Nr. 18: Erlebnisse des Vfs. und seiner Familienangehörigen auf der Flucht aus Neusatz Anfang Oktober 1944, während des Aufenthaltes in Budapest, Wien, dem Evakuierungsort im niederösterreichischen Waldviertel bei seinerBe Setzung durch sowjetische Truppen und bei dem Versuch zur Rückkehr in die Heimat Ende Mai 1945 auf dem Wege bis über die österreichisch-ungarische Grenze.

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Erlebnisbericht des Professors J. P. aus Neusatz (Novi Sad). Original, 15. April 1958, 26 Seiten, hschr. (Din A 5). Teilabdruck.

Es war am 4. Okt. 1944. Um 10.30 Uhr stand ich an der Tafel der VI. Klasse des Neusat/er Gymnasiums und erklärte die deutsche Wortfolge. Da riß ein junger Professor die Türe auf und meldete mir mit bleichem Gesicht, daß auf behördliche Anordnung die Schüler sofort zu entlassen seien und gleich zu ihren Angehörigen heimkehren sollten. - Was wir schon seit Tagen erwarteten, ist eingetreten: der Feind stand vor den Toren, die Russen an der Theiß, die serbischen Partisanen in Peterwardein. In 10 Minuten waren die Klassen leer, auf den Straßen jagten die Menschen mit ratlosen Mienen, rasende Gerüchte kreisten mit Windeseile. Auf dem Weg nach Hause ertönte der heulende Sirenenalarm. In einem fremden Schutzkeller packte mich die Angst um meine Familie. Zwei Töchter und die 3 kleinen Kinder der älteren waren schon seit einer Woche in Szepliget (Gajdobra) bei einer bekannten Familie, um sie dort vor den täglichen schweren Luftangriffen zu verschonen. Ich eilte, mich mit meiner Frau zu besprechen.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Devise: Flüchten!

Das Militär war schon weggezogen, die nachbarliche Gendarmeriekaserne leer, alle Ämter verlassen, Banken, Geschäfte gesperrt, auf den Straßen zogen vollbepackte Wagen und Autos. Auf die Frage: wohin? zeigten die Flüchtlinge gegen Norden.

"Wenn alle flüchten, ich bleibe, habe keine Ursache zur Flucht", sagte ich. Wir beschlossen, daß meine Frau zu den Kindern fahre und ich zu Hause bleibe.

Unterdessen spielten sich auf der Gasse aufregende Szenen ab. Im uns gegenüberliegenden Gymnasiumgebäude, das jetzt ein deutsches Militär-


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spital war, lud man eilig Kranke und Verwundete auf Autos. Ein Autobus blieb vor dem Hause stehen, er brachte Flüchtlinge aus dem Banat. Beim Absteigen stürzte eine alte Frau, sie wurde von Soldaten ins Gymnasium getragen, ihre 8jährige Enkelin blieb alleine auf der Straße und brach in verzweifeltes Weinen aus. Wir nahmen das Kind auf, trösteten es; umsonst, die Großmutter ist gestorben.

Die Züge hatten riesige Verspätungen, es galt kein Fahrplan mehr. Wer reisen wollte, mußte sich auf den Zufall verlassen; da wurde die Lokomotive von Heckenschützen aufgehalten, dort mit Bomben belegt.

Wir gingen zur Bahnstation. Da sahen wir eine grausame Veränderung seit gestern. Auf Schutt und Asche suchten wir uns den Weg. Kein Haus ist ganz geblieben, verkohlte Mauern ragten gegen den trüben Himmel. Durch zerstörte Häuser, verwüstete Gärten erreichten wir den Bahnhof, der als Zielpunkt der englischen Flieger allein unversehrt blieb.

Stundenlang warteten wir auf den Somborer Zug; es hieß, daß dieser gleich wieder zurückfahren werde. Endlich kam er an, und zu unserem höchsten Erstaunen erblickten wir unter den zahlreichen Reisenden unsere Kinder, beladen mit Koffern und Paketen. Mit überstürzten Worten erzählten sie, daß sie um Mitternacht von einer Militärpatrouille geweckt und aufgefordert wurden, sofort zum Bahnhof zu gehen: das Dorf werde evakuiert, die Russen hätten schon die Theiß überschritten und zögen gegen die Donau; von den Flüchtlingen aber hätten sie haarsträubende Geschichten gehört. - Da sie unterwegs durch Telephonmeldungen erfuhren, daß in Neusatz ein Flüchtliagszug gegen Budapest bereit stehe, wollten sie gleich auf diesen umsteigen.

