3. Die ersten sowjetischen Vorstöße nach Ostpreußen und die Flucht eines Teiles der ostpreußischen Bevölkerung im Herbst 1944.

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Im Verlauf der russischen Anstrengungen zur Einschließung der im Baltikum von der Memel bis zum Peipussee stehenden deutschen Heeresgruppe Nord kam es Anfang Oktober 1944 zum ersten sowjetischen Vorstoß in das Memelland3). Am 5. Oktober 1944 begannen aus der Gegend südlich von Schaulen russische Angriffe in Richtung Memel und Tilsit. Am 10. Oktober wurde die Stadt Memel eingeschlossen und mit dem sowjetischen Durchbruch zur Ostsee zwischen Memel und Libau die Heeresgruppe Nord von ihrer Landverbindung zum Reich abgeschnitten. Die ganze nördliche Hälfte des Memellandes war verloren gegangen, während gegenüber Tilsit ein ausgedehnter Brückenkopf jenseits der Memel von deutschen Truppen gehalten werden konnte.

Schon wenige Tage später, am 16. Oktober, begann entlang der ca. 140 km breiten Front längs der östlichen Grenze Ostpreußens ein massiver russischer Angriff, der ins Innere Ostpreußens zielte4). Zwischen Ebenrode und der Rominter Heide gelang den Russen am 19. Oktober ein tiefer Einbruch, und am 22. Oktober waren sie südlich Gumbinnen bis an die Angerapp vorgedrungen und bedrohten die Stadt Gumbinnen. Am 23. Oktober fielen Ebenrode im Nordabschnitt und Goldap im Südabschnitt des russischen Einbruchs in die Hände der Sowjettruppen. Auch der Südteil des Memellandes mußte aufgegeben und die deutschen Truppen mußten hinter die Memel zurückgenommen werden. Ein weiteres Vordringen nach Ostpreußen gelang der Roten Armee vorerst jedoch nicht.

Deutsche Gegenangriffe vernichteten Ende Oktober/Anfang November durch Flankenangriffe die sowjetische Angriffsspitze, drängten die Russen von der Angerapp nach Osten zurück und befreiten Goldap am 5. November, ohne jedoch verhindern zu können, daß ein Teil der ostpreußischen Kreise Schloßberg, Gumbinnen, Goldap, der gesamte Kreis Ebenrode und das Memelland in russischer Hand blieben.


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Es war ein Glück, daß trotz des Zögerns der für die Räumung verantwortlichen Parteistellen der größte Teil der Bevölkerung aus diesen Kreisen gerade noch rechtzeitig herauskam. Am wenigsten gelang dies im Memelland.

Erst zwei Tage nach Beginn des sowjetischen Angriffs vom 5. Oktober wurde für die memelländischen Kreise der Räumungsbefehl gegeben. Teile der Bevölkerung befanden sich bereits auf der Flucht, andere gingen nichtsahnend ihrer Arbeit nach. Nachdem die Russen südlich der Stadt Memel zum Haff vorgestoßen waren, war eine Flucht der Bevölkerung aus dem nördlichen Teil des Kreises Memel auf dem Landweg unmöglich geworden. Nur diejenigen, die sich in die Stadt Memel begeben hatten, konnten während der Zeit der Einschließung Memels (Oktober 1944 bis Januar 1945) auf die Kurische Nehrung entrinnen. Die Bevölkerung der weiter südlich gelegenen Gebiete des Memellandes strömte teilweise entlang der Haffküste nach der Windenburger Halbinsel, von wo aus mehrere Tausende nach der Kurischen Nehrung und nach dem Kreis Elchniederung übergesetzt wurden1). Andere versuchten in Richtung Tilsit über die Memel zu kommen. Aber auch dabei wurden noch zahlreiche Flüchtlinge von den russischen Truppen erfaßt. Mindestens 30 000 Menschen, d. i. knapp ein Viertel der Bevölkerung des Memellandes, darunter sowohl deutsch als auch litauisch Sprechende, sind entweder nicht geflohen oder bei der Flucht in russische Hände gefallen2).

Nicht nur im Memelland, auch bei dem russischen Vorstoß an die Angerapp versagte der Reichsverteidigungskommissar, dem die Räumung oblag. Als der Befehlshaber der 4. Armee, General Hoßbach, erkannte, daß ein russischer Angriff bevorstand, beantragte er die Evakuierung der Zivilbevölkerung aus den östlichen Kreisen, jedoch ohne Erfolg. Erst mehrere Tage nach dem Beginn des russischen Angriffs, nachdem ein Teil der östlichen Kreise bereits in russischen Händen war, kamen die Räumungsbefehle. Inzwischen war durch Zusammenarbeit der Militärbefehlshaber mit dem Regierungspräsidenten des Regierungsbezirkes Gumbinnen aus eigener Initiative und gegen den Willen des Gauleiters die Evakuierung der Zivilbevölkerung veranlaßt worden3). Dort, wo dies nicht rechtzeitig oder nicht vollständig gelang, zeigte sich in aller Deutlichkeit, was die deutsche Bevölkerung von den russischen Truppen zu


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erwarten hatte. Am 20. Oktober fuhren südlich von Gumbinnen russische Panzerspitzen bei Großwaltersdorf an der Rominte und bei Nemmersdorf an der Angerapp in Flüchtlingstrecks hinein, und es kam dabei zu furchtbaren Gewalttaten1). Diese Vorfälle erhielten dadurch noch eine besondere Bedeutung, daß sie nach der Rückeroberung dieser Gebiete in aller Form bekanntgemacht wurden, was erheblich dazu beitrug, in der Bevölkerung den Schrecken vor der Roten Armee zu verbreiten und sie zur Flucht anzuspornen.

