Nr. 15: Die Lage in Hermannstadt nach der rumänischen Kapitulation; Abreise einer Volksdeutschen Arztfamilie nach Temeschburg; Flucht durch das serbische Banat nach West-Ungarn; Lageraufenthalt und Weiterfahrt nach Wien.

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Erlebnisbericht des Arztes Dr. R. H. aus Herraansistadt (Sibiu) in Süd-Siebenbürgen.

Original, 24.April 1956, 6 Seiten, mschr.

Nach einigen grundsätzlichen Bemerkungen über die rumänische Kapitulation am 23. August 1944 berichtet der Vf. zur Lage in Hermannstadt:

Nur den Deutschen wurde die Benützung des Telegraphen und des interurbanen Telephones verboten. Die Radioapparate wurden in 2 Lagern gesammelt. Es wurde angeordnet, daß sich nicht nur die Reichsdeutschen, sondern auch die gesamte deutsche Bevölkerung bei der Polizei zu melden habe, um in Listen eingetragen zu werden.

Am 27. Aug. 44 war die Dovada, oder Bescheinigung, daß man sich bei der Polizei gemeldet habe, datiert. Auf dieser Bescheinigung stand drauf: „Domnul ..., rumänischer Untertane, Deutscher nach Geburt, wohnhaft in ..., hat sich bei der Polizei Hermannstadt zur Kontrolle gemeldet. Wenn er den Befehl erhält, ist er verpflichtet, innerhalb von zwei Stunden sich den Polizeiorganen zu stellen. Hermannstadt, den 27. Aug. 44.„

Die Wenigsten wußten, was das zu bedeuten hatte. Doch gab es viele, die mit der Anmeldung bis gegen Abend warteten, um nicht als die ersten auf der Liste zu erscheinen, da man nicht wissen konnte, was diese Registrierung bezweckte1.


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Jeder suchte Rat und Anlehnung bei den deutschen, ihm zugänglichen offiziellen Stellen, der Kirche und Volksgruppe, und Bekannten. Die Nachrichten, die von der vordringenden russischen Truppe, die gegen Bukarest marschierte, kamen, waren recht unerfreulich, ja manchmal alarmierend. Es trafen auch bald flüchtende rumänische Frauen in Siebenbürgen, ein, die vor den russischen Soldaten die Flucht ergriffen hatten. Die Rumänen selber und auch die rumänischen Truppen waren von dem Umschwung so überrascht, daß sie eine ruhig abwartende Stellung bezogen. Die in Hermannstadt stationierten deutschen Lehrtruppen sammelten sich in der Innenstadt im Viereck Honterusgasse, Wiesengasse, Wintergasse, Kleine-Erde, Schillerplatz. Dieses Viereck wurde mit Maschinengewehren gesichert, jedoch war der Verkehr nicht unterbrochen. Hier sammelte sich alles, was in der Umgebung Hermannstadts auf Urlaub oder abkommandiert gewesen war, und eines Nachts waren die deutschen Truppen nicht mehr vorhanden. Niemand wußte, wohin sie abgezogen waren.

Der rumänische Sender des deutschen Rundfunks brachte rumänische Aufrufe: Haltet aus, bald sind wir bei euch! etc. Dazu die rumänischen Kampflieder; keiner wußte, woran er war.

Anfangs war die Verbindung mit Bukarest nur durch Funkspruch möglich. — Die Erv/artung der Rumänen, daß von Mazedonien her ein englischer Vorstoß nach Mitteleuropa, dem Vordringen der russischen Truppen einen Riegel vorschieben würde, hatte sich zu ihrem Entsetzen nicht erfüllt.

Für uns war die Situation keineswegs klar. Ich nahm an, daß Siebenbürgen von den deutschen Truppen gehalten werde, wenn es im Augenblick auch nicht danach aussah, so konnte ich mir doch nicht gut vorstellen, daß die deutsche Heeresleitung Siebenbürgen, die natürliche Festung, sich nicht bald holen würde.

Für mich gab es dabei die Überlegung, daß in diesem Falle Siebenbürgen Kampfplatz werden würde, und ich überlegte, wie ich meine Familie, meine Frau und 5 Kinder im Alter von 1½ und 13 Jahren über diese Zeit hinweg sichern könnte. Die Fahrt aus der Stadt mit Gefährt war nicht mehr ge-


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stattet. Für die Reisen auf der Eisenbahn wurden eigene Erlaubnisscheine bei der Polizeipräfektur ausgegeben, die man sich nur schwer beschaffen konnte.

