Nr. 19: Evakuierung im Schiffstransport auf der Donau von Neusatz bis Mohács, vorübergehende Unterbringung der Flüchtlinge in einem improvisierten Sammellager bis zum Abtransport in offenen Eisenbahnwaggons nach Deutschland Ende Oktober 1944.

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Erlebnisbericht des Schriftsetzers Franz Grünwald aus Neu satz (Novi Sad).

Abschrift (vom Vf. ergänzt und bestätigt), 10. Juni 1958, 8 Seiten, mschr. Teilabdruck. - Der Bericht stutzt sich auf Tagebuchnotizen.

Der Bericht beginnt mit der Wiedergabe von Tagebuchaufzeichnungen des V/s. seit Juni 1944.

5. Oktober. . . Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, die Regierung habe den Zugverkehr in der Batschka eingestellt. Vor der evangelischen Kirche wickelte sich nunmehr der ganze Verkehr ab. Durchreisende Trecks holten sich dort Weisungen und suchten eventuell eingelaufene Post


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von ihren Soldaten. Der ganze gestiefelte Rattenschwanz in Braun war längst feige ausgerissen. Ehre und Achtung verdient als einziger Ortsgruppenleiter Lebherz, der dort pausenlos und unermüdlich die Geschäfte leitete.

6. Oktober. Die OG 1 hatte einige Autobusse aufgebracht, OG-Leiter Lebherz fertigte sie rasch ab; es war ihm daran gelegen, je mehr Volksgenossen aus der Stadt zu bringen. Und dann traf noch ein kurzer Eisenbahnzug ein, der gestürmt wurde. Das Straßenbild wurde immer öder. Nirgends sah man mehr Soldaten, auch in der Kaserne nicht, sie waren vor Tagen schon ausmarschiert.

Oktober. Den ganzen Tag pendelten wir vom Bahnhof zum Heim (Evang. Kirche) und umgekehrt. Ein großer Teil der Deutschen war noch unschlüssig, ob sie fliehen oder bleiben sollten. Auch wir im Hause. Ein sehr langer Eisenbahnzug lief ein, doch nur für die Postbeamten. Bald darauf lief noch ein kurzer Zug ein, der von jenen, die geduldig ausharrten, paar Minuten später überfüllt war. Seit Tagen gab es kaum mehr Brot, die Hyänen diktierten die Preise. Die Läden waren nunmehr restlos geschlossen. Die Hüter von Gesetz und Ordnung, die ungarische Polizei war dabei, den sich ab und zu zeigenden Radfahrern die Fahrräder und den noch seltener gewordenen Fuhrwerken Pferd und Wagen wegzunehmen, was ich in der Futoker Straße beim Spital beobachtete.

Oktober. Der Wirrwarr in der Stadt hatte seinen Höhepunkt erreicht. Die Kopflosigkeit der Behörden - soweit davon überhaupt noch die Rede sein konnte - zeigte sich auf Schritt und Schritt. Gestern wurde die generelle Mobilisierung verkündet. Wer sollte noch einrücken und wohin? Ich ging gerade beim Magistrat vorbei: ein Beamter rief die wenigen Passanten vor dem Gebäude zusammen und riet zur Flucht. Auch paradox; er mußte doch wissen, daß der Zugverkehr eingestellt war. Mein Hausherr schaute zu, wie die noch zurückgebliebene Bahnhofswache (Honved) das Bahnhofsmagazin plünderte. Die Nachbarschaft schloß sich diesem Beispiel gleich brav an. - Die reichsdeutsche Kommandantur verließ die Stadt. - Ich kam vom Heim und wollte gerade in meine Gasse einbiegen, als ich merke, daß sich vor dem Krankenhaus die Gendarmerie und Polizei sammelte und bald darauf unter Mitnahme der enteigneten Fahrräder, Pferde und Wagen geschlossen in Richtung Futok abmarschierte. Verkehr war nur noch bei der evangelischen Kirche, wo OG-Leiter Lebherz noch immer die auf ihn einstürmenden Volksgenossen und noch durchziehende Treckführer beratete. Noch zogen Kolonnen vorbei und suchten hastig die zu Haufen liegende Post durch. - Seit Tagen wieder einmal Fliegeralarm.