Der russische Vorstoß bis an die Angerapp trieb fast die gesamte Bevölkerung des Regierungsbezirks Gumbinnen auf die Flucht. Besonders Stadt und Kreis Insterburg standen im Zentrum dieser Fluchtbewegung2). Nicht nur aus den in russischer Hand befindlichen Gebieten, sondern auch aus den Kreisen Lyck, Treuburg, Angerburg, Angerapp, Insterburg, Tilsit-Ragnit und Elchniederung retteten sich große Teile der Bevölkerung nach Westen.

Nachdem sich die Lage Ende Oktober gefestigt und der russische Einbruch eingedämmt war, zog auch die Gauleitung die Konsequenz aus begangenen Fehlern und ordnete auf Drängen der Militärs und der zivilen Verwaltungsbehörden an, daß ein etwa 30 km breiter Streifen hinter der Front von der Zivilbevölkerung geräumt werden müsse. Die Räumungsgrenze verlief von Norden nach Süden etwa längs der Linie Elchwerder am Kurischen Haff—Kreuzingen—Insterburg—Angerburg—Lyck. Das Evakuierungsgebiet umfaßte mit Ausnahme des östlichen Teiles des Kreises Insterburg und Angerapp das gesamte Gebiet des Regierungsbezirkes Gumbinnen3) sowie die östliche Hälfte des zum Regierungsbezirk Allenstein gehörigen Kreises Lyck, d. i. ca. 30 Prozent der Fläche der Provinz Ostpreußen. Über 600 000 Menschen, die in diesem Gebiet wohnten, d. h. ca. 25 Prozent der ostpreußischen Bevölkerung, mußten somit bereits im Oktober 1944 die Heimat verlassen. Von ihnen wurde die Mehrzahl der städtischen und der sonstigen nichtbäuerlichen Bevölkerung, ferner Frauen mit kleinen Kindern, Alte und Kranke nach Sachsen, Thüringen und Pommern verbracht, während die mit Fuhrwerken und Vieh unterwegs befindliche ländliche Bevölkerung in den weiter westlich gelegenen Kreisen Ostpreußens aufgenommen wurde. Zu diesem Zweck war für jeden der geräumten Kreise je ein bestimmter Aufnahmekreis festgelegt, der außer der Bevölkerung und den Verwaltungsbehörden auch das Vieh und die Sachgüter aus den geräumten Kreisen aufzunehmen hatte4).

Da die Unterbringungsmöglichkeiten in den Aufnahmekreisen nicht ausreichten, ging man jedoch bald dazu über, größere Teile der Bevölkerung aus Ostpreußen heraus ins Innere des Reiches zu transportieren. Sehr viele begaben sich auch freiwillig zu Verwandten ins Reich. Überhaupt riefen die Ereignisse im Oktober 1944 in der ostpreußischen Bevölkerung ein starkes Gefühl des Bedrohtseins hervor, wie es die anderen östlichen Gebiete des Reiches zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannten. Dies führte dazu, daß neben der Evakuierung aus dem Regierungsbezirk Gumbinnen auch in anderen


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ostpreußischen Gebieten allmählich eine stille Abwanderung einsetzte, gegen: die auch alle Drohungen der Gauleitung nichts ausrichten konnten. Zusammen mit einem großen Teil der Flüchtlinge aus der evakuierten Zone im. Ostteil der Provinz verließen auch Zehntausende aus den Regierungsbezirken Königsberg und Allenstein das gefährdete Ostpreußen, insbesondere der größte Teil der Bombenevakuierten aus Berlin und Westdeutschland, daneben aber auch Frauen und Kinder sowie viele Personen, die zur Ausübung ihres Berufes nicht an Ostpreußen gebunden waren. Während sich im März 1944 noch 2 346 000 Menschen in Ostpreußen1) befanden, lebten am Ende des Jahres 1944 nur noch l 754 000 Personen in dem noch in deutscher Hand befindlichen ostpreußischen Gebiet2). Etwa eine halbe Million Menschen hatte unter dem Druck der Roten Armee bereits vor der russischen Großoffensive vom Januar 1945 Ostpreußen verlassen und war nach weiter westlich gelegenen Provinzen des Reiches abgewandert, und ca. 100 000 Menschen waren im Memelland und im Regierungsbezirk Gumbinnen in die Hände der sowjetischen Truppen gefallen. Soweit sich die aus Ostpreußen Geflohenen in Pommern und Ostbrandenburg befanden, gerieten sie jedoch noch einmal in den Strudel der Ereignisse hinein, die sich mit dem russischen Vormarsch und der russisch-polnischen Verwaltung für die deutsche Zivilbevölkerung der Gebiete jenseits von Oder und Neiße ergeben sollten.