Nr. 119: Flucht aus der Festung Breslau nach Sachsen; Vorgänge beim dortigen Russeneinmarsch; verhinderte Rückkehr durch polnische Sperrmaß nahmen an der Neiße.

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Erlebnisbericht der Regierungsangestellten Elisabeth Erbrich aus B r e s l a u.

Original, April 1946.

Sonntag, den 21. Januar 1945, wurde den Beamten und Angestellten der Landesbauernschaft Niederschlesien in Breslau klargemacht, daß der Russe bereits in Oberschlesien eingebrochen ist und alle weiblichen Angestellten der Landesbauernschaft am 22. Januar die Stadt Breslau zu verlassen haben, weil diese zur Festung ausgerufen worden war. Die Nachricht kam so plötzlich, daß sich furchtbare Szenen abspielten. Viele Frauen, die ihre Kinder auswärts zur Ausbildung oder in Kinderlandheimen hatten1), bekamen Weinkrämpfe. Die Menschen liefen in den Straßen völlig verwirrt und kopflos herum. Die Straßenbahn war überfüllt, und jeder fuhr in den letzten Tagen kostenlos. Auf dem Hauptbahnhof lagerten Tag und Nacht Flüchtlinge mit ihrer letzten Habe und warteten auf eine Gelegenheit zur Fahrt in das Innere des Reiches. Es war ein herzzerreißender Anblick, den ich nie vergessen werde.


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Am Montag, dem 22. Januar 1945, meinem 20jährigcn Dienstjubiläumstag, kam früh 10.00 Uhr der Wehrmachtsbefehl, die Stadt zu Fuß zu verlassen, weil keine Fahrgelegenheit mehr vorhanden war1). Es wurde dieser Tag der schwerste meines Lebens. Mit wehem Herzen nahm ich Abschied von meiner geliebten Heimatstadt. In meinem Rucksack das Notwendigste, auf dem Leibe Unterwäsche und Kleider, soviel ich anziehen konnte, ein Paar feste Stiefel an den Füßen, in einer großen Handtasche ein gekochtes Huhn und Eßbares für die nächsten Tage, so trat ich meine Flucht an. Lotti, meine treue Berufskollegin, begleitete mich ein Stück des Weges bis zur Gabitzstraße. Pioniere standen an den Oderbrücken, alles zur Sprengung bereitgemacht. Hoch oben in den Lüften, kaum sichtbar, folgen russische Schlachtflieger, Zettel abwerfend: „Deutsche ergebt Euch, es passiert Euch nichts.”

Es war eisiges, sonnenklares Winterwetter und 16 Grad Kälte. Bei Lotte stärkte ich mich noch einmal, und nach einem tränenreichen Abschied marschierte ich gegen 12.30 Uhr mittags Richtung Zobten ab. Ich schloß mich einer Gruppe Frauen an, die dieselbe Richtung hatten2). Wie eine Karawane zogen die Flüchtlinge zu Fuß, auf kleinen Wägelchen und Kinderwagen ihre letzte Habe, sowie Autos und Pferdegespanne wie eine schwarze Schlange im leuchtend weißen Schnee. Hunderttausende waren unterwegs, darunter auch Trecks aus den Dörfern links der Oder, die schon tagelang unterwegs waren. Sie hatten infolge der großen Kälte und des unaufhaltsamen Marsches viele Tote in den Wagen, die sie an den Wegrändern niederlegen mußten, weil die steinhart gefrorene Erde die Toten nicht aufnehmen konnte.

Ich kam um 16.00 Uhr todmüde und mit wunden Füßen in Rößlingen (22 Kilometer von Breslau entfernt) an. Es wurde langsam dunkel, und ich sank in halber Ohnmacht an einem Gartenzaun nieder. Ein junges Mädchen fand mich und nahm mich zu der Frau des Bahnhofsinspektors mit, die mich mit schwarzem Tee stärkte und dafür sorgte, daß ich noch mit einem Güterzuge in Richtung Gnadenfrei mitfahren konnte. Mein Ziel war Sch., wo ich meine Schwester mit ihrem viereinhalbjährigen Buben abholen wollte. Sie war nicht wenig erstaunt, als ich sie in später Abendstunde im Schulhaus Seh. ans Telefon rief. Als ich im Schulhaus ankam, waren dort bereits Flüchtlinge und Schwerverwundete aus Oberschlesien eingetroffen . So zerschlagen und müde ich auch war, half ich noch den Verwundeten, denen der Eiter infolge des langen Fußmarsches in Strömen aus den Wunden lief, so gut ich konnte.