Oktober. Gott sei's gedankt, die Entscheidung war gefallen: die allerletzte Fluchtmöglichkeit. Im Heim wurde vormittag kundgegeben, die Wehrmacht habe zwei Schleppkähne zur Verfügung gestellt. Diese Kunde verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Nachmittag wurde es am Donauufer lebendig, noch und noch sammelten sich Flüchtlinge an, hauptsächlich Frauen mit Kindern. Alle waren todernst und konnten die Zeit nicht erwarten, bis die


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Erlaubnis zum Einsteigen gegeben wurde. Zuerst wurde der Kahn für die Jaraker freigegeben. Dieser Treck blieb da stecken, warum weiß ich nicht, kaum waren Männer da; wir Neusatzer halfen beim Verstauen 2 . Dann wurde unser Kahn, der größere, freigegeben. Unser Transportleiter wurde der Kaufmann Josef Kara. Der Kahn hatte drei Abteilungen, die gut belegt waren, wir waren im dritten Abteil. Als die Anker gelichtet wurden, war es schon finster. OG-Leiter Lebherz war da und bemühte sich wie bisher; er verdient Hochachtung.

10. Oktober. Hoffnungsvoll ging die Fahrt bergwärts. Die Verpflegung der Flüchtlinge übernahm die Wehrmacht. Transportleiter Josef Kara, dessen Hilfskraft ich wurde, kriegte vom Kommandanten Weisungen, die Flüchtlinge zu registrieren; mehrere Verzeichnisse waren notwendig. Wir hatten 343 Personen an Bord. Auffallend hoch war die Zahl der Kleinkinder.

11. Oktober. Der Schlepp legte in Vukovar an, wo wir vorerst verblieben. Wer mochte, ging an Land. Der Verkehr war rege. Aus Slawonien kommend, reihte sich Treck an Treck, wo ganze Gemeinden auf den Beinen waren. Das Bild war immer dasselbe: zum Großteil lenkten alte Männer und Greise


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oder Frauen die Pferde. Ein Fall war mir besonders ergreifend: Eine Frau saß allein am Wagen, sie lenkte ihren Gaul, in einer Hand das Leitseil, in der anderen ein Baby an der Brust. - Die Vukovarer dachten noch nicht an Flucht.

Oktober. Wir lagen noch immer in Vukovar. Die Verpflegung war zwar kalt, doch reichlich und sehr gut. Kara und ich sprachen so wie gestern beim Volksbund vor wegen Milch für die Säuglinge und Kleinkinder, da sich die Abfahrt verzögerte. Es wurden wieder vierzig Liter abgekochte Milch zum Schlepp gebracht. Die Vukovarer waren auch ansonsten splendid.

Oktober. In der Nacht kamen noch einige Schlepp mit Flüchtlingen zu, die aber nach kurzem Aufenthalt weiterfuhren. Ansonsten verlief der Tag wie gestern.

Oktober. Die OG Vukovar beschenkte uns und die Jareker in großzügigster Weise mit Lebensmitteln auf Tage hinaus. Die Liebesgaben bildeten einen kleinen Berg an Konserven, Trockenwürsten, gemahlenem Kaffee, Butter, Schmalz usw. usw. Alle diese Gaben wurden kommissionell nach Kopfzahl der Familie klaglos aufgeteilt. Erst hieß es in der Früh, der Wasserweg sei oben gesperrt, wir müßten zu Lande. Gegen Mittag fuhren wir dann doch ab.

