging ich heim und nahm eine Fahrerkolonne mit 10 Lastkraftwagen zu mir, mit über 40 Mann, die bei mir und meinen Nachbarn übernachteten. Um 20 Uhr nach dem Wehrmachtsbericht sagte mit der Major Kälbli: "Herr Schneider, machen Sie sich reisefertig. Morgen früh um 6 Uhr, das ist der 8. Oktober, fahren wir weg und nehmen Sie mit ihrer Familie mit; ansonsten ist es leicht möglich, daß Sie nicht mehr rechtzeitig fortkommen." Ich sagte, wir warten den Befehl der Volksgruppenführung ab, und wir gingen ins Bett.

Aber in der Früh um ½ 5 Uhr wurden wir vom Feldhüter Nikolaus Becker aufgeweckt. Er sagte, ich möge sofort in das Gemeindehaus kommen. Dort warteten der Ortsleiter und der Notar auf mich; sie sagten, daß der Kreisleiter telefoniert hatte, die Bevölkerung sei sofort zu verständigen, sie solle zusammenpacken und um 9 Uhr in Kolonnen abfahren. Die Kleinrichter hatten es sofort an vier Ecken bekanntgemacht. Als ich nach Hause kam, war der Major mit seinen Leuten schon am Verladen und sagte mir, daß er erst gegen 10 Uhr wegfährt und soviel auf seinen Wagen Platz haben von der Nachbarschaft mitnimmt. So ist er mit 10 Familien, darunter auch meine, gegen 10 Uhr vormittags weggefahren. Der Ortsleiter war schon etwas früher mit einer kleinen Wagenkolonne losgefahren. Gegen Mittag ist auch mein Wagen mit drei Familien (Peter Schuy, Jakob Lauber, Michael Schmidt) losgefahren.


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Trotz des schonen Wetters, das an diesem Sonntag war, war es im Dorfe doch so trübselig und unerfreulich wie noch nie zuvor. Die einen glaubten, jetzt mal recht losschimpfen zu müssen, um die, die flüchten wollten, zurückzuhalten; die aber gehen wollten waren aufgeregt und nervös, weil keine Fahrzeuge zur Verfügung standen; viele weinten und fragten, wie sie ihre kranke Mutter oder ihren Vater mitnehmen sollen. Und so wurde den ganzen Tag, bis in die Nacht hinein, geschimpft, geklagt und gejammert. Gegen 20 Uhr ging ich nach Hause. Da standen in meinem Hof 9 Flüchtlings-Wagen, und alle Zimmer waren voll mit Leuten, der Radio spielte, der Tisch stand voll mit Weinflaschen. Als ich dann sagte, ich wäre der Hausherr, hat man mir auch Platz gemacht und mir gleich Paprikasch zum Essen gebracht. Weil sie schon um 15 Uhr im Hof gewesen waren, hatten sie einige Hühner geschlachtet, gekocht und Brot gebacken, die Kühe gemolken und sich mal erholt von ihrem ersten Schrecken, den sie in Perlas in ihrer Heimat erlebt hatten. Aber auch einige Milititscher haben sich in meinem Hausgang angesammelt, mit ihren gepackten Koffern, und warteten die ganze Nacht. Sie wollten unbedingt fort und glaubten, hier vielleicht doch eher mitzukommen, als wenn sie zu Hause warten; aber leider hatten sie kein Glück.

Am 9. Oktober, in der Früh gegen 6 Uhr fuhren die Perlaser los; so bin ich dann gleich wieder zum Ortskommandanten. Vor seinem Fenster wurde ich aufgehalten von Männern, die mich um Rat fragten, so machte er sein Fenster auf und sagte mir in einem militärischen Ton, ob ich denn Zeit habe, mich zu unterhalten, ich soll so schnell wie möglich die Zivilbevölkerung aus der Gemeinde schaffen, es muß sofort geräumt werden. So sagte ich ihm, es ist unmöglich, wenn wir keine Pferde bekommen. Na, sagte er, gut, er wird mal schauen; wenn noch von irgendwo Pferde zu haben sind, wird er mich verständigen. Darauf ging ich in das Gemeindehaus und sagte zu dem Kleinrichter, er solle sofort trommeln: Wer flüchten will, soll in zwei Stunden mit seinem Gepäck in die Kirchengasse kommen. Bis am Mittag stand die Straße voll mit Leuten, die darauf warteten, von den zurückziehenden Truppen oder irgend jemanden mitgenommen zu werden.