Umsonst war ich bemüht, sie zu beruhigen und heimzuführen. Unter Tränen und Beschwörungen willigte ich nach langem Widerstande ein, daß sie die Reise nach Budapest zu ihrem Onkel unternehmen. Sie stiegen ein, und wir Eltern eilten heim, um ihnen einiges auf den Weg einzupacken. Die von den Russenangriffen gefährdete Strecke erschien uns für unsere Kinder doch zu gewagt, und wir entschlossen uns unterwegs, unsere Kinder nach Budapest zu begleiten. Dies ging alles so schnell, daß ich beim Einpacken meine goldene Uhr und die sonst unentbehrliche Brille am Tisch liegenließ und in der Eile nicht mehr zurückkehren wollte, in der Überzeugung, daß ich ja in 2-3 Tagen ohnehin zurückkomme. - Ich habe leider mein Haus zum letztenmal gesehen.

Die Reise von Neusatz bis Budapest dauerte sonst 6 Stunden lang, diesmal wurden es 24, nachdem wir schon 4 Stunden im vollgestopften Wagen auf die Abfahrt warteten. Wie bei jeder Panik, so gab es auch hier wüste Szenen. Nachdem die Plätze schon alle besetzt waren, kamen noch Unzählige mit ihren Koffern und Bündeln, mit kleinen Kindern und alten Müttern. Da trat man einem auf den Fuß, dort fiel ein Korb aus dem Netz, dem einen wurde es in der schlechten Luft übel, der andere öffnete das Fenster neben einer kranken Frau, bald brüllten zwei betrunkene Soldaten skandalöse Lieder, bald hörte man das Wimmern eines Säuglings. Bei manchen Stationen wartete der Zug stundenlang, überall wollten neue Flüchtlinge einsteigen, und die meisten brachten neue Greuelnachrichten.


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Am späten Abend kamen wir in Budapest an. Todmüde, mit Kindern am Arm, schwer beladen mit Koffern, schleppten wir uns zu siebent in der windigen, regnerischen Nacht auf die Straße. Da war nirgends ein Wagen oder Auto zu haben. Nach einer schweren Stunde erbarmte sich unser ein Schutzmann, requirierte für uns ein Auto in der verfinsterten Großstadt. Endlich erreichten wir die Wohnung des Schwagers. Wir bekamen gleich ein Zimmer und fielen in die Betten.

Den anderen Tag wollte ich schon zurück, konnte doch unser Haus nicht alleine lassen. Schon am Wartesaal hörten wir, daß die Partisanen über die Brücke gedrungen und in Neusatz eingezogen seien. Doch ließ ich mich nicht zurückhalten, löste die Fahrkarte und stieg ein. Meine Frau begleitete mich, geplagt von schlechten Ahnungen, und wollte bis zur Abfahrt im Zuge bleiben. Zu meiner Überraschung stieg auch der Werbaßer Professor Stock ein. Unser Gespräch wurde auf einmal vom Lärm eines anrollenden Zuges gestört. Durchs Fenster erblickte ich eine Menge Neusatzer Bekannte. Der erste, den ich ansprach, fragte mich entsetzt, wohin ich wolle. Nach Neusatz, antwortete ich. Um Gottes Willen! riefen, die mich hörten; Neusatz sei doch schon besetzt, Stadträte und Kirchenrepräsentanten seien schon zusammengetrieben und eingekerkert. "Du rennst in den Tod!" rief der eine, "wir kamen mit dem letzten Zug!" der andere. Ich lief zum Lokomotivführer, der teilte mir mit, daß er eben Befehl bekam, nur bis Kiskünhalas zu fahren. - Meine Bekannten eilten davon, jeder mit den eigenen Sorgen belastet. Ich sah die Ziellosigkeit meiner Reise ein, verabschiedete mich vom Kollegen Stock und blieb in Budapest. - Stock ließ sich von den Gerüchten nicht abschrecken, fuhr bis Halas, kam nach Tagen in Werbaß an, wurde gefangen genommen und mit zwei anderen Professoren hingerichtet.