Oktober. Der Schlepp legte in Gombos wohl an, doch um 7 Uhr früh fuhren wir weiter. Hier faßten wir für drei Tage Verpflegung. Abends waren wir in Mohäcs. Am Kommandoschiff war ein Radio, das ständig zuversichtliche Frontberichte durchgab.

Oktober. Die einlaufenden Frontberichte und die Berichte der Reisenden lauteten ungünstig. Der Wasserweg sei nächst Budapest von Russen blockiert. Hier voraussichtlich längerer Aufenthalt, hieß es. Die Leute gingen in die Stadt, um, so gut es ging, Einkäufe zu besorgen. Vormittag gab es Fliegeralarm. - Wir kriegten hier Brot, viel Brot, vier und fünf Kilogramm schwere Laibe, die durch die Luftfeuchtigkeit am Wasser schwache Schimmelansätze zeigten. Die Frauen kannten noch keinen Hunger, die meisten warfen diese Laibe über Bord. Ich war darob verärgert und rief ihnen zu, sie sollten damit nicht so splendid sein, vielleicht würden sie es noch suchen, für uns sei noch nicht aller Tage abend.

20. Oktober. Der Wasserweg endgültig gesperrt. Die Schlepp, deren Zahl bis elf oder zwölf angewachsen war, mußten geräumt werden. Bei Mohäcs liegt an der Donau eine sehr große Ziegelei. Sie wurde dazu auserkoren, die Flüchtlinge vorübergehend zu beherbergen. Gruppenweise wurden wir in die Trockenanlagen eingewiesen. Neusatz und Jarek kriegten Baracke 2, Leiter wurde wieder Kamerad Kara. Schätzungsweise waren hier etwa sechstausend Flüchtlinge.

Mit dem Verlassen der Schlepps zog die Wehrmacht ihre schützende Hand von den Flüchtlingen. Von Neusatz weg sorgte die Wehrmacht geradezu väterlich für uns. Die Verpflegung war klaglos; entlang des Weges wurden wir von einem kleinen Kriegsschiff, zwei kleinen Monitoren mit Vierlingsflak bestückt, von zwei Minensuchbooten voran und als Abschluß von einem Donaumonitor bewacht; zeitweise kreiste ein Jäger ober dem Geleit; täg-


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lieh kam der Arzt zumindest einmal, normal aber früh und abends zu uns. Diese Geste erzeugte ein grenzenloses Vertrauen in die deutsche Wehrmacht und das Deutsche Reich, denen die Volksdeutschen dieser Gebiete ihre Söhne, Väter und Gatten anvertrauten. Angesichts dieser Fürsorge überkam uns ein wohliges, beruhigendes Gefühl.

In Mohäcs hatte Abgeordneter Dr. Trischler die Betreuung der Flüchtlinge übernommen. Es gab nach elf Tagen erstmals wieder warmes Essen. Das Essen, von Frauen aus den eigenen Reihen in vierzehn Kesseln zubereitet, war sehr gut und schmackhaft. Die OG Mohäcs stellte einen Arzt, der täglich im Lager ordinierte.

Die ungünstigen Nachrichten rissen nicht mehr ab. Die ersten Vukovarer Flüchtlinge stießen zu uns.

Oktober. Eine einundsiebzig Waggone lange Garnitur, vorwiegend Loriswagen 3 , rollte ein. Den Abtransport leitete die Wehrmacht. Ferner Kanonendoner war seit gestern deutlich vernehmbar. In einer Nachbargemeinde marschierte eine SS-Einheit durch. Einige Neusatzer waren auch darunter. Ich hatte in der Kreisleitung an einer Konferenz mit Abg. Dr. Trischler, Gebietsführer Spreitzer u. a. teilzunehmen, nachdem ich die Stelle des Leiters Kara übernommen hatte (ein sehr undankbares Amt). Einige Frauen hatten den Bauch voll Beschwerden, immer wieder lagen sie dem Lagerleiter Dr. Trischler in den Ohren. In den letzten Tagen gab's oft Fliegeralarm. Regen.