Ich ließ mir für meine Familie eine Autorisation zur Reise nach Temeschburg von dem mir bekannten Polizeipräfekten ausstellen. Temeschburg war nach meinen Vorstellungen weit genug westlich gelegen, um nicht in der direkten Kampfzone zu sein. Mit der Familie eines Kollegen, der vier Kinder hatte, charterten wir für den Abend des 30. Aug. zwei Abteile in dem von Hermannstadt nach Temeschburg durchlaufenden Wagen der C.Fe.Re.1. Da ich zu dieser Zeit bis zum 4. Sept. für den Dienst im Garnisonspital (Sicherung des augenärztlichen Dienstes) requiriert war, wollte ich diesen Dienst nicht verlassen und fuhr daher nicht mit.

Ich gab meiner Frau den Auftrag, die Kinder zu einer Verwandten nach Temeschburg zu bringen und dort auf mich zu warten.

Die nächsten fünf Tage waren qualvoll. Ich konnte keine Nachricht nach Temeschburg schicken, noch von dort erhalten. Es gelang mir aber, über eine rumänische Patientin, deren Mann in der Telephonzentrale in Temeschburg arbeitete, wenigstens zu erfahren, daß meine Frau mit den Kindern angekommen sei.

In der Zeit zwischen dem 30. Aug. und 5. Sept. zogen die Russen durch die Moldau auf Bukarest zu und an der Donau entlang, die ganze Walachei durch und dem Eisernen Tor-Paß zu. Siebenbürgen ließen sie rechts liegen. Meine Überlegung, meine Familie nach Temeschburg abzusetzen, erwies sich als falsch. Es sah so aus, als ob die Russen früher in Temeschburg als in Hermannstadt sein würden.

Am 4. Sept. fuhr ich von Hermannstadt ab, um nach Temeschburg zu gelangen. Der Zug war unvorstellbar überfüllt. Die Soldaten hingen wie die Trauben an den Trittbrettern, auf der Lokomotive und auf den Dächern standen und lagen sie. Es gelang mir noch, in ein Abteil 1. Klasse zuzusteigen. Die Fahrt war sehr langsam. Bei Coşlariu wurde der Zug von 2 deutschen Tieffliegern angegriffen, die Maschine kaputtgeschossen und eine Menge Soldaten verwundet. Die Brücke über den Mieresch, die vor unseren Augen von deutschen Stukas angegriffen wurde, blieb ganz. Um 9 Uhr abends, nachdem es als aussichtslos angesehen werden mußte, daß wir eine neue Lokomotive bekommen würden, ging ich mit einer Gruppe Soldaten, zum Teil schon in Zivil, nach Karlsburg. Ich charterte mir einen Zivilisten zum Tragen meines Rucksackes und Koffers. Auf der Straße nach Karlsburg ging mit uns ein Flüchtlingsstrom von Rumänien aus der Gegend von Klausenburg und Torda. Diese erzählten, daß die Ungarn einen Vorstoß nach Siebenbürgen machen und vor Torda stünden. Mein Bestreben war es, möglichst rasch nach Temeschburg zu kommen, um meine Familie, je nach der Situation, zurückzuholen oder weiter nach dem Westen nach Wien zu bringen. In Wien waren meine Schwiegereltern, und wir konnten bei ihnen ohne weiteres unterkommen. Meine Flucht war also von vornherein etappenweise geplant und durchgeführt und war nicht von vornherein nach Deutschland gerichtet.


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Am 7. Sept. 44 kam ich in Temeschburg an. Ich benützte von Karlsburg nach Temeschburg einen ad hoc zusammengestellten Zug, der alles weiterbeförderte, was an den einzelnen Stationen an rumänischem Militär liegengeblieben war oder sich dort ansammelte. Ich fuhr in einem Waggon, in dem rumänische Offiziersanwärter fuhren. Diese nahmen mich erst feindselig zur Kenntnis. Aus ihren späteren Entschuldigungen nach ihrer Einladung, in ihrem Abteil Platz zu nehmen, erfuhr ich, daß sie mich für einen Juden gehalten hatten.

Heimkehrerstimmung, Gegröhle und Furcht vor den Russen beherrschte diese Massen.

In Temeschburg angekommen, fand ich meine Familie in vollster Aktivität, um die Möglichkeiten einer Flucht über die rumänische Grenze zu erkunden. Meine Frau war in Hatzfeld — an der Grenze —- gewesen und hatte alle Möglichkeiten erkundet zur Flucht mit den Kindern über die rumänisch-serbische Grenze erwogen.

Temeschburg war ein Sammelplatz für eine Menge von Flüchtlingen, die alle über die Grenze wollten. Die Geschäfte der Grenzgänger blühten. Die Taxen wurden von Tag zu Tag höher. Es gab in Temeschburg ein paar selbstlose und hilfsbereite Landsleute, bei denen die neuesten Nachrichten von der Grenze zu erfahren waren. Ein Grenzübertritt war für uns unter den gegebenen Umständen nicht möglich. Erstens mußte man bei Nacht und zu Fuß über die Grenze gehen. Wir hätten bei unserer 7köpfigen Familie kaum etwas an Gepäck mitnehmen können. Außerdem weigerte sich jeder Grenzgänger, das Risiko auf sich zu nehmen mit dem l½jährigen Kind in der Nacht durch das Kukuruzfeld zu gehen. Alle fürchteten, daß die Kleine im gegebenen Augenblick vor Furcht schreien oder weinen könnte.