Die ungarische Hauptstadt war in höchster Aufregung. Tausende Flüchtlinge schwärmten obdachlos herum, auf den Straßen rannten aufgeregte Menschen; die Geschäfte waren voll von Käufern, jeder wollte sein Geld los werden, die Lebensmittel verschwanden. Wer nur konnte, flüchtete gegen Westen. Auf den Brücken wanderten Prozessionen von Pest nach Buda und von dort weiter. Die Stadt wurde von den zurückströmenden ungarischen und deutschen Truppen überflutet, der Kriegsschauplatz kam immer näher. Jede Stunde konnte man bereit sein, auf den Sirenenalarm in den Schutzkeller eilen und dort bei Tag und Nacht bange Stunden verbringen zu müssen. Es gab weder Kohle, noch Holz, und das Gas war stundenlang nicht zu gebrauchen. Ich habe nie so gefroren wie vor den eiskalten Marmorkaminen unserer mit Perserteppichen belegten und Plüschvorhängen gezierten eleganten Wohnung.

Der Kanonendonner war an manchen Tagen so stark, daß die Fenster klirrten. Eines Tages sah ich auf den Straßen Plakate angeklebt, welche die Bevölkerung zur Flucht vor den heranziehenden Russen aufforderten. Sofort eilte ich zurück, um Vorkehrungen für die Umsiedlung nach Ofen (Buda) zu treffen. Ich hatte dort einen langjährigen Freund und war dessen sicher, bei ihm in der schweren Kriegsnot auf eine Nacht Aufnahme zu finden, um darin weiterzuziehen. Da mußte ich leider die größte Enttäuschung meines Lebens erfahren. "Was willst du da?" fragte er mich mit verdrießlichem Gesicht, "was soll ich mit Euch anfangen?" Wortlos kehrten wir mit unseren


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Koffern und Rucksäcken und den Kindern am Arm zurück. Unsere Wohnung aber in einem 4stöckigen Palast hinter dem Petöfi-Denkmal (Maria Valeria u. 1) wurde bald vollständig zerschossen (heute steht an der Stelle ein umzäuntet Spielplatz für Kinder).

In den ruhelosen Tagen war eines meiner aufregendsten Erlebnisse, als ich Tausende jüdischer Männer, Frauen und Kinder in stummen Vierer-Reihen ihrem traurigen Schicksal entgegengetrieben sah. Erschüttert blieb ich unter den Gaffern stehen 1 . - Ich konnte nicht ahnen, daß es meinen armen Landsleuten in der Batschka, die ihr Heim nicht verlassen wollten, auf den Befehl Titos ähnlich und noch grausamer ergehen wird.

Eines Abends klingelte es an der Eingangstür, und zu unserer größten Überraschung trat mein älterer Sohn ein. Als deutscher Militärarzt erhielt er einen Granatsplitter und bekam Urlaub. Er vermutete, daß wir als Flüchtlinge in der Wohnung seines Onkels zu finden seien. Da sein Wagen auf dem fluchtartigen Wege von den Russen arg beschädigt wurde, ließ er uns mit einem Militärlastauto zum Bahnhof bringen, und wir konnten endlich per Bahn nach Wien reisen.

Vor der Abreise nach Wien mußte ich aber meine Tochter mit ihren drei Kindern in Sicherheit bringen. Auch für Erwachsene ist die Flucht vor Kanonen ein gefährliches Unternehmen, mit Kindern aber ist sie ein Spiel auf Leben und Tod. Meine Enkelkinder waren 10, 8 und 1 ½ Jahre alt. Wie konnte man sie in Sicherheit bringen? Wer wollte Kinder aufnehmen in einer Zeit, wo man um ein Brot Schlange stehen mußte!

