Nr. 23: Die Evakuierung der Volksdeutschen aus Nord-Siebenbürgen im September 1944; die Unterbringung der Flüchtlinge in Österreich und ihre erneute Evakuierung im Frühjahr 1945.

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Bericht des B. S. aus B i s t r i t z (Bistriţa), Judeţ Năsăud (Naßod) in Nord-Siebenbürgen.

Original, 24. Februar 1956, 16 Seiten, hschr.

Ende März 1944 fluteten die ersten in Auflösung begriffenen deutschen Truppenverbände durch die Karpatenpässe in unsere siebenbürgische Heimat (Dorna-Rodna-Paß). Das war für uns Nordsiebenbürger ein böses Vorzeichen. Es bemächtigte sich eine Unruhe der Bevölkerung. Seit der Woche nach dem Wiener Schiedsspruch (30. 8. 40), die uns in volle Verantwortung rief, war unsere Lage nie so ernst.

Mitte April 1944 erreichte der Treck der Transnistriendeutschen unser Heimatgebiet1. Rund 63 000 Menschen kamen, nach Wochen härtester Anstrengungen, mit ihren Pferdegespannen (Panjewagen), Milchkühe daran festgebunden, bei uns an. Ihr Zustand war bedauernswert. Viele Kranke unter ihnen. Auf einer großen Wiese am Schognerfluß am Rande der Gemeinde Szeretfalva lagerten sie und erfuhren unsere Betreuung. Das sowohl hinsichtlich der Verpflegung und Bekleidung als auch sanitär durch unsere Ärzte.

Das erste Zusammentreffen mit diesen Brüdern ließ unser nahes Schicksal erkennen. Vom 23. April 44 an konnte ich den Plan einer sorgfältigen Vorbereitung unserer Flucht nicht mehr loswerden. Im engsten Mitarbeiterkreis begannen die Beratungen, um im Ernstfalle eine überstürzte Flucht zu meiden2. Wir machten uns Gedanken über die Art der Transportmittel


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und waren dabei sehr schnell der Überzeugung, daß ein Gespanntreck immer noch das sicherste Mittel sei. Als den Transnistriendeutschen im Räume Burglos (Dej) die Pferde abgenommen wurden, weil sie in Eisenbahntransporten ins Reich kamen, haben wir manche Landsleute geradezu gezwungen, Pferde zu übernehmen. Sie erkannten unsere Maßnahme nicht, und es war auch gut, ansonsten wäre eine vorzeitige Unruhe ausgebrochen.

Treckgruppen worden eingeteilt, deren verantwortliche Leiter bestimmt; Zusammenstellungen bezüglich Verpflegung, Bekleidung und dgl. fehlten auch nicht. Unsere Pläne wurden schließlich in einem erweiterten Amtswalterkreis und mit den zuständigen Stellen in Budapest (Volksgruppenführung und Reichsstellen) abgesprochen1.

Die Ereignisse des 23. August 44, Kapitulation Rumäniens verbunden mit dem Durcheinander der aufgelösten Wehrmachtsteile, verfinsterten unsere Lage schlagartig. Nunmehr riefen wir die verantwortlichen Männer unserer Gemeinden auf Kreisebene (Bistritz und Sächsisch-Regen) zusammen und berieten die Lage. Dabei handelte es sich um die beiden Möglichkeiten, entweder an Ort und Stelle zu bleibers, auch dann, wenn unser Gebiet Kampfplatz wurde und unter russische Herrschaft kam, oder, sobald die zuständigen Wehrmachtkommandostellen den Augenblick für gekommen hielten, die Heimat zu verlassen. Nicht zuletzt im Hinblick darauf, daß viele unserer Männer und Söhne in den Reihen der Waffen-SS, also deutscher Einheiten dienten, wurde einmütig beschlossen, die letzten Fluchtvorbereitungen zu treffen, um abrücken zu können. Dieser schwerwiegende Beschluß wurde keineswegs leichtfertig gefaßt, waren wir doch die vorgeschobensten deutschen Menschen im Osten.