Am 7. Sept. hörten wir, daß die Russen in Hermannstadt eingezogen seien. Eine Rückkehr kam also für uns nicht mehr in Frage. Eine Flucht aus der Stadt Temeschburg über die Grenze war nicht zu bewerkstelligen. Deswegen fuhren wir am Abend des 8. 9. 44 nach Gertianosch, das nahe an der Grenze liegt. Wir kamen hier bei einem Bauern im Ausgeding, 2 Zimmer und Küche, gut unter.

Die Verhandlungen mit dem Grenzgänger, der bei seinem guten Verdienst ständig unter Alkohol stand, waren unerquicklich. Ich konnte mich nicht entschließen, das Leben meiner Familie einem solchen Menschen anzuvertrauen. Täglich kamen Berichte und Gerüchte von Überfällen an der Grenze. Bald wurden eine Frau und ein Kind angeschossen, bald wurden Flüchtlinge auf der serbischen Seite von Partisanen überfallen und ausgeraubt.

Unter dem Einfluß der immer neu zuströmenden Flüchtlinge wurden die Dorfbewohner, die anfangs nicht an eine Flucht dachten, unruhig.

Wir hofften, daß die Grenze von serbischer Seite her aufgerollt wird. Ich bemühte mich daher, Pferde und Wagen zvi kaufen, konnte aber keine bekommen, weil die Bauern mit ihren Gespannen requiriert waren und außerhalb der Gemeinde Vorspanndienste leisten mußten.

Ich traf einen russischen Grafen, einen Emigranten von 1917, der vor den Bolschewiken, erst nach Bessarabien, dann in der nächsten Etappe nach Rumänien und jetzt vor den herannahenden Russen an die Westgrenze


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Rumäniens geflohen war. Der hatte 2 Wagen mit 4 Pferden. Mit diesem verhandelte ich und wollte ihm 2 Pferde und l Wagen abkaufen. Er lehnte den Verkauf ab, versprach mir aber, meine Familie und mich samt dem Gepäck nach Groß-Kikinda zu bringen, wenn ich ihn durch die deutschen Linien durchschleusen würde. Ich übernahm es, ihn nach Groß-Kikinda durchzuschleusen.

Eines Tages hörten wir, daß die Grenzgendarmen in den Ort gekommen seien, weil sie von jenseits der Grenze einen Angriff fürchteten. Am nächsten Tag waren sie aber wieder auf ihrem Posten. Unser Leben war von großer Unruhe erfüllt. Wenn wir heute verzweifelten, ließen uns die Nachrichten des Morgens neue Hoffnungen schöpfen. Inzwischen lief aber das Leben weiter. Ich operierte sogar einen Flüchtling am grauen Star und konnte diesen Patienten noch soweit versorgen, daß er mich sehend verließ. Wir kauften bei den Bauern Räucherschinken, Speck und Fett als Nahrungsmittel, die sich gut hielten.

Am Morgen des 15. Sept. 44 wurden wir durch Schüsse in den Straßen von Gertianosch aufgeweckt. Wie berichtet wurde, sprengte eine kleine Gruppe von deutschen Hilfstruppen von einem Grenzposten zum anderen und verscheuchte diese. Die Grenze war offen1. In Gertianosch zog ein Stoßtrupp, zusammengewürfelt aus Soldaten und Zivilisten mit weißen Armbinden, etwa 100 Mann, die hinter einem Panzer nach Temeschburg marschierten. Ein jeder trug ein Gewehr und eine Handgranate bei sich. Junge Leute aus der Umgebung marschierten auch mit. Sie alle hofften, Temeschburg im Handstreich zu erobern. Ob sie mit anderen Gruppen noch Zusammenhang hatten, konnten ich nicht feststellen. Für uns war das Wichtigste, daß die Grenze nun offen war und wir abfahren konnten. Wir fuhren noch am selben Abend mit Sack und Pack nach Hatzfeld. Hier übernachteten wir bei einem Bauern, der selber zur Flucht am nächsten Tag packte. Das ganze Dorf packte. In jedem Hof stand ein Plachenwagen, voll bepackt und behängt, für den Treck am nächsten Morgen bereit. Alle hatten wir die Hoffnung, bald wieder zurückkehren zu können..