Durch Zufall erfuhren wir, daß das Schwedische Rote Kreuz außerhalb der Hauptstadt ein Heim für Kinder erhielt. Ich eilte hinaus, um meine Enkel und die Tochter hier aufnehmen zu lassen. Ein reformierter Priester stellte ihnen gleich ein warmes Zimmerchen zur Verfügung; Kost und Ver-


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pflegung waren wie in Friedenszeiten. In den Zimmern hingen Kruzifixe, die Kinder beteten vor und nach dem Essen das Vaterunser. Doch schon am zweiten Tag bestätigte die Tochter meinen Verdacht: die Kinder waren alle kleine Juden, die Pflegerinnen aber waren ihre Mütter, sie wurden von acht jüdischen Ärzten betreut. Meine Kinder waren die einzigen Christen im "Schwedischen Roten Kreuz" 2 . - Ich war aber beruhigt, sie auf sicherem Platz zu wissen; wir konnten uns jetzt zu dritt mit der Frau und der jüngeren Tochter leichter bewegen und den Weg für eine sichere Zukunft suchen. Diesen glaubten wir in Wien zu finden, wo mein jüngerer Sohn als Mediziner vor der letzten Prüfung stand.

Wien war schon in meiner Jugend der Wunsch meiner Träume, das Wien des letzten Kriegsjahres bleibt mir aber wie ein riesiger Trümmerhaufen im Gedächtnis. Schon die Ankunft am Bahnhof bot ein trauriges Bild. Im arg beschädigten Gebäude lagen am Fußboden verwahrloste Gestalten herum, im Wartesaal war eine Luft zum Ersticken. In der frühen Morgenstunde machte ich mich auf den Weg zu meinem Sohn. Müde schleppte ich mich durch die große Stadt. Augekommen, las ich auf der Namensliste: Dr. L. P. Eine wohltuende Wärme lief durch meinen ganzen Körper: mein jüngerer Sohn ist also auch zum Arzt promoviert worden. Es war die erste Freude seit Wochen. Doch erfuhr ich gleich danach, daß er nach der Promotion einrücken mußte. Ich nahm sein Zimmer in Besitz und eilte zurück, um die Meinigen "heimzubringen".

Ich hoffte bei einer Oberschule eine Anstellung zu bekommen. Man stellte mir eine in Reichenberg in Aussicht. Es vergingen Wochen, die Ernennung aber blieb aus. Kein Wunder! Niemand wußte, was der Morgen bringt! Die Ämter waren stundenlang geschlossen, die Beamten saßen während der Fliegeralarme im Schutzkeller. Wer morgens wegging, konnte froh sein, wenn er abends seine Wohnstätte unversehrt wiederfand. In manchen Stadtteilen blieb kein ganzes Haus. Einmal fiel eine amerikanische Bombe 20 m von unserer Wohnung in einen Garten, der Luftdruck fegte die Dächer der ganzen Umgebung weg. Ein anderes Mal sprang ich mit meiner Tochter noch rechtzeitig vom Straßenbahnwagen ab und eilte in den Schutzkeller vor dem Wiener Rathaus. Als wir nach zwei Stunden herauskamen, fanden wir unseren Wagen völlig zertrümmert. Kein Tag verging ohne traurige Erlebnisse. Wir verkauften allmählich Ringe und Ketten, um den Hunger stillen zu können.

In tiefer Sorge um meine in Budapest gebliebene Tochter und ihre drei kleinen Kinder stand ich eines Tages am Fenster und schaute in den kalten Winter hinaus. Da erblickte ich beim Nachbarshaus eine Frau mit Kindern,


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wie sie mit dem eisigen Wind kämpfte. Entsetzt erkannte ich in den Armen meine eigenen Kinder. Ich rannte um sie. Halb erfroren, sanken sie mir in die Arme; doch als ich sie in unser Zimmer führen wollte, stand die Hausfrau vor mir und wollte den Kindern den Eintritt verbieten, ihr Parkettboden sollte von den schneeigen Schuhen nicht naß werden. Noch heute ballt sich mir die Faust, wenn ich an diese Szene zurückdenke.

Mit bewegten Worten schilderte mir die Tochter ihre Angst, die sie in der von den Russen gestürmten Stadt Budapest aushielt; das Haus, in dem ich sie gesichert glaubte, wurde zerstört. Ein deutsches Militärauto nahm sie mit den Kindern auf und brachte sie bis Györ (Raab). In einem Gasthaus fand sie hier Unterkunft, mußte ihre Kinder neben betrunkenen Soldaten auf der nackten Erde betten, in grimmiger Kälte auf Gelegenheit warten und streckenweise bis Wien weiterfahren. - Da war es schwer, mit sieben Personen in einem kleinen Zimmer zu leben, auch nahm die Stadt Wien in der verhängnisvollen Zeit keine Familien mit Kindern auf. Nach einem kurzen Aufenthalt in einem Wiener Durchgangslager mußten meine Kinder sich wieder von uns trennen. Mit einem Transport kamen sie nach Frankenstein in Schlesien. Als die russische Front auch dahin immer näher rückte, wurden die Flüchtlinge wieder gegen Westen konzentriert, und so kamen die Meinigen nach Korneuburg bei Wien.