Die militärische Lage verschlechterte sich Tag für Tag. Ratlosigkeit beflügelte sich vieler Menschen. In den Strom zurückflutender Einheiten mündeten flüchtende Menschen aus Südsiebenbürgen und dem rumänischen Altreich. Nordsiebenbürgen glich einem Heerlager. Unsere treuesten Verbündeten waren die Karpaten, ansonsten hätte die russische Armee diesen Raum überrannt.

Der mit der „Befreiung” Südsiebenbürgens beauftragte Obergruppenführer Phleps, ein Siebenbürger Sachse, erhielt zugleich den Befehl, den Zeitpunkt unserer Evakuierung mitzubestimmen. Das war beruhigend, weil wir wußten, daß er aus seiner Verbundenheit mit Land und Menschen keine übereilte Entscheidung treffen würde. Am Montag, dem 11. September 44, war es dann so weit. Mütter mit ihren Kindern, sofern sie nicht im Treck mitziehen wollten, verließen mit dem Zug oder LKW unsere liebe Heimat. Meine Frau und fünf Kinder gehörten auch zu dieser Gruppe. Niemand von uns ahnte, daß es ein Abschied für immer sein könnte. Obergruppenführer Phleps und General Zellner hielten den Augenblick der Evakuierung


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aus militärischen Gründen für gekommen. Budapest riet noch abzuwarten, während die ungarischen Behörden entschieden gegen eine Evakuierung-Flucht waren. Ich fuhr nach Budapest, um die Situation zu klären. Bevor ich noch zurückkehrte, hatte Herr Phleps für den Kreis Sächsisch-Regen am Donnerstag, dem 14. September, den Befehl zum Aufbruch gegeben1. Sonnabend schloß sich der Kreis Nösen an.

Trotz aller Vorbereitungen gab es zunächst ein kleines Durcheinander. Die Hauptstraßen waren von der Wehrmacht belegt, so daß unsere Trecks schwierige Nebenwege befahren mußten. Schon am ersten Tag ergaben sich z. T. Schwierigkeiten. Die Wagen waren überladen und brachen teilweise zusammen. Ich fuhr durch die Gemeinden Deutsch-Budak, Groß-Schogen, Botsch, Deutsch-Zepling, Sächsisch-Regen, Tekendorf, Dürrbach, Mönchsdorf und Heidendorf. Wo am Vorabend eine versammelte Gemeinde zum letzten Gottesdienst kam und Abschied nahm, da standen verwaiste Höfe. Brüllende Rinder liefen über Straßen und Felder, herrenlose Schweine wurden von Landsern niedergeschossen und verspeist. Zigeuner plünderten und suchten vor allen Dingen die Weinkeller auf. Die verlassenen Dörfer schrien vor Sehnsucht, der traurigste Eindruck meines bisherigen Lebens.

Tag und Nacht war ich unterwegs. Die Wagenkolonnen fanden sich besser zurecht. Es zeigte sich sehr bald, daß die Pferdegespanne sich von Kuh-, Ochsen- und Büffelgespannen absetzen mußten. Die Anfangsschwierigkeiten waren überwunden. Zu bewundern war die Haltung unserer Leute. Sie trugen ihr schweres Los im Vertrauen auf Gottes Hilfe. Gesangbuch und Bibel waren ihre treuen Begleiter, die sonntags auf offenem Felde zum Gottesdienst riefen, [so daß] die Menschen ihre Sonntagskleidung aus Truhen und Kisten holten, um Gott die „gebührende” Ehre zu geben, wie mir ein altes Mütterchen zuflüsterte.

Große Sorge bereitete die Verpflegung für Mensch und Tier. Es ist oft vorgekommen, daß für die Tiere Futter vom Felde gestohlen wurde. Alle gegebenen Versprechen verschiedenster Dienststellen blieben aus. Dadurch bemächtigte sich eine berechtigte Unzufriedenheit unserer Landsleute. Ich könnte über die vergeblichen Bemühungen und Verhandlungen ein wahres Klagelied anstimmen.. Wirkliche Hilfe gewährten uns Wehrmachtsstellen der 6. und 8. Armee. Mit deren Unterstützung konnten einige Verpflegungsstationen eingerichtet werden.