Gegen 13 Uhr kam Hans Krewenka in das Gemeindehaus und sagte: "Komm mit, an der Fleischhacker Res-Bäsl ihrem Eck wartet der Sturmbannführer mit seinen Offizieren auf Dich." Dort angekommen, sagte er zu mir: "Sehen Sie diese Pferdewagen; diese übernehmen Sie und schaffen die Bevölkerung auf dem schnellsten Wege heraus." Sofort holte ich mir den Polizeiführer Paul Merkl, damit alles in Ordnung vor sich geht. Zuerst wollten wir nur 20 Wagen vorfahren lassen und nachher die nächsten und so weiter; aber leider war es unmöglich, denn die Leute stürzten sich auf die Wagen und wollten den Kutschern befehlen: Du fährst zu mir in die Mostongagasse, du zu mir in die Neugasse. Weil es aber fast lauter Serben waren, die Kutscher, so konnten wir dies auf keinen Fall dulden; und es wurden die aufgeladen, die schon seit Stunden mit ihrem Gepäck dort warteten. Aber die einen warfen ihr Zeug hinauf, die ändern wieder herunter, weil sie ja den Wagen für sich allein wollten. Die ändern wollten gleich wieder einzeln losfahren, so mußte ich bei dar Mühle Polizei aufstellen, damit keine früher wegfahren. So konnten wir bis gegen 16 Uhr 85 Wagen laden.


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Als dann die ganze Wagenkolonne aufgestellt war, kam Heinrich Seider zu mir und fragte, ob ich die Führung übernehme. Ich sagte ihm, daß ich noch hierbliebe und die Führung sollen doch er, Lennert Valtin, Brislinger Valtin und Limberger Josef übernehmen und aufpassen, daß den Frauen und Kindern nichts passiert. Sie sagten: Ja, das machen wir, aber nur dann, wenn wir die Waffen der Polizei bekommen. Ich sagte: Das geht auf keinen Fall, weil die Polizei noch hierbleiben muß. Sie aber: Ohne Waffen fahren sie nicht aus der Gemeinde, weil man doch diesen Kutschern nicht trauen kann. - So kam mir ein Gedanke, daß wir vier Revolver haben von den Feldhütern; ich sagte dem Polizeiführer, er soll sie ihnen geben. Als sie die Revolver hatten, sind sie mit dem größten Treck, der am 9. Oktober, um 4 Uhr Nachmittag unsere Gemeinde verlassen hat, in nördlicher Richtung abgefahren. - Da ich seit dieser Zeit noch keinen von diesen vier Mann, die die Treckführung waren, getroffen habe, so weiß ich auch nicht, wie es ihnen bis Deutschland gegangen ist 1 .


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Am selben Abend noch, als es dunkel war, ist auch die Waffen-SS in Richtung Sombor in aller Stille abgezogen. Weil auch ich diesem Truppenteil zugeteilt war, bin ich um 20 Uhr mit SS-Hauptsturmführer Wiederkehr, der auf dem letzten Wagen war, aus Milititsch hinausgefahren. Als wir aber am nächsten Morgen in Bezdan halt machten und dort einige Tage verweilten, kamen noch immer einige Nachzügler aus unser Gemeinde, mit denen ich immer wieder gesprochen habe. Die sagten, daß noch alles ruhig ist. Am 12. Oktober kamen die letzten vorbei. - Was nachher geschah, ist nur von jenen zu erfahren, die zu Hause geblieben sind 2 .


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