Es war eine schreckliche Zeit. Kein Tag verging, daß Wien und die Umgebung nicht mit Bomben belegt worden wäre. Wer sein Haus verließ, wußte nicht, ob er es nicht in Trümmern, seine Angehörigen als Leichen wiederfinden werde.

Das unreine Lager, die im Schutzkeller verbrachten nächtlichen Stunden, die Masernepidemie, die das jüngste Kind schwer mitgenommen hat, dann die Sorge um den Familienvater, von dem man nicht einmal wußte, an welcher Front er sei, brachten meine kleine Familie der Verzweiflung nahe.

Als sich die Möglichkeit bot, mit einem Kindertransport in das Waldviertel (im nördlichen Teil Österreichs) zu fahren und als wir selbst auch mitfahren konnten, beeilten wir uns, dem Gefahrenzentrum Wien zu entkommen. Nach langer Reise kamen wir in ein kleines Dorf, Grünbach an der Thaya. Es war noch Winter, doch sangen schon die heimgekehrten Stare, und die Ruhe des Dorfes tat den abgemarterten Nerven wohl. In einem Bauernhaus fanden wir freundliche Aufnahme, in der Bäuerin lernten wir einen aufrechten, edlen Charakter, eine hilfreiche Seele kennen. Mit Liebe und Sorgfalt nahm sie sich der ausgehungerten, von Krankheit und Elend herabgekommenen Kinder an. Auch wir konnten uns in der waldigen schönen Natur bald erholen. - Den einfachen, guten Menschen schreibe ich jedes Jahr vor Weihnachten meinen dankbaren Brief.

Lange dauerte unsere Ruhe nicht. Besorgt lauschten wir jeden Tag am Radio, wie sich die russischen Truppen näherten. Nach Ungarn überfluteten sie bald Österreich, und es blieb kein Dörflein, in das sie nicht eingedrungen wären. Es kamen wieder entsetzliche Tage. Unser Bauernhaus wurde von einem Dutzend 18-20jähriger Soldaten besetzt. Was Gutes und Teueres zu finden war, mußte auf den Tisch. In unserem Zimmer hielten sie auf Bilder, Schränke, auf die Pendeluhr Schießübungen, nachts stürmten sie besoffen


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in unser Zimmer und suchten unter den Betten Hitler; mit brennenden Strohfackeln liefen sie in der Scheune herum. Tagelang verbargen sich unsere Töchter und die Tochter des Bauern in einer verrammelten kleinen Kammer neben unserem Zimmer vor den tierischen Wüstlingen. Unser Haus blieb vielleicht darum vor den schwersten Mißbandlungen verschont, weil ich mich mit ihnen serbisch verständigen konnte.

Vor der Ankunft der Russen lag im Dorfe eine zersprengte ungarische Artillerie-Abteilung. Vor ihrer Flucht gegen Westen verschenkten die Soldaten ihre bisher geretteten Güter. Mein 8 Jahre alter Enkel brachte eines Tages zwei Militärpferde mit neuem Roßgeschirr, er bekam sie von einem Unteroffizier zum Andenken. Wir stellten die Tiere in den Kuhstall, doch dieselbe Nacht wurden sie gestohlen.

Die Lage wurde jeden Tag unerträglicher. Wir konnten die vor Furcht zitternden Töchter nicht in der feuchten Speisekammer lassen und entschlossen uns, die Wanderung wieder aufzunehmen. Dies taten wir, weil wir von anderen geflüchteten Landsleuten hörten, daß die Jugoslawen ihre schwäbischen Untertanen zurückriefen, ohne an ihnen Repressalien zu üben. Es liefen tatsächlich jugoslawische Agenten in Österreich und Deutschland herum, die die Flüchtlinge zur Heimkehr überredeten und ihnen bis zur jugoslawischen Grenze Autobusse zur Verfügung stellten. Wer wollte nicht nach so viel schweren Entbehrungen gerne in seine Heimat zurückkehren! Wen lockte nicht das eigene bequeme Haus, der blühende Rosengarten? Die unhaltbare Lage, in der unsere Töchter waren, die panische Angst vor den gewalttätigen Horden zwangen uns, die gewagte Reise durch Wien und Budapest nach Neusatz zu unternehmen.