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Es war uns allen klar, daß wir auch hier in Sch. nicht bleiben konnten. Da ich eine Adresse von Verwandten aus Sachsen in der Tasche hatte, bei denen eine Schwägerin evakuiert war, machten wir uns am 24. Januar zusammen mit den Verwundeten auf den Weg nach Mitteldeutschland. Wir kamen mit einem Zug von Gnadenfrei aus bis Liegnitz. Dort hatte der Bahnhof schon Beschuß durch russische Panzer, die schon jenseits der Oder lagen. Es hieß auch hier wieder, schleunigst fort, und wir folgten dem Rat eines alten Bahnbeamten, mit dem gerade leer einlaufenden Zuge nach Kohlfurt zu fahren, um aus der Gefahr herauszukommen. Die Lage auf dem Bahnhof war lebensgefährlich. Die Geschosse schlugen schon in die Bahnhofshalle, und es gab Tote. Unter den Flüchtlingen entstand Panikstimmung. Wir kamen aber wie durch ein Wunder mit unserem kleinen Winfried und dem Gepäck noch in den Zug. Vor den Zugtüren stauten sich die Massen. Einer riß den anderen von der Tür. Kinder schrien laut und wurden von ihren Müttern getrennt. Es war ein Glück, daß wir nur wenig Gepäck hatten. Von Kohlfurt aus erreichten wir dann noch einen Zug nach Görlitz, und von dort hatten wir wieder gleich Anschluß nach Dresden. Am 26. Januar nachmittags beendeten wir unsere Flucht in Kemnitz i. Sachsen.

Unter welchen Umständen sich unsere Fahrt gestaltete, läßt sich nicht beschreiben. Die Züge waren überfüllt. In einem Gepäckwagen hatten wir zwei Tote. Zwei alte Herren waren infolge der Aufregungen an Herzschlag verstorben. Auf dem Bahnhof in Dresden irrten alte Frauen umher ohne jedes Gepäck. Sie hatten den Verstand verloren und wußten nicht mehr ihren Namen und woher sie kamen. Die NSV. brachte sie fort. Beim Einsteigen fiel im Gedränge einer Mutter das Kind aus dem Steckkissen unter den schon abfahrenden Zug. Sie wurde wahnsinnig und mußte im Zug gefesselt werden. Einem kleinen zweijährigen Mädchen, das an Herzschwäche zu sterben drohte, rettete ich das Leben, indem ich es mit Kölnischem Wasser und stark riechenden Salben einrieb.

In Kemnitz brachte uns die NSV. in ein schönes Quartier auf dem Kaßberg, wo uns unsere Quartiergeber ein großes, gut möbliertes Zimmer bereitstellten. Meine Kraft war am Ende. Eine schwere Grippe und Lungenentzündung warf mich auf das Krankenbett. Lange jedoch sollten wir uns auch hier der Ruhe nicht erfreuen. Das Kriegsgespenst in Gestalt von Terrorangriffen auf die schöne Stadt begann am 6. Februar seine Arbeit. Nun mußten wir Tag und Nacht in den Keller. Oft legten wir uns mit Schuhen und Kleidern ins Bett, weil die Angriffe so überraschend kamen. Da kam uns das Schicksal zu Hilfe. Die zwölfjährige Tochter meiner Schwester meldete sich aus dem Erzgebirge. Sie befand sich nur 30 Kilometer von uns entfernt in einem KLV.-Lager1). Am 23. Februar siedelten wir dorthin über. Die Freude des Kindes war grenzenlos. Auch sie hatte viel Schweres auf der Flucht erlebt. Sie war mit ihrer Schule in Hain im Riesengebirge evakuiert und war von dort nach dem Erzgebirge weitertransportiort worden. In dem schönen Erzgebirge verlebten wir nun weitere zehn Wochen ohne ein Zeichen von unseren Angehörigen und Bekannten. . .


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Gegen Ende April wußten wir, daß das Ende des Krieges bevorstand. Durch unser Dorf, das an einer Hauptverkehrsstraße lag, zogen Tag und Nacht die Reste der geschlagenen deutschen Armeen nach dem Sudelengau, Was wir hier sahen, läßt sich in Worten nicht schildern. Völlig abgekämpfte, bis zum Skelett abgemagerte Soldaten und Pferde zogen in vollständiger Auflösung die Straßen weiter gegen Westen. Unser Herz krampfte sich zusammen vor Weh. Jede Frau dachte an ihren Mann oder Sohn oder Bruder.

Vor Kemnitz lag der Ami, der Russe war im Anmarsch auf Dresden. Ein deutscher Melder, der sich am 6. Mai eine Landkarte bei uns erbat, sagte uns, daß der Russe schon im Anmarsch sei und unserem Dorf von Meißen her sich nähere. Nun wußten wir, daß der Russe bei uns einziehen wird. Das ganze Haus war fluchtbereit. Nur wir Flüchtlinge aus Schlesien und ein alter 80jähriger Herr beschlossen, im Haus zu bleiben, weil es zwecklos war, noch weiter zu fliehen. Der Ami ließ auch keine Flüchtlinge mehr durch.