Am 16. Sept. brachen wir vim ½7 Uhr auf und fuhren nach Heudorf und Maßdorf. Hier überholten wir die Pferdewagentrecks dieser beiden Ortschaften. Wir schlössen uns den Trecks nicht an, sondern fuhren ihnen voraus, weil wir die Unbeholfenheit und Langsamkeit der Trecks fürchteten, obwohl wir gewarnt wurden, daß auf der Strecke nach Kikinda erst in der vergangenen Nacht Partisanen Trecks überfallen hätten. Wir kamen unbehelligt nach einer sehr staubigen und heißen Fahrt nachmittags in Groß-Kikinda an. In Groß-Kikinda meldeten wir uns bei der Volksgruppe. Die Stelle erklärte uns, daß von hier aus eine Befreiung Temeschburgs geplant sei. Die Männer wurden in eine Kaserne gebracht, die Frauen und Kinder in einem Kindergarten einquartiert. Bis zum Tage darauf dauerte es, bis wir Männer freigegeben wurden und die Sinnlosigkeit eines solchen Unternehmens eingesehen wurde.

Wir stellten einen Flüchtlingszug zusammen, der alles mitnehmen konnte, was schon in Kikinda an Flüchtlingen eingetroffen war. Offene Güterwagen


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wurden uns vom Stationsvorsteher zur Verfügung gestellt. Am 18. 9. früh fuhren wir ab. In diesem Zug waren viele alte Leute, die von ihren Kindern in den Zug gesetzt wurden, damit sie eine Strecke bis Bečkerek1 bequemer fahren könnten als auf dem Treck. Die armen Alten mußten dann mit dem, was sie auf dem Leibe hatten, weiterfahren, weil der Treck noch nicht da war und sie nicht allein in Bečkerek bleiben wollten. Ein alter Bauer starb auf der Fahrt.

Die Fahrt ging zwischen Donau vind Theiß um Budapest herum nach Györ-Raab. Dort hörten wir, daß die Deutschen aus dem Südosten nach Westungarn umgesiedelt werden und nicht nach Deutschland hineindürften. Wir empfanden dieses als ein schreiendes Unrecht. Wir waren auf der Fahrt aber zu einer solchen Schicksalsgemeinschaft verbunden, daß wir es nicht übei uns brachten, den Haufen alleine zu lassen und abzuhauen. Wir fuhren nach Papa und wurden dort im Stadtsaal untergebracht. Im Stadtsaal war auf dem Boden Stroh gestreut, und jede Familie suchte sich zurechtzulegen. Zu Häupten und zu Füßen hatten sie das Gepäck — dazwischen lagen sie, mit ihren Mänteln zugedeckt — hochkant. Der Raum war für die 330 Flüchtlinge viel zu klein. Diesen Menschen stand ein unbeleuchtetes Klo zur Verfügung, dessen Spülung nicht funktionierte. Der Aufgang zum Saal und die Umgebung des Klo's war am nächsten Morgen nicht zu beschreiben. Abhilfe wurde geschaffen dadurch, daß ein Teil der Familien in dem Saal der Spinnerei untergebracht wurde. Ein Unterscharführer traf ein, um die Verteilung der Familien in die deutschen Gemeinden der Umgebung vorzunehmen. Er machte es sehr geschickt, obwohl er sich unüberwindlichen Schwierigkeiten gegenübersah. Ich konnte in den nächsten Tagen die neuen Quartiere der Familien bei den Bauern sehen. Sie waren unterschiedlich. Die Bauern waren in der Hauptsache willig und hilfsbereit. Da die ganze Aktion nicht die Billigung der ungarischen Behörden hatte, haben sich viele Einheimische davor gefürchtet, bei dem Ortsgendarmen unangenehm aufzufallen. Die Flüchtlinge hatten von zu Hause noch Schinken, Fett und Speck mit. Not hatte bisher keiner gelitten. Durch die Umsiedlung lockerte sich in Papa die Raumnot. Auch aus dem Lager kamen mit der Zeit viele in Privatquartieren unter. Ein Teil blieb aber noch in den ursprünglichen Quartieren. Eine Entbindung einer toten Frühgeburt mußte ich auf dem Küchentisch leiten, weil die Gebärende in der Nacht nicht mehr ins Krankenhaus geschafft werden konnte. Es ging für die Mutter gut aus.

Von Ödenburg wurde mir der zuständige Lagerarzt zugesagt und damit meine Ablösung und Abreise nach Wien in die Wege geleitet. Als der Lagerarzt ankam, fuhr ich am 13. 10. nach Wien und brachte meine Familie bei meinen Schwiegereltern unter.

Im Schlußteìl seines Berichts schildert der Vf. die Übersiedlung seiner Familie nach Danzig, wo er noch im Dezember 1944 eine Privatklinik übernahm, die Flucht aus der bereits von sowjetischen Truppen eingeschlossenen Stadt wenige Monate später und die iveiteren Erlebnisse bis zum Ende des Krieges.


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