Ein ungarischer Flüchtling hatte zwei Wagen. Den einen, den er von den Artilleristen bekam, stellte er uns zur Verfügung. Unser Pferd war ein großes, mageres Tier, es biß und schlug aus; es war jedesmal ein Wagnis, wenn es aufgeschirrt werden sollte. - Unter Segenswünschen unseres Hausherrn fuhren wir ab. Vermummt hielten sich die Frauen hinter den Koffern und Schachteln, sooft russische Soldaten sichtbar wurden, die 3 kleinen Kinder mußten im Kutschersitz die gierige Kontrolle abhalten. Acht Tage lang dauerte der Weg bis Wien. Es war eine schreckliche Reise. Nur die gütige Vorsehung bewahrte uns vor dem Untergang. Tausende Wagen und Kanonen surrten an uns in entgegengesetzter Richtung vorbei. Dutzende Eroberer schauten in unser aus Säcken zusammengeflicktes Zeltdach um Beute, dreimal drohten sie, mich zu erschießen. Wir rasteten in Wäldern, schliefen am nassen Boden, stießen auf geschlossene Türen und verhärtete Herzen, bettelten um Brot und Milch für die hungrigen Kinder. Unser alter Gaul konnte sich nach Tagen kaum mehr schleppen; bei jeder Erhöhung halfen wir den Wagen schieben, ich ging zumeist zu Fuß, um das überlastete Tier zu schonen. In Wien hofften wir in der alten Wohnung ausruhen zu können, doch war diese schon von einer rohen Kommunistin besetzt. Krank und apathisch trotteten wir weiter. Pferd, Wagen und wir selbst waren derart herabgekommen, daß uns die Leute mit Bedauern nachschauten; in unseren Seelen aber wuchs immer mehr der Zweifel, ob wir unsere Heimat noch einmal zu sehen bekommen. Unterwegs fanden wir entvölkerte Dörfer; halbe


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Gemeinden verließen Haus und Hof und flüchteten gegen Westen. Wir hätten uns gern in einem herrenlosen Haus niedergelassen, wenn uns die herumliegenden Kadaver, Schmutz, Läuse nicht weitergetrieben hätten.

Am 30. Mai 1945, morgens um 5 Uhr, überschritten wir die österreichisch-ungarische Grenze. Wir rechneten damit, hier aufgehalten zu werden, doch fanden wir beim Grenzstein niemanden. Um lästigen Untersuchungen auszuweichen, fuhren wir auf Nebenwegen. Da aber wurden wir von zwei alten bewaffneten Männern angehalten. Sie fanden unsere alten, schon ungültigen Pässe in Ordnung, als wir aber als unser Reiseziel Neusatz nannten, schüttelten sie die Köpfe und behaupteten, daß wir nicht einmal Györ erreichen würden, da alle Brücken gesprengt seien. Unser Pferd wollte nicht mehr anziehen, und die Räder schrieben verdächtige Achter in den Sand. - Unsere ungarischen Reisegenossen waren nach der Grenze wie ausgetauscht. In Österreich waren sie auf meine Dolmetschdienste angewiesen, jetzt verhielten sie sich abstoßend und wurden nicht fertig, die Schwaben zu schimpfen, banden mir sogar noch das Säckchen Hafer ab, das ich am Schragel hängen hatte.

So kamen wir nach Mosonmagyarövär, 14 km von der österreichischen Grenze. Wir wollten zurück in unsere Heimat, nach Neusatz, mußten aber hier erfahren, daß alle Brücken, auch viele Straßen gesprengt waren, der Eisenbahnverkehr lahmgelegt. An Leib und Seele gebrochen, enttäuscht und ratlos standen wir da mit drei kleinen Enkeln - wir wußten noch nicht, daß ihr Vater in russischer Gefangenschaft sterben mußte.

Im folgenden berichtet der Vf. in großen Zügen über die Erlebnisse in Ungarn bis zu den Ereignissen während des Aufstandes im Oktober/November 1956 und bei seiner Flucht nach Österreich.