Im Sathmarer Raum angelangt, sollten wir untergebracht werden. In den Tagen erfolgten die ersten größeren Luftangriffe auf Sathmar, wo wir die ersten Todesopfer zu beklagen hatten. Die tapfere Haltung unserer Frauen kann nicht genug hervorgehoben werden. Auf den meisten Wagen waren doch nur Frauen und Kinder, hie und da ein alter Mann oder beurlaubter Soldat. Die Entwicklung der militärischen Lage gebot, weiterzuziehen, Ein Beschluß der ungarischen Regierung verbot den Übergang der Theiß. Es durfte kein Flüchtling weiterziehen. Damit enstand für uns, besonders für mich in meiner Verantwortung, eine sehr ernste Situation. Wir kamen nach Tiszafüred, wo gerade eine Pontonbrücke fertiggestellt wurde. Leider


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kann ich den genauen Tag nicht angeben, da meine ganzen Tagebuchaufzeichnungen verloren sind. Es war Anfang Oktober. Rückzugkolonnen und unsere Flüchtlingstrecks stauten sich an dem Ostufer der Theiß. Der Übergang mußte ermöglicht werden. Wir zogen unsere Trecks eng zusammen. 4 Uhr morgens wurde die Brücke fertig. Zuerst wurden Hengste des staatlichen Gestütes in Sicherheit gebracht, anschließend überschritten einzelne Wehrmachtseinheiten den Fluß. Am Spätnachmittag sollten wir einen Versuch unternehmen. Ein Wehrmachtszug bildete die Spitze, und daran schloß sich unser Treck an, der nicht mehr abriß und bis in die Morgenstunden die Theißbrücke belegte. Ich werde den Augenblick nie vergessen, wie kurz vor Mitternacht meine ehemaligen Gemeindeglieder von Deutsch-Budak die Theiß überquerten und wir uns mit Tränen in den Augen mitten auf der Brücke grüßten.

Die Lebensmittelvorräte nahmen ab, und so mußte ausreichende Versorgung sichergestellt werden. In Waitzen (Vác) sollte das geschehen. Auch diesmal traten Schwierigkeiten auf. Es blieb uns nichts anderes übrig, als einen Treck zu stoppen und die Verpflegung mit Pferd und Wagen 14 Tage lang von Budapest nach Waitzen — das waren täglich 70 km (35 + 35) heranzufahren. Die Niedereidischer leisteten diesen Dienst1.


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Langsam aber sicher näherten sich unsere Trecks, wobei selbst die Kuh- und Büffelwagen gut durchhielten, der österreichisch-ungarischen Grenze. Hier hieß es: Halten! Die Rast war für Mensch und Tier dringend geboten.

Einzelfamilien, die mit LKW und Eisenbahn abgefahren waren, fanden wir bereits in diesem Raum. Da gab es ein zweites Wiedersehn mit meiner Familie. Wahrend wir annahmen, daß die Eisenbahntransporte viel schneller am Ziel sein würden, bewahrheitete sich das Gegenteil. Es war schwierig, diese Transporte zu finden. Oft lag ein Zug, infolge Verstopfung der Strecke, tagelang fest. Manchmal wurde die Lokomotive nicht zur Verfügung gestellt. So kam es dann auch, daß die Zahl der Todesopfer bei den Eisenbahntransporten, infolge der Luftangriffe, größer war als bei den Trecks. Ein weiterer Nachteil stellte sich ein. Die Familien wurden z. T. völlig auseinandergerissen, da einige Angehörige in die Tscheche!, andere nach Deutschland und weitere nach Österreich kamen. So wurde unsere Planung teilweise zunichte. Die Ereignisse überstürzten sich zu sehr.