Kurz vor dem Einmarsch der Russen hingen wir zum Zeichen der Ergebung ein langes, weißes Bettuch aus dem Fenster. Dasselbe tat auch zur gleichen Zeit der Apotheker aus dem Haus vis à vis. Wir nahmen noch ein weißes Handtuch mit in den Keller und warteten dort weisungsgemäß die Einnahme des Dorfes ab. Es fiel kein Schuß mehr, weil Einwohner des Dorfes den Russen entgegengingen, um einen weiteren sinnlosen Kampf zu vermeiden. In unseren Keller kamen zu unserem großen Erstaunen eine russische Frau in Uniform und der deutsche Mann, der das Dorf übergeben hatte. Die Frau hatte eine schußbereite Maschinenpistole im Arm und fragte in gebrochenem Deutsch nach Nazis. Sie suchte den Besitzer des Hauses, der als Aktivist bekannt war, aber noch rechtzeitig geflohen war. Nachdem sie sich überzeugt hatte, daß der Gesuchte nicht mehr da war, durften wir den Keller verlassen und mit unserem Gepäck ein Mansardenzimmer beziehen. Die ganze erste Etage des Hauses war für den hohen Stab beschlagnahmt, und auch in das Parterre zogen russische Offiziere vom Stabe ein.

Nun kam die schrecklichste aller Nächte. Die Russen waren im Siegestaumel und durchsuchten die Häuser nach deutschen Soldaten, wobei fast alle Frauen, darunter auch 70jährige Greisinnen und halbe Kinder, ja sogar schwangere Frauen vergewaltigt wurden. In dieser Nacht nahmen sich in unserem Dorf aus Verzweiflung viele das Leben, weil sie den Aufregungen nicht mehr gewachsen waren. Darunter befanden sich auch eine schlesische Flüchtlingsfrau mit Schwester und zwei Kindern und die Bahnhofswirtin nebst deren Dienstmädchen. Eine 70jährige Frau sprang nach der Vergewaltigung aus dem Fenster. Die Hilfeschreie der vergewaltigten Frauen gellten durch die Nacht. Eine Verwandte von mir, Mutter von vier Kindern, wurde vor den Augen ihrer Kinder und ihrer alten Mutter von zwei Mongolen vergewaltigt. Die meisten Häuser wurden geplündert, und selbst Flüchtlinge blieben davon nicht verschont. Ca. vierzig mal mußten wir in der Nacht am 7. Mai die Tür öffnen. Uns selbst geschah aber wie durch ein Wunder nichts.


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Am nächsten Tag zog der hohe russische Stab in die beschlagnahmte Wohnung, und damit hatten wir Ruhe vor Eindringlingen. Die Lebensmittelkarten wurden weiter ausgegeben, und die Gemeinde sorgte so gut sie konnte für eine gerechte Verteilung der noch verbliebenen Reste an Lebensmitteln. Es war alles sehr knapp, vor allen Dingen Brot, und wir hatten entsetzlich viel Hunger. Es gab für Erwachsene ein Dreipfundbrot und für Kinder ein Zweipfundbrot für die ganze Woche, später für zehn Tage.

Am 30. Mai 1945 kam ein Anruf des kommissarischen Bürgermeisters an die Schlesier, daß wir binnen fünf Tagen das Dorf zu verlassen hätten und in die Heimat zurückkehren könnten. Wir besorgten uns zwei Handwagen und zogen mit dem Guhrauer Treck Richtung Freiberg — Dresden zu Fuß gen Osten, Richtung Heimat. Verpflegung hatten wir nur wenig, und wir lebten unterwegs nur von dem, was uns mitleidige Menschen verkauften oder schenkten.

Von dem Treck mußten wir uns schon am ersten Tage trennen, weil wir mit dem Tempo der Pferde nicht lange Schritt halten konnten. Die Eisenbahn konnten wir nur auf kurzen Strecken benutzen, weil alles durch den Krieg zerschlagen war. So kamen wir über Bischofswerda nach Bautzen, wo wir im dortigen Flüchtlingslager vom Roten Kreuz aufgenommen wurden. Es waren auch schwerverwundete deutsche Soldaten in dem Lager untergebracht. In der Nacht erfuhren wir, daß Typhus ausgebrochen war, und wir brachen schleunigst wieder auf. Wir gelangten bis nach Kemnitz O/L, in die Nähe von Görlitz. Durch das verseuchte Wasser in Bautzen hatten wir alle vier schweren Darmkatarrh. Wir mußten daher acht Tage bei einem Bauern rasten, der uns auch ein Zimmer bereitstellte. Nachdem wir uns einigermaßen wieder erholt hatten, zogen wir weiter in Richtung Görlitz. Man nannte damals die langen Flüchtlingskarawanen scherzhafterweise „die Ausflügler”. Als wir für das Passieren der Neißebrücke beim polnischen Kommandanten einen Passierschein verlangten, mußten wir hören, daß unsere Reise zwecklos war, weil die Polen die Grenze geschlossen hatten und keine Deutschen mehr nach Schlesien hineinließen, im Gegenteil, die noch verbliebenen auswiesen1).

Nun mußten wir an der Grenze unserer vielgeliebten Heimat wieder kehrtmachen. Was das bedeutete, kann nur der verstehen, der die Heimat liebt und nicht mehr in das Land der Väter zurückkehren darf. Wieder nahmen sich viele Rückwanderer das Leben, weil sie die Kraft nicht mehr fanden, noch einmal in eine Ungewisse Zukunft und ohne Ziel zu wandern.


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Bettelnd und hungernd kamen wir am 5. Juli wieder in unserem Dorf im Erzgebirge an.

Anschließend schildert Vfn. ihre spätere Überführung nach Westdeutschland.