Oktober. Auch heute traf eine Garnitur Loriswagen ein, die gegen Abend abrollte.

Oktober. In der Nacht setzte wieder leichter Regen ein. Eine dritte Zugsgarnitur rollte in der Früh an und wurde trotz anhaltendem Regen fieberhaft belegt. Ich übergab mein Amt. Um 14 Uhr rollte unser Zug, siebzig Waggon, fast durchweg Loris, ab. Es regnete ohne Unterlaß. Mensch und Gepäck litten, doch wer fragte danach?

Oktober. In der Nacht standen wir auf offener Strecke vor Fünfkirchen, wegen Überfüllung des Bahnhofs. In der Früh erst konnten wir einfahren. Seit Tagen glich der Bahnhof einem Heerlager, die Flüchtlinge konnten wegen Waggonmangel nicht abgeschoben werden. Zu Mittag hielten wir in Bares. Die Gendarmerie verwehrte den Flüchtlingen den Ortseingang. Die Lebensmittelvorräte waren zum Großteil aufgezehrt, die Leute hatten Hunger.

Oktober. Von gestern auf heute waren wir in Berzence. Auch dahier verwehrte die Gendarmerie den Flüchtlingen den Ortseingang. Auf einem Gut in der Nähe war gerade Kartoffelernte. Zwei, drei Wagen fuhren beim Bahnhof vorbei. Wir wollten kaufen, die Fuhrmänner nahmen kein Geld ab, es waren alte Männer, wenn nicht Greise. "Nehmt, so viel ihr braucht, ihr Armen", sagten sie. Und wir nahmen und kochten am Bahnhof, so gut wie wir es eben vermochten. Seit 22. abends der erste warme Bissen im Munde.


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Oktober. In der Früh trafen wir in Nagykanizsa ein. Mit kurzen Unterbrechungen regnete es noch immer. Immer mehr und mehr Leute wurden krank. Kameraden wollten das Spital anrufen und um einen Arzt bittlich werden, doch der Stationsvorsteher gestattete die Benützung des Telefons nicht. Manche Kranke wanden sich buchstäblich in ihrem Schmerz, andere ertrugen ihren Schmerz gelassener. Die Flüchtlinge waren über die Brutalität des Bahnbeamten empört. Der Zug rollte mit den Schwerkranken weiter.

Oktober. In den frühen Morgenstunden trafen wir in Sopron (Ödenburg) ein. Das Ehepaar Karl Pilz sprach auch hier mit dem Stationsvorstand, diesmal mit Erfolg. Bald darauf traf ein Volksdeutscher Arzt mit zwei Schwestern ein. Erst wurden die Schwerkranken ins Krankenhaus gebracht, die Leichtkranken behandelt und zum Schluß die Toten auswaggoniert: ein alter Mann, drei alte Frauen und zwei Säuglinge. Es regnete, regnete, regnete. Gegen Mitternacht traf unser Zug in der ersten reichsdeutschen Stadt, in Ebenfurth (Ostmark), ein. Hier wurden wir gewissermaßen erwartet, es gab da warmen Milchkaffee nach Bedarf, reichlich Brot, Trockenwurst und Butter, - Von Mohäcs weg waren die Flüchtlinge ernährungsmäßig auf sich selbst gestellt und da sie sich in Ungarn nichts kaufen konnten, ihre Vorräte, die sie reichlich hatten, unökonomisch handhabten und Hunger verspürten, schlug die Stimmung gewaltig um.

Oktober. Der Zug, der in Richtung München instradiert war 4 , rollte um ½ 9 Uhr von Ebenfurth ab und traf in Wien am Bahnhof Hütteldorf gegen ½ l Uhr mittags ein, wo meine Gattin und ich abstiegen. Für uns beide war der Fluchtweg zu Ende 5 .