Noch befand sich der größte Teil unserer Landsleute auf ungarischem Boden, das hatte seine staatspolitische Bedeutung. Rechtsansprüche an den ungarischen Staat waren daher noch möglich. Pensionen, Renten und dgl. sollten geregelt werden. Doch bevor unsere Gedanken ausreifen konnten, sprach die Zeit eine sehr deutliche Sprache. Der westungarische Raum wurde von Militär und Zivilisten derart überlaufen, daß ein weiteres Verbleiben daselbst nicht mehr möglich war. So baten wir um Einlaß in das Deutsche Reich. Tage vergingen, bis uns endlich der Raum Niederdonau zugewiesen wurde. In Zusammenarbeit mit den Wiener Stellen teilten wir unseren Treck auf und den einzelnen Kreisen zu. Im November 44 überschritten wir die Grenze. Dabei geschah etwas sehr Unliebsames. Unsere Landsleute mußten beim Grenzübergang das Geld, die Pengö-Beträge, abgeben und sollten von Wien aus die Wechselbeträge ausgezahlt bekommen. Leider wurde dieses Versprechen nicht eingelöst. Es bedurfte langwieriger Verhandlungen, um eine Teilzahlung zu ermöglichen.

Viel schlimmer war zunächst ein anderer Umstand. Als unsere Trecks in dem zugewiesenen Aufnahmegebiet ankamen, fanden sie die besten Plätze bereits belegt. Kleine Trecks aus Jugoslawien, Ungarn und Südsiebenbürgen waren in der Zwischenzeit an Ort und Stelle untergebracht. So kam es, daß unsere Gemeinden noch mehr auseinandergerissen wurden.

Der Vf. erwähnt im folgenden das Schicksal seiner eigenen Familie und geht kurz auf seinen Einsatz in der Betreuung der Nord-Siebenbürger Flüchtlinge im Winter 1944/45 ein.

In Nieder- und Oberdonau, Steiermark, Tirol, Tschechoslowakei, Schlesien, Sachsen und Bayern waren rund 30 000 Nordsiebenbürger untergekommen. Einige sogar in Berlin und Hamburg. Trotz aller Entfernungen und der damaligen Schwierigkeiten suchten alle in Verbindung zu bleiben, jeder wollte im Kreise seiner Freunde diese Notzeit durchstehen. Überall


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wohin ich kam, ob Mistelbach, Linz. Reichenberg oder Dresden, wurde mir versichert, daß unsere Siebenbürger sehr anspruchslos seien und ihr schweres Los in wahrer Glaubensstärke trügen.

Die Monate Februar und März 1945 rückten heran. Ebenso die Front. Die Gefahr, nach so weitem Fluchtweg nun doch von den Russen überrannt zu werden, lastete schwer auf uns allen. So entschlossen wir uns, aus Niederdonau noch einmal abzurücken1. Aus dem Raum Nikolsburg, wo die Burghaller und Heidendorfer untergebracht waren, setzte sich der neue Flüchtlingstreck in Bewegung. Allerdings unter viel schlechteren Verhältnissen als seinerzeit aus der Heimat. Die meisten Menschen hatten keine Pferde und mußten per Anhalter weiterkommen. Einige kamen mit Eisenbahnzügen bis nach Bayern. Im Raum Zwettl-Gmünd, der damaligen Grenze von Nieder- und Oderdonau machten wir Quartiere. Ähnlich wie seinerzeit um Ödenburg war nunmehr dieser Landstrich übervölkert. Es fiel nicht leicht, Quartiere zu bekommen. Erfreulicherweise rückten die bereits dort ansässigen Landsleute zusammen und öffneten ihre zum Teil sehr bescheidenen Notunterkünfte ihren Brüdern und Schwestern. Laut Befehl des Gauleiters von Linz durfte niemand in den Gau Oberdonau.

Als die Kämpfe bei St. Polten und Krems wochenlang anhielten, versuchten wir wiederholt, weiter vorzurücken. Es gelang nur kleinen Gruppen (Lechnitzer u. a.). Am 25. April erfuhr ich, daß etwa 260 Siebeubürger Kinder, die in der Gegend von Reichenberg im KLV-Lager untergebracht waren, nicht weg könnten. Lehrer K., den ich sofort hinschickte, gelang es,


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mit dem letzten Zug diese Kinder samt den Professoren und deren Familien in Marsch zu setzen1.

Der Vf. schließt seinen Bericht mit kurzen Bemerkungen über das Schicksal seiner Familie während des Zusammenbruchs und über seine Erlebnisse während der ersten Nachkriegsjahre. Er erwähnt dabei, daß nach seinen Informationen etwa 5000 Nord-Siebenbürger von den Russen überrannt und zumeist nach Siebenbürgen rückgeführt wurden.